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Kapitel 4: Im Archiv

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1

Sie beschlossen zu Fuß zu gehen, abseits der Landstraße, weil ihnen das Gelegenheit gab, sich über ihr Problem, sofern sie denn eins hatten, zu unterhalten. Hier draußen waren sie alleine und konnten sich über Riesenwürmer und täuschend echte Halluzinationen unterhalten, ohne sich vor Fahrgästen im Bus schämen zu müssen.

Toby erzählte zuerst im Detail von seiner kurzen, aber heftigen Vision, und fragte danach Cassandra nach ihrem Trip in die Welt der Kunst. Er tat das weniger aus Neugier am Phänomen, als vielmehr aus Interesse an Cassandra, die ihn mit jeder Sekunde und mit jedem Schritt, den sie taten, mehr faszinierte.

"Und du bist sicher, dass du dir das nicht eingebildet hast?", fragte er. Er wusste wie lahm das klang, aber sein (in diesen Dingen) ungeschulter Verstand brachte keine plausiblere Erklärung zustande. Dafür saß er einfach zu selten vor dem Fernseher.

Cassandra hätte es fast schon als Beleidigung auffassen können, dass er an ihrem Urteilsvermögen zweifelte, doch sie überraschte ihn, indem sie ernsthaft überlegte, ob sie sich die Szene auf dem Brickrow Hill nur eingebildet hatte.

Nein, ausgeschlossen.

Sie sah sich ihre Finger an. "Einbildung brennt nicht unter den Nägeln, Toby. In meinem Waschbecken liegen noch grüne Farbsplitter."

"Ich meinte ja nur. Ich war schon oft auf dem Prick Hill, aber so etwas in der Art habe ich noch nie gesehen."

"Ich auch nicht", sagte sie. "Ich wüsste nur zu gerne, was gestern anders war als an allen Tagen zuvor."

"Ja, gestern das Gemälde, heute der Wurm. Wenn es Halluzinationen sind, dann leiden wir beide darunter."

Toby kratzte sich unter dem Hut. Selbst hier draußen, wo sie alleine waren, war es ihm peinlich, sich über solch mystischen Kram zu unterhalten als wäre es handfeste Realität. Er fühlte sich zu sehr an Frank Head und seine Rollenspiel-Freaks erinnert, die morgens in der Schule von ihren Kämpfen gegen Orks und Trolle berichteten, als hätten sie diese Dinge wirklich erlebt. Wie sie angegriffen worden waren; wie sie sich erfolgreich verteidigt hatten. Toby stieg die Schamesröte ins Gesicht, wenn er nur daran dachte, mit welcher Inbrunst diese Kerle vollkommen eingebildete Ereignisse schilderten und mit dem Tonfall echter Überzeugung versahen. Im Grunde war das hier doch nichts anderes, oder? Einbildung, Halluzination.

Aber waren Halluzinationen nicht in einer bestimmten Form real? Immerhin waren sie doch realer als diese Rollenspiele. Halluzinationen konnte man sehen. Tobys Vater hatte einst gesagt, dass nur solche Dinge real waren, die man sehen konnte. Er hatte auch gesagt, dass er nur solche Dinge glaubte, die er mit eigenen Augen sah. Damals war das für Toby ein ganz schöner Schock gewesen, der kurz zuvor seinen ersten Horrorfilm im Fernsehen gesehen und sich dermaßen gefürchtet hatte, dass seine Mutter abends an sein Bett gekommen war und ihm versichert hatte, dass die Monster im Film eben nicht real seien. Wieso behauptete sein Vater dann das Gegenteil? Inzwischen war Toby schon fast erwachsen und hatte die kindlich philosophischen Gedanken von damals vergessen. Bis heute. Bis er Cassandra traf. Heute (in diesem Moment) kam er zu dem gleichen Schluss wie damals: Ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen, also muss etwas dran sein.

"Was denkst du?", fragte Cassandra. Sie stand neben ihm und schaute ihn an. Toby hatte nicht gemerkt, dass er stehengeblieben war.

"Als du oben auf dem Hügel standest und diese Sache passierte..."

"Ja?"

"Du hast nur die Landschaft gesehen. Sie war gemalt, aber ansonsten war nichts anders, oder? Da liefen keine Monster rum oder riesige weiße Würmer?"

"Nein", sagte sie.

"Du hast in deiner Vision Brickrow gesehen, während ich einen vollkommen anderen Ort gesehen habe. Eine unterirdische Bahnstation."

Cassandra ließ den Blick über die heiße Landschaft schweifen. “Und so was gibt es hier nicht.”

“Welchen Ort habe ich dann gesehen?”

Darauf wusste sie keine Antwort.

Sie diskutierten den ganzen Weg bis nach Brickrow, ohne zu befriedigenden Antworten zu gelangen. Ganz am Rande erkannten sie, dass sie mit ihrem jugendlichen Verstand versuchten, eine Gegebenheit zu verstehen, die sich ihrem Begriffsvermögen bei Weitem entzog. Und noch weiter am Rande ihres Verstandes, dort wo die intuitive Angst eines Menschen lauerte, erahnten sie, dass diese Gegebenheit weit bedrohlicher sein könnte, als es im Moment den Anschein hatte. Aber wie es Jugendliche nun mal zu tun pflegten, ignorierten sie das Gefühl der nahenden Katastrophe und konzentrierten sich ganz auf das knisternde Abenteuer, das vor ihnen lag. Dabei war Toby von Cassandras tiefgründiger Neugier nur zu leicht anzustecken, und man könnte sagen, dass er zu dem Zeitpunkt, als sie die ersten Häuser von Brickrow erreichten, Cassandra und ihrer Welt vollkommen verfallen war.

2

“Meine Güte”, sagte Toby, “da haben wir den heißesten Sommer des Jahrhunderts und diese Stadt ist so bedrückend und dunkel wie immer.” Er sprach von den dicht beieinander stehenden roten Häusern. Sie waren vier Stockwerke hoch, aus nacktem Ziegelstein, und raubten einem die Luft zum Atmen.

