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Kapitel 3: Toby und die Lokomotive

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1

Ohne zwischendurch zu erwachen, schlief Cassandra die ganze Nacht bis zum nächsten Morgen durch. Vogelgezwitscher und ein heller Strahl Sonnenlichtes weckten sie auf eine nicht unangenehme Weise. Dieses und die Tatsache, dass sie traumlos geschlafen hatte, bewirkten eine tiefe Zufriedenheit in ihr, die sie dazu brachte, sich voller Eifer in die Recherche zu stürzen. Doch zuerst musste sie pinkeln.

Das Aufstehen fiel Cassandra leicht, da die unnatürlich warme Nacht ihre Körpertemperatur bewahrt hatte, obwohl sie ohne Decke geschlafen hatte. Sie fühlte sich nur ein wenig gammelig, weil sie im Schlaf ihr braunes Sommerkleid zerknautscht und leicht angeschwitzt hatte. Sie würde es heute nicht mehr tragen können.

Sie erhob sich von der Couch und schaltete den Fernseher aus, der mit heruntergedrehtem Ton die ganze Nacht gelaufen war. Als das Bild dunkel wurde, sah Cassandra in der Spiegelung der Bildröhre, dass ihr Haar auf einer Seite ihres Kopfes plattgedrückt und auf der anderen zerzaust war, wie der Schweif eines Pferdes beim Furzen. Sie schnaufte humorlos und ging ins untere Bad.

Unter der Dusche half ihr die Monotonie des über ihren Kopf prasselnden Wassers, ihre Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Sie legte sich einen Tagesplan zurecht, der aus folgenden Stationen bestand: Sie würde sich hinüber nach Brickrow begeben - ob zu Fuß oder mit dem Bus, wusste sie noch nicht. In Brickrow würde sie dann das Stadtarchiv besuchen, danach das Archiv der lokalen Zeitung, das im selben Gebäude war, und sie würde ihren gesamten detektivischen Eifer darauf verwenden, alles über die Brickrow Grammar School und insbesondere das Schulgebäude zu erfahren. Die Gelegenheit dazu musste sie nutzen, solange der Fotofilm in der Entwicklung war, denn sie befürchtete, dass sie keinen Gedanken mehr an ihren Aufsatz verschwenden würde, wenn sie die Fotos erst einmal in Händen hielte. Vorausgesetzt natürlich, dass die Kamera auch wirklich das festgehalten hatte, was Cassandra mit eigenen Augen gesehen hatte.

Sie wusste nicht, was sie denken sollte, wenn die Fotos nicht mehr zeigten als natürliche Landschaftsbilder. Nachdem sie eine Nacht darüber geschlafen hatte, fiel es ihr schwerer denn je, den gestrigen Vorfall als reales Geschehnis zu akzeptieren.

War es denn real gewesen? Es fühlt sich so fadenscheinig an, wie die Erinnerung an einen Traum.

Sie beendete ihre Dusche, föhnte sich die Haare und ging dann nach oben, um sich anzuziehen. Der Wetterdienst hatte für heute nasskaltes Wetter und Regenschauer vorhergesagt. Davon merkte sie allerdings nichts. Das Thermometer am Fenster zeigte sechsundzwanzig Grad. Darum trug Cassandra ein dünnes schwarzes Kleid am Leib, als sie wieder herunterkam. Zuvor hatte sie sich sorgfältig davon überzeugt, dass ihre Unterwäsche nicht durch das Kleid schimmerte.

Bevor sie das Haus verließ, trank sie einen Schluck Orangensaft aus der Flasche. Auf dem Weg zur Tür fiel ihr dann ein, den Fotofilm und etwas zum Schreiben mitzunehmen. Ach ja, und Geld. Die Aufregung machte Cassandra ganz zerstreut.

Was mochte nur auf den Fotos zu sehen sein?

Als sie alle Dinge, die sie mitnehmen wollte, zusammengekramt hatte, stellte Sie fest, dass ihre Kleidung nicht genug Taschen hatte, um alles darin zu verstauen. Genaugenommen hatte ihr Sommerkleid keine einzige Tasche. Frustriert griff sich Cassandra ins Haar und rieb sich den Kopf. Was jetzt? Sollte sie eine der Handtaschen ihrer Mutter mitnehmen? Nein, Cassandra war kein Handtaschen-Typ. Sie hasste es, wenn diese Dinger einem an der Schulter baumelten und die Bewegungsfreiheit einschränkten. Außerdem machten sie einen kokett. Cassandra hasste es, kokett zu sein. Sie seufzte und stieg noch einmal die Treppe hinauf.

In ihrem Seelenbalsam-Zimmer, dessen meditative Atmosphäre nur durch das gezeichnete Auge an der Korkwand gestört wurde, zog Cassandra die Schublade mit der Unterwäsche heraus. Dort zwischen ihren Slips, lag etwas, das ihr nützlich sein könnte. Cassandra fand es und zog es heraus.