Zur Zeit der späten industriellen Revolution, Ende des neunzehnten Jahrhunderts und Anfang des zwanzigsten, als die ersten Fabriken gebaut wurden und die Zukunft in Gold gemeißelt schien, war Brickrow eine äußerst wohlhabende Stadt gewesen. Reiche Fabrikbesitzer und noch reichere Investoren hatten ihre massiven steinernen Villen wie Festungen aneinander gereiht, und Cassandra vermutete, dass es damals als chic galt, sein Anwesen im Stile einer backsteinernen Fabrik zu bauen. Sie konnte sich keinen anderen Grund vorstellen, aus dem ein reicher Mensch in einer solchen Festung leben wollte. Den Stadtverordneten im Rathaus gefielen diese erhabenen Statussymbole und sie ließen noch massivere und kolossartigere Wohnhäuser bauen, die sie allesamt aus dem unerschöpflichen Steuerbudget der Stadt bezahlten. Die damaligen Zuwanderer, hauptsächlich Fabrikarbeiter und Neureiche aus ganz Europa, bezogen diese exquisiten Wohnungen und hoben die Einwohnerzahl Brickrows zeitweilig auf bis zu dreißigtausend Menschen. Das geschah während des Höhepunkts von Brickrows Konjunktur und hielt einige Jahre an, so dass die Stadt immer mehr Wohnungen bauen ließ, bis schließlich Ende der Zwanzigerjahre die große Arbeitslosigkeit Einzug hielt. In den darauffolgenden Jahren verließen beinahe zwanzigtausend Menschen die Stadt und hinterließen nichts als leere Wohnungen, zwischen denen Cassandra und Toby nun standen.

Sie verweilten nicht lange, da sich sowohl das Stadtarchiv, als auch das Zeitungarchiv am anderen Ende der Stadt befanden, und sie noch einen langen Weg vor sich hatten.

Nachdem sie die Außenbezirke hinter sich gelassen hatten, kreuzten sie den Rathausplatz, wo sich, außer einigen Rentnern und vielen Tauben kaum etwas rührte.

Zur Mittagszeit war der Rathausplatz der sonnigste Ort in der ganzen Stadt, und viele der alten Leute waren in die Schatten von Ladenmarkisen und Sonnenschirmen geflüchtet. Es waren kaum junge Leute da, bis auf eine Ausnahme. Weiter vorne, in der Mitte des Platzes, saßen drei Jungs um den Springbrunnen herum und stierten gelangweilt in die Gegend. Zwei von ihnen kannte Toby nur von zufälligen Begegnungen, weil beide auf die Eastern Comprehensive School gingen, aber derjenige in der Mitte war Ron Hauser. Er saß da, rauchte, und spuckte ab und zu auf den Boden zwischen seinen Füßen. Sein glattes schwarzes Haar klebte glänzend wie Motoröl an seiner Stirn und verdeckte einen Teil seiner Akne. Der sichtbare Teil seines Gesichtes glomm in fleischiger Intensität.

Cassandra ignorierte ihn vollkommen.

Toby warf einen Blick hinüber, nicht sicher, ob er ihn grüßen sollte (die anderen beiden Kerle sahen gemein aus), verstummte aber schon im Ansatz, als Ron den Kopf hob. Seine hellen, fast schon gelben Augen fanden Cassandra und fixierten sie. Es war keine Wut, die aus seinen Augen leuchtete, sondern etwas anderes. Etwas, das Toby nicht genau benennen konnte. Eine Art grimmiger Abneigung unter geraden Augenbrauen. Er konnte nicht anders, als Rons stierendem Blick zu folgen, um zu sehen, was er sah.

Cassandras vollkommene Ignoranz hatte etwas Majestätisches an sich. Es war dieses beinahe intime Ignorieren, das man niemals einem Fremden entgegenbringen konnte, sondern nur einem Menschen, dem man einst nahe gestanden hatte. Und diese Erkenntnis ließ in Tobys Brust die Eifersucht wie eine Splittergranate platzen. Er öffnete den Mund, ohne zu wissen, was er eigentlich sagen wollte, aber Cassandra packte ihn am Arm und zog ihn in den Schatten einer Markise, bevor er sich einen Satz zurechtlegen konnte.

Ron ließ den Blick nicht von ihnen beiden.

“Ich gebe den Film zur Entwicklung”, sagte Cassandra. “Willst du mitkommen oder dich mit ihm duellieren?”

Wenn er jetzt was sagte, machte er sich höchstwahrscheinlich zum Affen, darum schwieg er und presste die Eifersucht tief in sich hinein. Himmel, schließlich hatte er das Mädchen gerade erst kennengelernt. Er würde sich die Tour nicht gleich zu Beginn vermasseln, weil er unbedingt eine Szene machen musste. “Ich komme mit”, sagte er ohne Begeisterung.

Sie betraten die kühle Stille von Jorge Packards Gemischtwarenladen, der neben Nahrungsmitteln und Tabak auch einen Fotoservice anbot. Das Summen von Jorges Kühltruhen war ein willkommener Kontrast zum Summen der Hitze draußen.

An der sauberen Theke saß ein alter Mann, der schon lange in Rente gehörte. Er war gelb und faltig wie eine Packung vakuumverpackter Erdnüsse. Seinen Kopf zierte kein einziges noch so krummes Haar. Er lächelte nicht, sondern wartete geduldig auf die Kundschaft. Ein merkwürdiges, babyartiges Greinen kam aus seiner faltigen Kehle, aber das schien er nicht zu merken.

Cassandra stellte sich dicht an die Theke, so dass der alte Mann sie nur ab der Hüfte aufwärts sehen konnte, dann hob sie die Seite ihres Kleides so weit an, dass sie an die kleine schwarze Tasche mit dem Film herankam.

Tobys Augen gingen fast über vor Überraschung, ihren langen kreideweißen Schenkel zu sehen, und er blickte rasch zur Seite, nur um sofort wieder hinzuschauen. Aber sie ließ den Stoff wieder fallen. In der Hand hielt sie ein Plastikröhrchen, das sie Jorge entgegenhielt.

“Wie schnell kann ich die Fotos haben?”

“Hmmmmm”, machte Jorge, “heute Abend, wenn´s passt. Bin alleine hier.” Dabei starrte er unablässig ins Leere. Hätte er nicht sinnvolle Sätze gesprochen, Cassandra hätte ihn für senil gehalten.

“Wunderbar”, sagte sie.

“Ja, heute Abend. Kommt heute Abend wieder.” Der alte Jorge starrte weiterhin ins Leere und machte keine Anstalten, den Film an sich zu nehmen. Cassandra schob den Film über die Theke und hoffte, dass Jorge ihn registrierte. Zwar kannte sie den alten Jorge so wie die meisten Bewohner Brickrows ihn flüchtig kannten, aber sie war sich keineswegs sicher, ob der Alte nicht schon erblindet war. Auch Toby schaute skeptisch, und Cassandra wollte den Film schon klammheimlich zurücknehmen, als der Alte doch noch reagierte und den Film mit zitternden Händen wegstellte.

“Danke”, murmelte sie.

Sie überließen den alten Mann seiner Apathie und den Dingen, die sich vor seinen grauen Augen abspielen mochten, und machten sich auf den Weg ins Archiv. Ron und seine Freunde waren inzwischen verschwunden und hatten nur die sengende Hitze zurückgelassen.

“Mann, ich hoffe, wir sehen den Film wieder”, sagte Toby. “Wenn die Bilder wirklich so gut sind, wie du sagst und der alte Kerl ihn verliert...”

“Wird er nicht. Jetzt komm.”

Schließlich erreichten sie, schwitzend und von der Hitze erschöpft, das große gelbe Gebäude, in dem der einzige Zeitungsverlag Brickrows seinen Sitz hatte. Wie schon gesagt, gehörte dieses Gebäude ursprünglich zu einem Fabrikkomplex zur Herstellung und Verarbeitung von Textilien, bevor Brickrows Textilindustrie den Bach hinunterging. Dem Gebäude gegenüber, auf der anderen Seite des großen Schotterplatzes, der früher der Rangierplatz der Fabrik war, stand ein ähnliches Gebäude und enthielt die Archive der Zeitung und der Stadt. An den gelben Wänden der beiden Gebäude knarzten schorfige Fensterläden.

Kies knirschte unter ihren Sohlen, als sie zur breiten Eichenholztür des Archivs gingen. Dort blieb Cassandra stehen und schaute hoch zum Wappen der Stadt, das über der Tür hing.

Von silber und grün gespalten, vorne eine rote Rose mit Stiel und Dornen, hinten eine goldene Schreibfeder, dachte Cassandra. Und dann: Danke, Mister Welling.

Sowohl sie, als auch Toby waren zuvor nur ein einziges Mal im Archivgebäude gewesen, in der fünften Klasse, während einer Exkursion in Geschichte. Mister Welling hatte die Exkursion geführt, und Mrs Whitfield hatte sie begleitet. Cassandra erinnerte sich sehr deutlich daran, wie sie in einem der großen und nur schlecht erleuchteten Flure absichtlich falsch abgebogen war, um das Gebäude auf eigene Faust zu erkunden. Die lärmenden Schüler und die total überdrehte Angestellte des Archivs, die ihre Führerin gewesen war, hatten die spannungsgeladene Neugier der kleinen Cassandra zu sehr gestört, als dass sie ihr Abenteuer hätte richtig genießen können. Darum hatte sie kurzerhand beschlossen, sich von den Anderen abzusetzen und zu schauen, ob sie nicht vielleicht einige Gebäudeteile finden konnte, die von plärrenden Pauschaltouristen unberührt geblieben waren.

Und wirklich, kaum eine der dunkelblauen monolithischen Türen des Archivs war abgeschlossen gewesen, als die kleine Cassandra mit einem erhabenen Gefühl der Angst und der Vorfreude die Türklinke heruntergedrückt hatte. Die erste Tür war nach innen aufgeschwungen, und Cassandra hatte etwas entdeckt, das sie niemals hatte sehen wollen...

3

...ein langweiliges Büro. Dunkel und schattig, aber dennoch so gewöhnlich.

Cassandra, zu dieser Zeit noch elf Jahre alt, hatte eine weitere Tür ausprobiert und wieder nur einen langweiligen Raum voller Akten gefunden.

So ein Mist.

Mürrisch und enttäuscht hatte sie die Tür geschlossen und sich umgesehen. Diesem Abenteuer fehlte es an Reiz, wenn Lara nicht dabei war. Sie war heute Morgen nicht zur Schule gekommen, und Cassandra vermutete, dass ihre beste Freundin krank im Bett lag. Niemals hätte sie die Schule geschwänzt, ohne Cassandra zuvor angestiftet zu haben, es ihr gleichzutun. Trotz dieses Umstandes ärgerte es Cassandra, ausgerechnet am Tage des Ausflugs von Lara alleingelassen worden zu sein. Um die Zeit bis zu ihrem Wiedersehen zu überbrücken, suchte Cassandra nach einem Abenteuer, das sie ablenken sollte.

Die Stimmen ihrer Mitschüler und der alten, aber hibbeligen Führerin waren sehr leise geworden und würden bald hinter einer Ecke verschwinden. Cassandras anfängliche Enttäuschung schwand mit jedem Dezibel ihres Lärms und machte einer neuen Vorfreude Platz. Was hatte diese schreckliche Frau vorhin gesagt? Das Archiv der Stadt und das der Zeitung nehmen jeweils ein Stockwerk ein. Das Erdgeschoß enthält unsere Büros und das Stadtarchiv, der erste Stock das Archiv der Zeitung.

Schön für euch, dachte Cassandra, aber was ist im zweiten und dritten Stock?

Zeit es herauszufinden, dachte sie mit einer Sturheit, die sie schon oft in Schwierigkeiten gebracht hatte. Hier musste doch ein Treppenhaus sein.

Nach einigen Schritten durch das hohle Zwielicht der Flure, erkannte Cassandra, dass einige Teile dieses Gebäudes nachträglich angebaut worden waren, um es von einem Fabrik- in ein Verwaltungsgebäude zu verwandeln. Viele der Räume, die sie inspizierte, wurden nur durch dünne provisorische Wände getrennt. Alte Hängelampen waren durch neue, in die Decke integrierte, ersetzt, und der ehemals kahle Boden war mit trittfestem Teppich ausgelegt worden. Aber wie Cassandra herausfand, beschränkten sich alle diese Neuerungen nur auf die beiden unteren Stockwerke.

Sie fand eine große Doppeltür aus Metall, die schwer zu öffnen war. Sie drückte mit der Schulter dagegen und schob sich durch den Spalt, bevor dieser sich hinter ihr schloss. Hinter der Tür fand sie ein beinahe lichtloses Treppenhaus, das sie irgendwie an den hohlen Zahn eines Drachen erinnerte, und lief nach oben, bis zu einer weiteren Doppeltür, die sie mit der Schulter aufstemmen musste, um in den zweiten Stock zu gelangen. Ihre Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen.

Cassandra stand in einer großen, dunklen Halle, die das gesamte zweite Stockwerk einnahm. Eine kellerartige Kälte dominierte die Halle, und Staub machte die Luft rau. Ein Erwachsener hätte sich von der Weite der Halle wohl kaum beeindrucken lassen, aber für die kleine Cassandra hatte dieser Raum die einschüchternde Wirkung eines Flugzeughangars. Jeder Hauch schien ein Echo hervorrufen zu können, darum atmete sie ganz leise.