Was sie in der Hand hielt, war eine kleine schwarze Kunststofftasche, die stark an ein Holster für eine 22er Pistole erinnerte. Sie ließ sich mit Hilfe eines Gurtes mit Klettverschluss am Oberschenkel befestigen. Mit dieser Tasche am Bein sah Cassandra aus wie eine Geheimagentin, die ein Pistolenholster am Strumpfband trug.

Der Fotofilm und ein paar Geldscheine passten mühelos in die Tasche, aber der Notizblock passte nicht. Er war zu breit. Genervt warf Cassandra ihn auf das Bett und verstaute stattdessen nur den Kugelschreiber.

Würde das Messer vielleicht hineinpassen?

Wieder an der Schublade durchwühlte Cassandra ihre Slips, bis ihre Finger auf ein Gewicht trafen. Sie holte ihren Glücksbringer hervor: Ein meisterhaft verarbeitetes Armeemesser. Das Messer war ein Sammlerstück, das keinerlei Abnutzungserscheinungen aufwies. Den Griff aus dunklem Holz, in dem die Klinge eingeklappt war, zierte eine Gravierung. In der rötlich schwarzen Maserung des Holzes stand in goldenen Lettern: Lara.

Sie küsste den Griff und raffte ihr Kleid zusammen, um zu sehen, ob das Messer in die Tasche passte. Sie hatte es noch nie in dieser Tasche mit sich geführt, aber sie stellte fest, dass es passte, wenn man es diagonal hineinlegte. Der Reißverschluss ging gerade noch zu.

Als sie das Kleid losließ und ein paar Schritte tat, fiel ihr wieder ein, wieso sich diese Tasche als Fehlkauf entpuppt hatte. Sie kratzte bei jedem Schritt am Oberschenkel, und das einseitige Gewicht brachte Cassandra ein leichtes Hinken ein, wie bei einem schlechten Cowboy- Imitator.

Scheiß drauf, dann muss die Welt mit einem Revolverhelden mehr auskommen.

Sie ging die Treppe hinunter und zur Haustür. Jetzt hatte sie soweit alles. Der Notizblock fehlte, aber sie konnte sich im Archiv Papier borgen.

Sie schloss die Tür hinter sich ab und machte sich auf den Weg zur Busstation. Mit diesem kleinen Lustmolch am Schenkel, würde sie bestimmt nicht nach Brickrow laufen.

2

Cassandra rannte wie bekloppt zur Busstation, aber sie kam zu spät. Der verdammte Bus fuhr ihr vor der Nase davon. Nur ein gewaltiger Staubpilz blieb zurück. Fluchend und stolpernd kam Cassandra zum Stehen, und rang nach Atem. "Verdammt nochmal, konntest du nicht eine Sekunde warten?", brüllte sie.

Sie sah auf den Busfahrplan, obwohl sie wusste, dass der nächste Bus erst in einer halben Stunde kommen würde.

Was jetzt?

Zu Fuß würde sie mindestens anderthalb Stunden brauchen, bis zur Schule. Von dort bräuchte sie nochmals eine Stunde bis nach Brickrow, und zwar nur bis zur Stadtgrenze.

Aber eine halbe Stunde warten wollte sie auch nicht. Daher beschloss sie, die Strecke zu teilen - bis zur Schule zu laufen und von dort mit dem Bus nach Brickrow zu fahren. Schließlich war sie nicht fußfaul. Wenn nur diese verdammte Hitze nicht wäre.

Sie marschierte los.

Wenn man zu Fuß zur Schule wollte, gab es zwei Wege. Der erste war die Landstraße. Cassandra konnte ihr folgen und bis direkt vor das Schultor laufen. Das war der schnellere Weg. Und mit Sicherheit der tödlichere.

Wenn du gestern keinen Sonnenstich bekommen hast, dann wirst du ihn mit Sicherheit heute bekommen, Comtessa. Wenn du diese verdammte Landstraße hinunterläufst.

Auf der gesamten Länge der Landstraße, bis hinab nach Brickrow, stand kein einziger schattiger Baum. Genaugenommen stand dort gar nichts, das einen Schatten warf, der breiter war als ein Verkehrsschild.

Also der zweite Weg.

Cassandra verließ die Straße und lief nach links hundert Meter weiter ins offene Feld, wo parallel zur Straße ein mittelgroßer Bach floss. Der Bach hatte keinen Namen, und die Schüler nannten ihn einfach Pissrinne. Er floss verdeckt von grünem Gras, quer durch die Grasebene, bis zur Rückseite der Schule, wo er in einen offenen Kanal gezwängt wurde und zu einem Teil des simplen Abwassersystems wurde, das noch aus dem vorvorigen Jahrhundert stammte.