Die Decke der Halle wurde von sechs eckigen Betonpfeilern getragen. Dazwischen regierte das blanke Chaos, wie es nur schlecht bezahlte Beamte verursachen konnten. Verteilt über die gesamte Fläche des Stockwerkes, lag eine unglaubliche Menge an alten Maschinen herum, teilweise so bizarr, dass Cassandra nicht zu raten vermochte, wozu sie einst gedient hatten. Das schummrige Licht, das durch die hohen Reihen schmutziger Fenster fiel, erlaubte ihr eine gewisse Orientierung, darum trat sie an eine der öligen Maschinen heran, um sie sich genauer anzusehen. Es war eine große und breite Maschine, breiter noch als ein Kleinwagen, und wirkte wie eine Mischung aus Bärenfalle und der rostigen Zahnspange eines Riesen. Cassandra strich langsam mit den Fingern über das dunkle Metall und fühlte Kälte unter der öligen Schicht Dreck.

Ist das eine Druckerpresse?, überlegte sie. Sie hatte noch nie eine Druckerpresse gesehen, aber dieses Ding erschien ihr zu unheimlich für ein solches Gerät. Es sah aus, als könnte es mit seinen rostigen Zähnen ein ganzes Auto fressen. Im Vergleich dazu war ein neugieriges Mädchen kaum einen Happs wert.

Vielleicht ist es eine Landmaschine? Ein Traktor könnte so etwas hinter sich herziehen.

Mit einem Schauer wohligen Gruselns wandte sich Cassandra ab, um zu sehen, was es hier noch zu entdecken gab. Sie musste aufpassen, nicht auf herumliegende Maurerkellen und Reste von Drahtgeflecht zu treten, als sie tiefer in den großen Raum drang. Sie dachte daran, nach einem Lichtschalter zu suchen, verwarf aber diesen Gedanken schnell. Grelles Licht hätte diesen Raum schlagartig entmystifiziert, und das wollte Cassandra auf keinen Fall. Sie wollte ein unheimliches Abenteuer.

So muss das Land der Chamäleons aussehen, dachte sie. Alles passt sich aneinander an. Diese großen Gipsplatten, die an den Säulen lehnen, sind die Schuppen der Chamäleons. Und diese schwarzen Geräte sind ihre Pupillen. Noch zucken sie nicht, aber wenn sie erst mal ihre Beute erspäht haben...

Hinten an der Wand standen noch mehr komische Gegenstände. Eines davon konnte sie als eine Art Bottich identifizieren. Möglicherweise hatten die Menschen darin Kleidung gefärbt. An dem Bottich lehnte ein riesiger Schöpflöffel.

Oder die Tabakpfeife eines Riesen. Cassandra ging hinüber, um es sich anzusehen. Das Ding sah aus wie ein Eimer, der an einem sehr langen Stab befestigt war. Ja, ganz eindeutig die Pfeife eines Riesen. Langsam ergibt alles einen Sinn. Dort hinten hat er seine Zahnspange verloren und hier die Pfeife. Mal sehen, was wir noch finden.

Die Halle war groß genug, dass ein Kind sie den ganzen Tag erforschen konnte, und Cassandra überblickte gerademal einen Bruchteil davon. Um zur Mitte der Halle zu gelangen, musste sie einen zeitlupenartigen Slalom vollführen, immer darauf bedacht, nicht zu stolpern oder sich die Kleidung aufzureißen. Sie erreichte eine Stelle genau zwischen den sechs weit auseinanderstehenden Säulen, wo sie stehenblieb und einen Blick in die Runde warf, um zu entscheiden, welche Ecke des Raumes am vielversprechendsten aussah.

Mit ihren elf Jahren war Cassandra bereits eine forsche junge Dame. Sie war intelligent, viel intelligenter als ihre Mitschüler, und bis zu einem gewissen Grad tapfer. Für ein Kind war sie ganz schön hart im Nehmen, und noch härter im Austeilen, aber all das war nicht wichtig. Was jetzt zählte, war, dass sie genug Disziplin aufbrachte, nicht aufzuschreien, als sie die drei schwarzen Menschen am anderen Ende der Halle sah.

Sie erstarrte mitten in der Bewegung, und ihr Atem stoppte. Der brutale Schreck traf sie wie ein Hammerschlag auf das Brustbein.

Nicht bewegen!

Eine Sekunde später hatte sie das Gefühl als würde sie sich eine Blockbatterie an die Zunge halten, nur dass sie dieses säureartige Kribbeln am ganzen Körper spürte. Es war fast, als würde man nackt in eiskalte Brause getaucht werden.

Cassandras Gedanken rasten, aber der einzige sinnvolle Gedanke, der ihr in den Sinn kam, bestand darin, sich auf keinen Fall zu ducken. Falls diese drei Personen sie noch nicht gesehen hatten, könnte jede Bewegung ihre Aufmerksamkeit wecken. Die Halle war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen, und diese Kerle nahmen Cassandra vielleicht nur als ein weiteres herumstehendes Gerät wahr.

Das galt leider andersherum genauso. Cassandra sah nicht mehr als drei schwarze Silhouetten im grauen Dämmerlicht. Sie konnte nicht erkennen, was diese Leute da trieben. Sie bewegten sich nicht und sie sprachen auch nicht miteinander. Sie beobachteten sie nur.

Lieber Gott, lass das keine Vergewaltiger sein!

Obwohl Brickrow nur eine kleine Stadt war und Kapitalverbrechen so selten waren wie glutheiße Sommer, so wurden doch in Brickrows Schulen immer wieder Sonderstunden geführt, in denen die jüngsten Schüler gelehrt wurden, nicht mit Fremden mitzugehen. Selbst im verschlafenen Brickrow waren die modernen Zeiten angebrochen, und Cassandra hatte schon zwei dieser Sonderstunden mitgemacht, in denen sie eifrig gefragt hatte, was denn diese bösen Menschen mit einem Kind machten, wenn sie es einmal in Händen hatten, doch die Antworten darauf waren für sie mehr als unbefriedigend gewesen. Sie vermutete, dass es um eine Sex-Sache ging, aber sowohl die Lehrer, als auch Cody Barnes, der diese Sonderstunden leitete, hatten sich vor einer konkreten Antwort gedrückt. Die Erwachsenen gaben nicht mehr preis als einige ominöse Andeutungen.

Daraufhin war Cassandra zu ihrem Vater gegangen und hatte ihn gefragt. Da Polizeichef Barnes ausdrücklich vor Männern gewarnt hatte, erschien es ihr nur logisch, auch einen Mann danach zu fragen.

Paul Moon hatte nach der Arbeit ferngesehen, mit seinem mürrischen Scheiß-Nachrichten-Gesicht, das er eigentlich immer aufsetzte, egal ob die Nachrichten nun gut oder schlecht waren, als Cassandra ins Wohnzimmer spazierte. Ihr Vater saß auf der Couch, nach vorne gelehnt, als würde er mit dem Fernseher Blinzel-nicht spielen. Cassandra konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater jemals auf der Couch lag. Er saß immer nur darauf, die Ellenbogen auf den Knien, die buschigen schwarzen Augenbrauen zusammengezogen.