Früher hatte Cassandra in den Schulpausen neben anderen Kindern an der Pissrinne gespielt und oft seltsame Entdeckungen gemacht. Zumeist tote Frösche, oder gruselige Insekten (gruselhaft, hatte Cassandra das genannt). Einmal hatte sie einen besonders ekligen weißen Wurm gefunden, der so lang war wie ihr kindlicher Unterarm, und hatte ihn in den gewölbten Händen auf das Lehrerklo getragen. Das wuselnde Gefühl in ihren Händen hatte sie vor Ekel zittern lassen, aber sie hatte durchgehalten, bis sie dem Wurm ein neues Zuhause in einem wassergefüllten Waschbecken geben konnte. Cassandra wusste bis heute nicht, was aus dem Wurm geworden war, nachdem er entdeckt worden war, aber an den Schrei der Lehrerin, die ihn entdeckt hatte, konnte sich noch die halbe Schule erinnern.

Um auf den Bach zurückzukommen: der war so gut wie unsichtbar, bis man direkt vor ihm stand, aber man konnte sehr gut erkennen, wo er entlangfloß, weil eine dünne Baumreihe ihn begleitete. Es waren nur vereinzelte Bäume, die links und rechts am "Ufer" wuchsen, aber genau das war es, was Cassandra suchte: den Schatten von Bäumen. Sie würde dem Bach und den Bäumen folgen, bis zu der Stelle, an dem der Bach ein Kanal wurde und die Bäume sich zu dem kleinen Waldstück verdichteten, das in Cassandras Zeichnung den “Lidschatten” des großen Auges bildete. Auf diese Weise würde sie hinter der Schule herauskommen und über den Schulhof zur Busstation laufen. Kein Sonnenstich würde sie auf der Landstraße dahinraffen.

In einem kurzen Moment erkannte Cassandra, dass dieser Weg sie ins Zentrum des "Auges" führen würde, aber drei Schritte weiter verdrängte sie die aufkeimende Sorge. Was sollte das schon bedeuten? Dann sah es eben aus wie ein Auge, na und? Sollte sie deswegen nie wieder zur Schule gehen? Wohl kaum.

Sie zog ihre Sandalen aus und watete in den Bach. Eiskaltes Wasser biss ihr in die Füße. Sie unterdrückte einen Schrei und stieg vorsichtig über die glitschigen Steine. Da er seit Jahrzehnten nicht mehr als Abwasserkanal genutzt wurde, war der Bach sauber genug, um darin zu laufen.

Nach einigen Minuten des vorsichtigen Watens, waren Cassandras Füße vor Kälte so taub, dass sie aus dem Bach steigen musste, wollte sie es nicht riskieren, auszurutschen und sich den Knöchel zu brechen. Lieber lief sie den Rest des Weges barfuß durch das Gras.

Mit sich und der Welt zufrieden, lief Cassandra, ohne es zu wissen, einer Begegnung entgegen.

3

Toby Carlton stand in der Mitte des kleinen Waldstückes und schritt zwischen Farnen und Grüppchen von Pilzen umher wie ein Storch auf der Suche nach Fröschen. Seinen weißen, schmalkrempigen Hut mit dem schwarzen Hutband hatte er sich in den Nacken geschoben, damit er ihm bei seiner Suche nicht von der Stirn glitt. Ab und zu trat Toby trockene Zweige beiseite.

Auch wenn es hier im Wald kühler war als draußen auf den Hügeln, so erschwerte ihm die Hitze doch das Vorankommen, und er war schon drauf und dran, seine Suche aufzugeben und wieder zu gehen, als er es im Wald plötzlich knacken hörte. Überrascht blickte er auf und sah eine junge Frau zwischen den Bäumen hervortreten.

Toby brauchte nicht lange, um zu erkennen, um wen es sich handelte, da er im Grunde nur ein einziges Mädchen mit einer solch üppigen Haarpracht kannte. Große, schwarzbraune Locken bedeckten Cassandra Moons Schultern und umrankten ihren kräftigen Lippen, die wirkten, als verbürgen sie eine monströse Zahnspange.

Cassandra zog an einer Haarsträhne, die ihr in den Mund geraten war, und Toby sah deutlich weiße, kräftige Zähne. Ohne Zahnspange.

Und er sah, dass Cassandra ihn noch nicht bemerkt hatte.

Toby fragte sich, was sie hier wohl machte. Er kannte das Mädchen nur flüchtig, da sie beide verschiedenen Tutorien angehörten und bisher nur wenige Kurse gemeinsam besucht hatten. Cassandra gehörte dem Blake- Tutorium an, dem ehemaligen House Blake, während Toby dem Keats- Tutorium angehörte, und so kurz vor dem Schulabschluss sahen sie sich höchstens einmal auf dem Schulhof oder bei sportlichen Wettbewerben mit den beiden anderen Tutorien Byron und Browning. In den Sommerferien geschah es noch weit seltener, dass sie sich zufällig begegneten, daher war dies hier wohl eine Art einmaliger Gelegenheit...

Toby überlegte, ob er ihr eine Warnung zurufen sollte, bevor sie ihn erreichte und sich erschreckte, denn er wollte nicht, dass sie vor Schreck wütend auf ihn wurde. Er hatte auf dem Schulhof schon einige Gerüchte über die Auswirkungen von Cassandra Moons Zorn gehört, und wenn nur die Hälfte davon stimmte, dann war dieses Mädchen äußerst nachtragend. Und doch rief er ihr nicht zu. Solange sie ihn nicht bemerkte, konnte er sie ungestört beobachten.

Ob sie wohl abstehende Ohren hatte?

Toby wunderte sich über diesen unerwarteten Gedanken. Er meinte es nicht gehässig, er fragte sich nur, ob Cassandra diese langen, geschwungenen Ohrmuscheln hatte, die ihn an einen Fuchs denken ließen. Unter diesem wuchernden Haar, war das nicht zu erkennen, aber Toby konnte den Gedanken an ihre Ohrmuscheln seltsamerweise nicht verdrängen.

Cassandra kam mit gesenktem Kopf näher. Sie achtete auf den Waldboden, worauf sie trat, und schien ihre Umgebung kaum wahrzunehmen. Wenn sie so weiter marschierte, würde sie direkt in Toby hineinlaufen. Bei dieser Vorstellung fühlte Toby einen Testosteron-Stich vom Herzen bis hinunter zur Leiste. Er fragte sich, ob er einfach stillhalten und es geschehen lassen sollte. Wenn Cassandra in ihn hineinlief, dann könnte er sie für ein oder zwei Sekunden in den Armen halten. Er könnte ihren Geruch einatmen und herausfinden, wonach sie duftete.

Nur wenige Meter trennten den Jungen und das Mädchen noch.

Es war unmöglich zu sagen, ob Toby aus Unentschlossenheit wartete oder weil er es geschehen lassen wollte, aber er wartete. Bereitete sich auf den Einschlag vor.

Cassandra kam näher, trat an ihn heran und sagte, ohne aufzuschauen: "Hallo, Toby."

Sie trat auf ihn zu, blieb stehen und sah erst dann auf und lächelte. Diese Aktion beeindruckte Toby mehr, als er jemals gedacht hätte. Wie cool war das denn? Redet mit mir, ohne aufzuschauen.

Toby öffnete den Mund, um "Hi" zu sagen, merkte, dass das zu profan klingen würde, und schloss den Mund wieder.

"Du heißt doch Toby, oder nicht?", fragte Cassandra. Sie sah ihm mit Neugier in die Augen, und Toby verfiel dem tiefen Braun von Coca Cola, in dem ihre Pupillen schwammen. Ihr Blick zuckte hin und her, während sie ihm abwechselnd ins linke und rechte Auge schaute.

"Toby Carlton", stellte sich Toby vor, und in der Hoffnung, sie ein wenig zu beeindrucken, setzte er hinzu: "Du bist Cassandra Moon." Die Nervosität ließ ihn den Namen in einem Rutsch aussprechen: Cassandramoon.

Ihr Lächeln war die Belohnung, die er sich erhofft hatte. Um den dünnen Faden der Sympathie zu stärken, sagte er: “Ich habe dein Essay gelesen."

Diese Eröffnung schien Cassandra zu überraschen. Sie dachte nach. Dann fragte sie: "Welchen Essay meinst du? Ich habe schon so viele geschrieben, dass ich nicht mehr weiß, welche ich verteilt habe."

Toby wurde verlegen. Er fand es peinlich, Cassandra direkt darauf anzusprechen, aber nun hatte er schon angefangen, darum durfte er das Gespräch nicht abreißen lassen. "Du hast es in der Schule verteilt. Es hieß: Im neunten Monat abgetrieben."

Cassandras Augen glänzten, als sie sich erinnerte. "Ach das", sagte sie und zuckte die Schultern, als wäre es nichts wert. "Dafür habe ich eine Menge Ärger bekommen. Die Whitfield hat mich vierzig Minuten lang angeplärrt."

Toby versuchte ein vorsichtiges Lächeln. "Das kann ich mir vorstellen. Du hast wirklich gemeine Sachen geschrieben. War das alles ernst gemeint? Hasst du die Menschen wirklich so sehr?”