Sie stellte sich neben ihn und wartete. Sie sprach ihn nie direkt an, wenn sie was von ihm wollte, sondern wartete einfach, dass er sie zur Kenntnis nahm. Er schaute sie kurz an und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Aus der Gewohnheit heraus wusste sie, dass er zuerst die Nachrichten zu Ende schauen würde, bevor er sich ihr widmete. So war ihr Vater halt.

Die Nachrichten endeten, und Paul Moon knipste den Fernseher mit der Fernbedienung aus. Dann klopfte er neben sich auf die Couch. Cassandra ließ sich auf das Sitzpolster fallen, aber Paul rutschte ein Stück von ihr weg, um sie besser anschauen zu können. Viel näher kam er ihr nie.

“Was gibt es?”, fragte er.

Der jungen Cassandra war es unbehaglich zu fragen, darum druckste sie ein wenig herum. “Heute in der Schule... Chief Barnes war da. Er hat uns erzählt, dass wir nicht mit Fremden mitgehen sollen.”

Paul Moon zeigte keine deutbare Reaktion. Er fragte einfach: “Und? Wirst du dich daran halten?”

“Ja, Papa, aber...”

Paul hob eine Augenbraue. “Was ist los? Willst du eine Bestätigung von mir, dass es gefährlich ist, mit Fremden mitzugehen? Benutz deinen Kopf, Mädchen.”

“Ich weiß, dass es gefährlich ist. Aber ich würde gerne wissen, wieso.” Das letzte Wort zog sie in die Länge. ”Was machen diese Männer denn mit Kindern?”

Jetzt zeigte sich eine Regung in seinem Gesicht. Er war eindeutig überrascht von Cassandras Frage.

“Hat man dir das in der Schule nicht gesagt?”

“Nein, wenn ich frage, reden die immer um den heißen Brei rum. Mrs Whitfield sagte, ich müsse das nicht im Detail wissen. Ich wäre noch zu jung dafür.”

Paul schnaubte. Sein Scheiß-Nachrichten-Stirnrunzeln erschien wieder. “Verdammte Idioten, um seine Jungfräulichkeit zu bewahren ist man nie zu jung, hörst du? Mir egal, ob deren Kinder missbraucht werden, aber dich fasst niemand an.”

Cassandra war nicht sicher, ob sie verstanden hatte. Sie wusste nicht, wie Jungfräulichkeit genau definiert war. Es hatte mit der Unantastbarkeit von würdevollen Herrscherinnen zu tun, glaubte sie. Darum fragte sie Paul danach.

Paul seufzte. Er schaute zur Treppe und überlegte, ob er Marie rufen sollte, aber das leise Röhren der Wasserleitung sagte ihm, dass seine Frau unter der Dusche stand. Zu dieser Zeit duschte sie noch oben. Cassandra brauchte noch keine Privatsphäre.

“Na gut, hör zu”, sagte er. “Ich werde es dir erklären.”

Cassandra nickte...

...und während sie in der schummrigen Halle stand und nicht wagte zu atmen, dachte sie an all die schrecklichen Dinge, die ihr Vater ihr erzählt hatte. Er hatte sie umfassend aufgeklärt, und bei Gott, er hatte ihr auch erklärt, was passieren würde, wenn sie mehr als nur einem Triebtäter in die Hände fiel.

So wie jetzt, dachte sie. Ich muss hier weg!

Aber etwas stimmte nicht. Diese drei schwarzen Silhouetten hinten in der Halle bewegten sich nicht. Sie machten nicht die winzigste Bewegung, fast so als wären sie Statuen... oh Mist.

Konnte es sein, dass das gar keine Menschen waren? Sie strengte die Augen an, versuchte, Details zu erkennen. Alle drei Gestalten waren gleich groß. Und gleich geformt. Wie Scherenschnittfiguren. Und langsam dämmerte ihr, dass sie sich umsonst erschreckt hatte. Das waren bestimmt keine Menschen, sondern irgendwelche Geräte, die nur aussahen wie Menschen. Sie beruhigte sich ein wenig, aber trotzdem klopfte ihr Herz heftig weiter, als sie einen Schritt vorwärts tat.

Niemand reagierte darauf.

Sie trat noch einen Schritt vor und noch einen, und mit jedem Meter, den sie zurücklegte, wurde sie selbstsicherer. Und dann hörte sie doch etwas. Der Schreck ließ sie sofort erstarren.

Verdammt, jetzt haben sie mich doch gesehen. Ihr war zum Heulen zumute. Sie hatte sich verraten. Jetzt würden sie sie doch schnappen und...und...

Renn weg, sagte ihr eine innere Stimme. Renn weg, sie können dich nicht schnappen, wenn du rennst.

Aber sie konnte nicht. Die Angst war wie eine Tonne Zement, die man in die Form eines kleinen Mädchens gegossen hatte.

Die Zeit wurde zu etwas Gelatineartigem. Die Sekunden tropften vor sich hin, und sie begann langsam, an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln. Die drei Personen an der hinteren Wand der Halle bewegten sich immer noch nicht. Allerdings summte einer von denen. Er summte hoch und dünn wie eine Fliege. Cassandra konnte es nur deshalb auf diese Entfernung hören, weil es in der Halle ansonsten vollkommen still war – von Cassandras trommelndem Herzen einmal abgesehen.

Aber wieso summte der eine? Sie konnte nicht erkennen, welche dieser schwarzen Gestalten summte, aber...

Das ist eine Fliege.

Sie hörte das gebrochene Summen einer gefangenen Fliege. Die Fliege musste recht groß sein, nach der Lautstärke ihres Summens zu urteilen. Vielleicht war es eine Wespe oder etwas gefährlicheres, aber bei Gott, alles war besser als drei Vergewaltiger.

Cassandra konnte die Ungewissheit nicht mehr ertragen. Sie durchbrach ihre Lähmung und ging den ganzen Weg zu den drei seltsamen Gestalten. Ihr Inneres verkrampfte sich mit jedem Schritt, aber als sie schließlich dicht genug war, um die Gestalten zu identifizieren, fiel die Angst von ihr ab wie ein schwerer Rucksack, dessen Riemen rissen.

Kleiderpuppen. Dort standen verdammt nochmal nur dumme Kleiderpuppen. Cassandra lachte bitter auf und wischte sich die Augen trocken. So eine Scheiße, nur dumme Puppen, nichts weiter. Sie schlug eine der Puppen und lachte wieder auf. Diesmal leichter.

Da hättest du dir fast in die Hosen gemacht, wegen ein paar dummer alter Puppen.

Sie schlug mit ihrer kleinen Faust nochmals nach der Puppe, die nur dümmlich hin und her schaukelte.