Cassandra klang nicht ganz überzeugt, als sie antwortete: "Nein, ich hasse die Menschen nicht.” Sie machte eine Pause und forschte in ihrem Inneren, bevor sie langsam weitersprach. “Ich bin oft wütend auf die Menschen, weil sie dumm sind. Und gefährlich. Sie verletzen einen aus Unachtsamkeit und aus Bosheit, und ich weiß nicht, was schlimmer ist. Verstehst du das?”

Toby nickte, obwohl er nicht verstand, und Cassandra sagte: “Manchmal habe ich das Gefühl, ich gehöre gar nicht derselben Spezies an wie der Rest der Menschheit.”

“Wow”, sagte Toby.

“Wechseln wir das Thema, Tobycarlton. Sag mir, was tust du eigentlich hier?" Sie schaute rundherum, entdeckte aber, außer Bäumen und Humus, nichts von Interesse. "Sammelst du Pilze?"

Toby rückte seinen Hut zurecht und schaute verlegen zu Boden. "Nein, ich suche nur was."

Cassandra schaute in den Wald. Ohne Toby anzusehen, sagte sie: "Du musst weiter nördlich suchen."

"Wie meinst du das?", fragte Toby. Dieses Mädchen schaffte es doch tatsächlich, ihn alle paar Sekunden zu verblüffen.

"Du suchst die Bahngleise, also musst du weiter nördlich suchen." Sie sah vom Wald zurück zu Toby. Mit ausgestrecktem Arm deutete sie nach Norden. "Die Gleise verlaufen da hinten. Ich weiß nicht genau wo, aber hier bist du falsch."

Mit steigender Verwirrung fragte Toby: "Woher weißt du, dass ich die Gleise suche?" Und um seine Verwirrung noch zu steigern, sagte Cassandra: "Das hat mir dein Hut verraten, Jimmy Olsen." Dann zwinkerte sie ihm zu und marschierte los. Sie lief in die Richtung, in die sie gezeigt hatte. "Komm mit”, rief sie, “jetzt will ich die Gleise auch sehen."

Vollkommen perplex folgte Toby ihr tiefer in den Wald. Sie liefen nur eine kurze Zeit, bevor Cassandra sagte: "Hier irgendwo." Sie raffte ihr Kleid zusammen, damit es im Unterholz nicht hängenblieb. Weiße Schenkel blitzten auf. Wie zuvor Toby, stelzte sie umher, auf der Suche nach rostigem Metall.

Toby betrachtete diese seltsame Cassandra und musste zugeben, dass sie doch irgendwie komisch war. Nicht so, wie die anderen Schüler erzählt haben, nicht so negativ, aber dennoch anders. Was genau ihm diesen Eindruck vermittelte, konnte Toby allerdings nicht sagen. War es ihre Art, Gedanken zu lesen? War es ihr überlegenes Gehabe? Die Art wie sie ihn ansah, als kannte sie ein schmutziges Geheimnis; als wüsste sie über alle Geheimnisse bescheid, und die Welt könnte sie nicht mehr überraschen. Vielleicht war es das. Cassandra wirkte abgeklärt.

Komisch, dachte Toby. Er hatte dieses Wort "abgeklärt" noch niemals zuvor benutzt. Erst jetzt, wo er Cassandra richtig kennenlernte, kam es ihm zum ersten Mal in den Sinn.

Diese Cassandra wirkt älter als wir anderen. Darum mag sie niemand.

"Willst du nur rumstehen oder mitsuchen?", rief sie.

Mit seinen siebzehn Jahren war Toby kein großer Psychoanalytiker, aber er wusste, dass die meisten Menschen einen ansahen, wenn sie mit einem sprachen. Cassandra tat das nicht. Oder genauer gesagt, sie schaute oft woanders hin. Sie sprach ihn an, sah aber in den Wald. Oder sie deutete in den Wald, sah aber ihn an. Was bedeutete so was? Zum ersten Mal, dass Toby sich erinnern konnte, wurde er wirklich neugierig, wie es im Inneren eines anderen Menschen wohl aussah, und mit einem angenehmen Schaudern wurde Toby bewusst, dass Cassandra ihn unheimlich faszinierte. Schnell machte er sich auf die Suche nach den fast vergessenen Gleisen, aber nur, um wieder in ihre Nähe zu gelangen.

"Wieso hilfst du mir?", fragte er sie.

"Das sagte ich dir doch. Ich möchte die Gleise ebenfalls sehen."

"Aber wieso?"

Sie schaute ihn kurz an, ließ sich mit der Antwort aber Zeit. Wie zwei Polizisten auf der Suche nach einer Leiche, schritten sie den Wald ab.

"Das ist meine Art, auf Zeitreise zu gehen. Ich sehe mir alte Dinge an und... fühle etwas. Ich weiß nicht, wie man das nennen kann. Tust du das nicht genauso?"

Toby glaubte zu wissen, was sie meinte... Man sieht sich einen alten Gegenstand an, vielleicht eine alte Uhr, und stellt sich dabei vor, wie sie wohl zu der Zeit ausgesehen hatte, als sie gefertigt wurde. Wer sie wohl alles in Händen gehalten hatte. Und man stellte sich vor, wie die Zeit selbst damals war; wie die Leute lebten, wie die Luft schmeckte und die Hühner gackerten. Diese Erklärung schien Toby plausibel, nur leider stimmte sie nicht. Das war ganz und gar nicht das, was Cassandra meinte.

Cassandra stellte sich nichts vor. Sie hatte zwar ein gewisses Interesse an Geschichte, aber das existierte neben diesem Gefühl, das sie nicht beschreiben konnte. Sie fühlte nämlich wirklich etwas, wenn sie in der Nähe von alten Dingen war. Selbst wenn sie sich nicht im Mindesten für Geschichte interessiert hätte, würde sie doch trotzdem diese seltsamen Empfindungen haben, denn sie waren Cassandras angeborene Eigenschaft. Doch war es ihr weder möglich, diese Empfindungen zu beschreiben, noch wäre Toby in der Lage, sie zu verstehen. Abgesehen davon, wusste sie nicht, dass andere Leute dieses Empfinden nicht besaßen. Für sie war das etwas vollkommen Alltägliches. Sie berührte ein altes Gebäude oder einen Silberlöffel, und ihr Verstand sah für einen winzigen Augenblick in... tja, wohin? In eine andere Welt? In eine andere Zeit, die von Menschen verlassen war? Auf jeden Fall woanders hin.

Um Cassandras Frage zu beantworten, sagte Toby, "Nein, ich wollte mir die Gleise ansehen, weil mich alles interessiert, was mit Eisenbahn zu tun hat."

"Du stehst auf Lokomotiven?", fragte Cassandra.

"Ja, Lokomotiven mag ich besonders. Aber auch moderne Züge."

"Lokomotiven magst du aber mehr?"

Toby liebte Lokomotiven. Mehr als moderne Züge. Aber wieso interessierte sie das?

"Ja", sagte er einfach.

Cassandra schwieg, und nach einiger Zeit fragte Toby, "Aber du bist doch nicht wegen der Gleise hergekommen, oder?"

"Nein, Toby”, sagte sie und wurde mit einem Mal sehr in sich gekehrt. Sie wirkte wie ein Mädchen, dass gleich ein tiefes Geheimnis offenbaren würde. “Ich bin gekommen, um dich zu sehen..."

Tobys Augen wurden groß. Die vollkommene Überraschung ließ ihn stehenbleiben und Cassandra nachblicken.

Aber sie kicherte bereits. "Nein”, sagte sie, “ich war auf dem Weg in die Stadt. Wir sind uns nur zufällig begegnet. Eigentlich wollte ich den Bus nehmen."

Klar, was denn sonst?, dachte Toby ärgerlich. Sie nimmt mich auf den Arm. Mit rotem Kopf lief er ihr hinterher und stammelte: "Äh, ja, das hab´ ich gewusst."

"Ich will ins Stadtarchiv und zur Zeitung”, sagte sie. “Ich brauche Infos für meinen Aufsatz. Vorsicht." Sie sagte das letzte Wort so beiläufig, dass Toby überhaupt nicht reagierte. Er lief noch zwei Schritte weiter und stieß mit dem Fuß gegen etwas Hartes.

"Au! Scheiße!", rief er. Der Schmerz in seinen Zehen vibrierte bis hinauf in sein Schienbein.

Cassandra trat neben ihn und bewahrte ihn davor zu fallen. Sie deutete auf den Boden. "Da sind die Gleise."

"Ja, ich weiß." Toby presste die Fußspitze ins Erdreich. Er wusste nicht, was intensiver war, der Schmerz in den Zehen oder die Berührung ihrer Hände. Zumindest dämpfte der weiche Boden den Schmerz ein wenig.

"Schau wie überwachsen sie sind. Wie lange hier wohl keine Bahn mehr gefahren ist?" Sie bückte sich und strich einige dünne Pflanzenstengel beiseite. Darunter kamen verrostete Metallschienen zum Vorschein.

"Seit den Fünfzigern", stöhnte Toby. “Die Strecke wurde 1956 von der British Rail geschlossen. Das war etwa zur selben Zeit wie in Princetown. Aua... Seitdem fahren nur noch LKW´s.” Er bückte sich neben Cassandra und legte eine Hand auf das Gleis. Dabei versuchte er, den schmerzenden Fuß zu entlasten. "Worüber handelt dein Aufsatz?”, fragte er. “Wenn du über die Bahn schreibst, darüber kann ich dir alles erzählen."