Und dann hörte sie wieder das Summen. Diesmal so nahe und laut, dass sie zurücksprang und instinktiv mit den Fäusten in die Luft schlug. Ein großes Insekt flog hier herum. Als ob der erste Schreck nicht genug war, musste sie jetzt auch noch gegen eine Käfer-Phobie angehen. Dummes, altes, vergammeltes Fabrikhaus.

Das Summen brach ab. Und setzte wieder ein. Und verstummte. Immer am selben Fleck. Cassandra nahm die Hände vom Gesicht und schaute vorsichtig in die Richtung, aus der das Summen kam. Es klang so, als wäre die fette Fliege gefangen. In einem Spinnennetz? Dieser Gedanke brachte Cassandra zum Schaudern. Eigentlich hatte sie keine Angst vor Spinnen, aber vor den besonders großen ekelte sie sich. Und hier in dieser unbenutzten Halle konnten sie ganz ungestört wachsen.

Cassandra musste es sich näher anschauen, dafür war sie einfach zu neugierig. Sie trat näher an die Puppen heran und versuchte, das Summen zu orten.

Sein Ursprung lag am Kopf der linken Puppe.

Jetzt wäre eine Taschenlampe nützlich.

Die Puppen waren etwa einen Meter fünfundsiebzig groß und nicht aus Plastik sondern aus etwas ähnlichem wie Filz gemacht. Sie mochten einmal beige gewesen sein, aber mit dem Alter waren sie nachgedunkelt und waren jetzt fast schwarz. Die Puppen trugen keine Gesichter, auch keine angedeuteten. Ihre Köpfe besaßen eine simple konische Form.

Wieso habe ich das nicht vorher bemerkt?

Die Körper besaßen eine männliche Anatomie. Allerdings konnte Cassandra nicht ganz beurteilen, ob die Genitalien stimmten. Sie schämte sich, zu genau hinzusehen.

Das Summen ertönte wieder, und diesmal erkannte sie den Ursprung des Ganzen. Ihr Staunen nahm kein Ende.

Jemand hatte mit einer langen Nähnadel eine dicke Fliege an die Stirn der Puppe gepinnt. In insektenhafter Begriffsstutzigkeit drehte sie sich im Kreis, ohne die geringste Möglichkeit zu finden, sich zu befreien.

Wie ist das denn möglich?

Wer auch immer diese Fliege da hingepint hatte, musste äußerst flink gewesen sein, und es vor sehr kurzer Zeit getan haben. Wie lange konnte eine Fliege auf diese Weise weiterleben? Ein paar Stunden? Oder vielleicht nur Minuten? Wieder schlich sich Angst in Cassandras Gedärme. Wenn es nur Minuten vergangen waren, dann musste derjenige, der das getan hatte, noch hier sein, oder?

Mein Gott, vielleicht hat er es getan, während ich hier war. Während ich mir Schrott angesehen habe. Vielleicht war es sogar ein PSYCHOPATH.

Die zweite große Angst, die man Cassandra eingepflanzt hatte, abgesehen von der Angst vor VERGEWALTIGUNG, war die vor Psychopathen. Sie wusste nicht, was ein Psychopath war, aber sie verstand, dass Psychopathen Männer waren, die komische und außergewöhnliche Dinge taten. Und töteten. Vor allem töteten sie. Und vor allem Frauen und Kinder. Das hatte ihr nicht ihr Vater beigebracht, sondern das Fernsehen. In den Filmen legten die Psychopathen ihren Opfern oft Dinge in den Mund, zum Beispiel Blüten oder Insekten. Fliegen! Oder sie schnitten den Opfern irgendwelche Körperteile ab, damit sie sie zu Hause wieder zusammensetzen konnten. Wie eine Schneiderpuppe!

Cassandra hatte genug. Ihre Abenteuerlust versiegte schlagartig. Sie musste hier weg, zurück ins Licht, zurück zu ihren Schulkameraden... aber sie lief nicht. Sie konnte nicht. Sie musste sich noch zwei Dinge ansehen.

Sie ließ die linke Puppe mit der angepinnten Fliege stehen und wandte ihre Aufmerksamkeit der mittleren Puppe zu. Die Angst war inzwischen zu etwas Großem, Kathedralenartigem in ihrem Inneren angewachsen, aber sie musste ihren Verdacht bestätigen. Sie hatte es schon andeutungsweise gesehen... Rechts neben ihr befand sich eines der vor Schmutz vollkommen undurchsichtigen Fenster. Licht, das so fein und trübe war wie schwacher Nebel transzendierte hindurch und machte weitere Details der Puppen sichtbar.

Der Kopf der mittleren Puppe war abgeschnitten worden. Nicht am Hals, sondern auf halber Höhe, dort wo bei einem Menschen die Nasenwurzel gewesen wäre. Die Schädeldecke fehlte und der Teil des Kopfes, an dem beim Menschen die Augen saßen. Hätte die Puppe Ohren gehabt, wäre davon nur die untere Hälfte mit den Ohrläppchen geblieben.

Cassandras Kinn begann zu zittern. Das Grauen stieg ihr den Hals hinauf wie Erbrochenes. Derjenige, der der Puppe den halben Kopf abgeschnitten hatte, hatte ihr dafür etwas anderes dort eingepflanzt. Ein menschliches Gehirn.

Sie trat einen Schritt zurück. Brechreiz presste ihren Magen zusammen. Für einen Moment wurde ihr schwindelig.

Hör auf, sagte ihre innere Stimme. Atme normal, sonst kippst du hier im Dunkeln auf einen scharfkantigen Gegenstand.

Sie versuchte es. Sie starrte auf den Boden und atmete langsamer und flacher. Hyperventilation war ihr kein Begriff, aber der Schwindel und das schnelle Atmen waren ihr Warnung genug.

Schau nochmal hin.

Sie schüttelte im Dunkeln den Kopf. Nein!

Schau hin. Schau dir das Gehirn an.

Der Schwindel ließ nach und so auch der Brechreiz. Und eigentlich war es gar nicht mehr so schlimm, wenn man sich einmal im Griff hatte. Cassandra traute sich zu, nochmal hinzusehen, denn am Rande ihres Verstandes war etwas aufgeblitzt, das ihr nur langsam ins Bewusstsein trat: Müsste es hier nicht unerträglich stinken? Zwar stank es hier schon, aber das war der uralte Geruch von Essig, Maschinenöl und Staub. Es stank nicht so, als wäre hier ein Tier gestorben. Und es stank auch nicht so wie damals, als ihrer Mutter ein Stück Fischinnereien hinter die Spüle gerutscht waren und sie es erst gemerkt hatten, als der unfassbar brutale Gestank hervorgedünstet kam.