"Nein, nicht über die Bahn. Ich will einen Aufsatz über das Schulgebäude schreiben." Sie deutete über die Schulter hinweg Richtung Schule.

"Oh, verstehe." Toby schaffte es nicht ganz, seine Enttäuschung zu verbergen. Er hätte gern die Gelegenheit genutzt, sich weiter mit Cassandra zu unterhalten, aber wenn sie jetzt weiter nach Brickrow wollte, würde er nicht genug Mut aufbringen, sie zu fragen, ob er sie begleiten durfte.

Cassandra erhob sich. Ihre Augen folgten den Gleisen durch den grünen Blättertunnel des Waldes. "Hast du Lust, den Gleisen zu folgen? Ich würde gerne sehen, zu welchen Geheimnissen sie führen."

Geheimnisse?, dachte Toby. Da hinten hört der Wald auf, da kommen nur noch Hügel.

"Klar", sagte er. "Aber ich muss dich enttäuschen. Da hinten kommt nichts mehr. Die Gleise enden im Nirgendwo."

Cassandra lächelte. "Genau da will ich hin."

Also folgten sie den Gleisen. Cassandra schritt elegant über die verrosteten Bahnschwellen, während Toby ihr unbehaglich folgte. Unbehaglich deshalb, weil er sich nur zu bewusst war, wie aufmerksamkeitsheischend er wirken musste. Wie der gekrümmte Renfield, der Dracula hinterherhimmelt. Nur, dass Dracula in diesem Fall ein Mädchen war.

"Fühlst du es?", fragte sie. "Fühlst du diese Sehnsucht, wenn du siehst wie die Gleise zum Horizont reichen?"

Was meinte sie denn damit? Sehnsucht? Nein. Das einzige, was Toby fühlte waren Hitze und ein brennendes Interesse an seinem weiblichen Dracula. Toby war ein bodenständiger Junge. Die einzige Sehnsucht, die er bewusst wahrnahm, war die Sehnsucht nach Sommerferien, die Sehnsucht nach einer festen Freundin und nach seinem Hobby: den Lokomotiven. Aber vielleicht meinte sie ja genau das? Toby stellte sich vor, wie vor etwa dreißig Jahren die ratternden schwarzen Lokomotiven der British Railways auf diesen Gleisen fuhren. Wie sie Waggons voller Papier und Textilien von Brickrow nach Exeter zogen und dabei heulten und Dampfsäulen ausstießen wie Wale auf Rädern. Und ja, eine gewisse Sehnsucht stellte sich ein. Der Wunsch, diese Züge mit eigenen Augen zu sehen, sie zu hören und ihre öligen Gerüche einzuatmen und, wenn möglich, eine der Lokomotiven selbst zu fahren. Denn Toby liebte Lokomotiven, auch wenn viele seiner Freunde das für ein lächerlich altmodisches Hobby hielten. Sie interessierten sich mehr für ihre Smartphones und Spielekonsolen, und brachten Tobys Wunsch, eine Lokomotive zu fahren, kaum Verständnis entgegen. Dieses Mädchen Cassandra war anders. Sie schien ihn in seinem Hobby sogar bestärken zu wollen. Sie sprach mit ihm darüber... und plötzlich wurde Toby klar, dass sie ihn nicht eigennützig hierher geführt hatte. Ganz im Gegenteil: Sie wollte ihm die Lokomotive zeigen. In seiner Vorstellungskraft.

Cassandra lächelte ihn an. "Kannst du sie sehen?"

"Für einen Moment hatte ich wirklich das Gefühl, ich könnte sie sehen." Und hören, dachte Toby. Das hohle Pfeifen und das Tschukkern der dampfbetriebenen Räder.

"Das ist ein sehr erhabenes Gefühl, findest du nicht? Der Blick durch die Zeit. Fast als könnten wir dorthin zurückreisen, wenn wir nur den Mut aufbringen, durch das Tor zu treten." Ihr Blick wandte sich nach innen.

Sie schaut zurück, dachte Toby. Jetzt in diesem Moment.

Freude über ihre Bekanntschaft wallte in Toby auf. Wie leicht doch dieses Mädchen in sein Leben trat und ihn nebenbei Neues lehrte.

"Berühr die Schienen", sagte sie. "Schau, was du erkennen kannst."

"Meinst du das jetzt... telepathisch?"

Cassandra lächelte. "Nein, du Superheld. Berühr die Schienen und fühle, was auch immer kommen mag. So mache ich es jedenfalls. Manchmal kommt nichts, und manchmal fühle ich. Vielleicht klappt das auch bei dir."

Unsicher berührte Toby die linke Schiene. Cassandra tat es ihm mit der rechten gleich. Sie schloss die Augen.

Das rostige Metall unter Tobys Hand war herrlich kalt. Nach kurzem Zögern schloss auch er die Augen, und ihn traf der Blitz.