Nein, hier stinkt es nicht. Aber würde ein frisches Gehirn stinken? Eins, das gerade erst herausgenommen worden war?

Das vielleicht nicht, Cass, altes Haus. Aber es würde glänzen. Es wäre glitschig und würde glänzen.

Das hier glänzte nicht.

Es roch nicht.

Es war nicht echt.

Verdammt, wieder war sie einer Täuschung zum Opfer gefallen, auch wenn das in Cassandras Augen die Lage nicht wirklich entspannte. Wer auch immer dieser Witzbold war, er hatte der Puppe ein Gehirn aus Plastik transplantiert. Es war eines dieser Gehirne aus dem Biologieunterricht. Es war grau und bestand aus mehreren Teilen, die auseinanderfielen, wenn man nicht aufpasste. Sie hatte selbst schon eines in Händen gehalten und konnte nur das Großhirn und das Kleinhirn voneinander unterscheiden. Die restlichen Teile waren nur für Gehirnchirurgen interessant. Und für Psychopathen.

Dieser Psychopath hier hatte das Plastikgehirn scheinbar zusammengeklebt und dann mit einer langen und dünnen Nadel auf die Puppe gepinnt. Diese Nadel war so lang, dass Cassandra sich wunderte, was man damit eigentlich nähen sollte. Kleider für Riesen vielleicht? Und woher hatte er die Kraft gehabt, die Nadel durch das feste Plastik zu stoßen?

Cassandra schüttelte sich. Es war Zeit zu verschwinden. Sie würde sich nur kurz die dritte Puppe ansehen und dann gehen. Nach den vielen unnötigen Schrecksekunden, war sie abgehärtet genug, sich auf den Anblick der nächsten Puppe einzustellen...

... und wurde enttäuscht.

Die rechte Puppe war die fantasieloseste. Der Witzbold/Psychopath hatte ihr einfach nur den Filzkopf verbrannt. Das war alles. Keine Nadeln, kein mitgeliefertes Zubehör. Trotz der durchgemachten Angst, bedauerte sie diesen Umstand.

Aber dann sah sie es doch. Und im Grunde war das, was sie sah, noch unheimlicher als die beiden ersten Puppen.

Sie musste ganz dicht heran, um es richtig zu sehen. Sie war zu klein, als dass sie an den Kopf der Puppe herangereicht hätte, aber das ätherische Dämmerlicht vom Fenster reichte aus, um dieses eine Phänomen zu erkennen. Es dauerte einige Sekunden, bis Cassandra es vollständig begriff.

Nur die obere Hälfte des Puppenkopfes war verbrannt, von der Stelle aus aufwärts, wo die Oberlippe und die Nasenlöcher eines Menschen gewesen wären. Der Mund des Menschen wäre intakt geblieben. Die Trennlinie zwischen verbranntem und unverbranntem Material war absolut gerade, wie mit dem Lineal gezogen. Der untere Teil war noch nicht einmal rußgeschwärzt.

Wie schafft man denn so was?

Cassandra, die selbst schon einige Male gezündelt hatte, wusste wie schwer es war, ein kontrolliertes Feuer zu entfachen. Und das hier war schon lächerlich. Selbst wenn der Kerl den unteren Teil des Puppengesichts abgedeckt hätte, wären doch trotzdem Brandspuren zu erkennen gewesen. Da war sie sich ganz sicher. Feuer brannte doch niemals an einer geraden Linie entlang.

Auf welche Weise dieser Kerl das auch angestellt hatte, eine Frage beschäftigte Cassandra mehr als alle anderen: Wozu hatte dieser Kerl das gemacht? Wozu diese ganze Mühe? Und wieso stellte er diese Puppen gerade hier aus, wo kein Mensch mehr verkehrte?

Oh verdammt...

Was, wenn der Kerl hier lebt?

Oh verdammt...

Ich bin in das Versteck eines Psychopathen eingedrungen.

Diese Puppen...

Das sind Studien für seine nächsten Opfer!

Das war´s. Cassandra hatte genug. Sie wollte rennen, raus aus dieser unheimlichen Halle, hinaus ins Licht, wohin sich Psychopathen nicht trauten.

Sie kam nur mühsam voran. Wenn sie jetzt loslief, würde sie über einen scharfkantigen Gegenstand stolpern und sich alles Mögliche brechen. Obwohl der Fluchtdrang ihren Verstand auszuschalten drohte, zwang sich Cassandra trotzdem zu diesem beinahe lustig wirkenden Slalom zwischen öligen Maschinen und alten Ziegelsteinen hindurch. Mehrmals musste sie übertrieben mit der Hüfte schwingen, um Werkbänken und schräg liegenden Metallteilen auszuweichen. Ihr Atem schmeckte, als hätte sie an diesem schmutzigen Metall geleckt, ihr Herz pumpte und die Muskeln in ihrem Rücken verkrampften sich in Erwartung der zupackenden Hand des Irren.

Sie brauchte dreißig Sekunden, um die große Halle zu durchqueren, und fast hätte sie es auch geschafft. Sie packte die Türklinke, die in die Freiheit führen würde, und erkannte in selben Moment, das die Tür viel zu leicht aufging. Es war eine schwere Metalltür, und Cassandra hatte beim Eintreten Mühe gehabt, sie aufzudrücken. Jetzt beim Hinausgehen zog sie die Tür so mühelos auf, als hätte sie die Kraft eines Erwachsenen.

Oder so als würde jemand von der anderen Seite schieben.

Cassandra quiekte und wirbelte herum, um zurück in die Halle zu laufen. Sie hatte die schwarze Gestalt, die hinter ihr eintrat, nur kurz wahrgenommen und in dem kurzen Moment entschieden, dass sie lieber blind durch einen Raum voller Altmetall rennen würde, als sich von diesem Verrückten in eine der Puppen verwandeln zu lassen. Sie setzte zum Sprint an und erlebte den Alptraum eines jeden Kindes: Sie wurde von einem Monster verfolgt und die verdammte Trägheit hinderte sie am Wegrennen. Die eine Sekunde, die sie brauchte, um Geschwindigkeit aufzunehmen, wurde ihr zum Verhängnis. Eine scharfe Klaue, die unmöglich die Hand eines Menschen sein konnte, krallte sich ihr ins Genick. Cassandra begann zu kreischen wie am Spieß. Sie war entdeckt worden, und ihre einzige Chance bestand jetzt noch darin, die Lehrer oder das Personal auf sich aufmerksam zu machen.

Die scharfen Finger in ihrem Genick packten noch fester zu und zerrten an ihr wie ein Wolf an seiner Beute. Dieser Irre war unglaublich stark. So sehr Cassandra auch strampelte und nach hinten austrat, der Griff wurde nur fester und die Fingernägel bohrten sich in ihre weiche Haut.