Ein Wurm, dicker als jeder Zug schlingt sich über breite Schienen. Zartes, aber muskulöses Fleisch verkrampft sich und entkrampft, verkrampft und entkrampft... Blinde Sturheit treibt ihn durch den Halbkreis leeren Tunnels, der blockiert wird durch rohes, weißes Fleisch, das krampft, entkrampft, krampft... Ein stummes Brüllen, als der Wurm eine verlassene, unterirdische Bahnstation erreicht und den blinden Kopf hebt. Er spürt das Fehlen von Enge. Ein Zustand, der ihn reizt und ihn Sehnsucht spüren lässt. Sehnsucht nach obszöner, irdischer Enge. Sein Kopfteil klatscht auf die Schienen. Die Erde bebt...

...und Toby fällt auf den Hintern. Sein knapper, gellender Schrei schießt in den Wald hinaus.

"Mist verdammt!" Toby kroch von den Gleisen weg. Cassandra schaute ihn verwundert an.

"Was ist los? Hat dich was gestochen?"

Toby deutete mit wedelnden Fingern auf das Gleis. "Hast du das nicht gesehen?"

"Nein, was?" Sie erhob sich und trat einen Schritt zurück. Sie dachte, Toby hätte vielleicht eine Schlange oder eine große Spinne gesehen.

"Den Wurm!"

Cassandra schaute sich um. Da war kein Wurm. "Komm schon, ein Wurm tut dir doch nichts", sagte sie. "Willst du mir sagen, dass du Angst vor Würmern hast?"

"Nein, kein Wurm, verdammt. Ein...ein..." Ja, was nur? Sollte er sagen, dass er eine Vision von einem Riesenwurm gehabt hatte? Er erhob sich vom Waldboden und versuchte es noch einmal. "Ich hab´ was gesehen. Du wolltest doch, dass ich mir den Zug vorstelle, aber stattdessen sah ich...einen Wurm."

Cassandra sah ihn an. Toby konnte ihren Blick nicht deuten. Bestimmt würde sie ihn auslachen. "Ja, ich weiß, ich bin blöd”, sagte er. “Vergiss es einfach." Mürrisch wischte er sich Humus von der weißen Stoffhose. Die musste wohl in die Reinigung.

"War der Wurm gemalt?", fragte sie.

"Wie meinst du das gemalt?"

"Ich weiß auch nicht", gab sie zu. "Sah der Wurm aus, als käme er aus einem Gemälde?" Sie wollte auf etwas hinaus, das Toby nicht verstand.

"Nein", sagte er. "Er sah ziemlich echt aus, aber vergiss es einfach. Ich hab´s mir nur eingebildet. Das muss die Hitze sein."

Cassandra schüttelte den Kopf. "Gestern habe ich auch was gesehen. Oben auf dem Hügel. Ich dachte zuerst, ich hätte einen Sonnenstich, aber..." Und so erzählte sie ihm von ihrem Erlebnis auf der Hügelkuppe. Von den Dingen, die sie gesehen hatte und auch von denen, die sie nur gefühlt hatte, dem unsichtbaren Blick, dem Taxieren (des psychotischen Tieres). Sie erzählte ihm auch von dem Bild, das sie gezeichnet hatte und von dem Fotofilm, den sie leergeschossen hatte und jetzt bei sich trug.

"Du hast Fotos? Wirklich?"

"Ja, aber irgendwie bezweifle ich, dass darauf etwas zu sehen sein wird."

Obwohl Toby und Cassandra jetzt ein gemeinsames Rätsel verband, war Toby nicht sicher, ob sie ihn als Freund und Mitverschworenen akzeptieren würde, darum fragte er zögerlich: "Darf ich die Bilder auch sehen?"

"Natürlich", sagte sie. "Wenn etwas darauf zu erkennen ist."

Darauf wusste Toby nichts hinzuzufügen.

Nach einigen Sekunden sagte sie: "Lass uns gehen. Diese Ecke des Waldes gefällt mir nicht mehr."

Toby sah, was sie meinte. Der Wald war sichtbar dunkler geworden. Vielleicht braute sich über den Baumwipfeln ein Gewitter zusammen, aber weder Cassandra noch Toby glaubten das. Sie wussten beide, dass das Licht absichtlich gedimmt wurde. Fast so, als wollte der Wald ihnen versichern, dass es hier garantiert nicht mit rechten Dingen zuging, und dass der Wurm keineswegs nur Einbildung gewesen war. Lauft Kinder, solange die Rätsel nur Rätsel sind und nicht zu handfesten Antworten werden.

Und das taten sie. Cassandra und Toby, nun zwei Eingeweihte, verließen den Wald und machten sich auf den Weg nach Brickrow.

Der Traum des Stiers

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