Schreien und Treten half nicht. Cassandra gab auf. Sie wurde geschüttelt, und am Rande ihrer Wahrnehmung merkte sie auch, dass der Irre auf sie einschrie. In seiner psychotischen Raserei lachte er wahrscheinlich über seine unerwartete Beute.

“Cassandra Moon! Hör sofort auf zu schreien! Cassandra Moon!”

Die Stimme kam Cassandra bekannt vor. Komisch, dass im Fernsehen die Psychopathen nie weiblich waren, so wie dieser hier.

“Cassandra Moon! Ich leg dich übers Knie, wenn du nicht sofort aufhörst zu schreien!”

Das war ein Argument, und Cassandra schloss den Mund. Das infernalische Kreischen, von dem sie annahm, dass es bei genügender Lautstärke, ein Trommelfell zum Platzen bringen konnte, erstarb.

Flackernd sprangen die Neonröhren an. Als die letzte vollständig erwachte und die große Halle restlos erleuchtet war, wurde Cassandra brutal herumgewirbelt. Mrs Whitfields Augen loderten vor Wut. Ihr altblondes Haar stand ihr vom Kopf ab.

“Beim Heiland, du kannst dich auf was gefasst machen.” Sie schrie nicht mehr, aber leise sprach sie auch nicht. “Wer hat dir erlaubt, dich von der Gruppe zu entfernen?”

Cassandra schwieg.

“Jetzt mach den Mund auf! Was hast du hier zu suchen? Habe ich dir erlaubt hierherzukommen?”

Sie antwortete nicht. Sie antwortete nie auf solche Fragen. Aber Mrs Whitfield ließ nicht locker. Sie war außer sich vor Wut und würde es an jemandem auslassen.

“Was ist los mit dir? Hast du vergessen wie man spricht?” Mrs Whitfield schüttelte sie. Diese scharfen, orange lackierten Fingernägel kratzten ihr Genick auf. Sie würde blutige Kratzer abbekommen. Mrs Whitfield hatte ausgesprochen kleine Hände, fast wie kleine Gartenkrallen. Cassandra zwang sich, nicht zu heulen. Ihr kleines Mädchengesicht versteinerte, nur ihr Kinn zitterte, aber das war in Ordnung. Das hatte sie unter Kontrolle.

“Du willst also nicht mit mir sprechen. Du hast wohl deine Zunge verschluckt.”

Keine Reaktion. Cassandra musste stoisch bleiben. Sie würde nicht heulen.

“Schön, wie du willst. Du kommst jetzt mit.” Mrs Whitfield ließ endlich ihr Genick los und packte sie stattdessen am Arm. Rücksichtslos zog sie daran, als sie durch die Tür trat, so dass Cassandra herumgewirbelt wurde. Ihr Arm fühlte sich an, als wäre er kurz aus dem Gelenk gesprungen. Sie hätte wieder schreien können, aber etwas anderes lenkte sie davon ab. Kurz bevor sie durch die Tür gezogen wurde, hatte sie die Gelegenheit, einen Blick auf den hinteren Teil der Halle zu werfen. Dort war jetzt alles hell erleuchtet. Maschinen, Zementsäcke, große Drahtrollen. Nur die Puppen nicht. Denn die waren nicht mehr da. Cassandra runzelte die Stirn. Dann schloss sich vor ihr die einzige Tür zu diesem Stockwerk.

Cassandra blinzelte.

“Ist alles in Ordnung?”, fragte Toby.

“Ja. Ich habe mich nur an etwas erinnert.”

“Hat es mit unserer Sache zu tun?”

Sie überlegte. “Es würde mich wundern, wenn nicht.”

Sie betraten das Archiv.

4

In den letzten sechs Jahren seit Cassandras kleinem Horrorabenteuer im zweiten Stock des Archivs, hatte sich im Eingangsbereich kaum etwas verändert. Der Geruch verriet ihr das, bevor sie die große Eichentür ganz aufgezogen hatte. Nach einem Seitschritt in den dämmrigen Flur hinein, bestätigte sich ihr Verdacht, dass auch optisch kaum eine Veränderung vonstattengegangen war.

“Hallo?”, rief Toby, aber außer einem blechernen Echo, antwortete niemand.

Cassandra sperrte den letzten Spalt Sonnenlicht aus. Im Erdgeschoß wäre es stockdunkel gewesen, wenn nicht weiter vorne, wo zwei Flure sich kreuzten, gelbe Lichtbahnen den Schachbrettboden punktiert hätten. Staubflocken warteten im Licht.

“Hier ist es ganz schön unheimlich.”

Cassandra stieß ein knappes Lachen aus. “Wenn du wüsstest.”

“Hier ist ein Lichtschalter.”

“Nein, lass. Wir sehen genug.” Es widerstrebte ihr, das gesamte Erdgeschoß in Neonlicht zu tauchen. Die Fenster an den Enden des kreuzenden Flurs lieferten ausreichend Licht, um sich zu orientieren. Jetzt galt es, den richtigen Raum mit den historischen Dokumenten zu finden.

“Wonach suchen wir eigentlich?”

“Das wüsste ich selbst gern. Ich brauche Unterlagen über den Bau der Schule. Vielleicht den Namen des Architekten und Zeitungsausschnitte über die Einweihung. Solche Dinge.”

“Verstehe. Dann sollten wir vielleicht oben im Zeitungarchiv anfangen.”

“Dann los.”

Sie liefen bis zur Kreuzung und klopften zwischendurch an Bürotüren, auf der Suche nach einem Mitarbeiter, fanden aber niemanden. Sie suchten nach einem Lageplan, und waren genauso erfolglos.

“Touristenfreundlich sind die hier nicht gerade.”

“Wir sind keine Touristen, Toby.”

Sie gingen weiter Richtung Treppenhaus. “Ich will mich kurz im zweiten Stock umsehen”, sagte Cassandra.

“Was ist im zweiten Stock?”

“Ein Haufen Schrott und vielleicht noch mehr Rätsel.”

Toby hatte keinen Einwand, und sie gingen hinauf in den zweiten Stock, vorbei am Zeitungarchiv. Das Treppenhaus war dunkler als die Flure, aber die Stufen waren breit genug, um nicht zu stolpern. Erst in der großen Halle kam ein wenig Licht durch die verkrusteten Fenster. Cassandra griff nach dem Lichtschalter, ließ das Licht aber dann doch gelöscht. Vielleicht fanden sie mehr Rätsel im Dunkeln, als im Hellen.

Toby stieß ihr in den Rücken.

“Sorry”, hauchte er.

Cassandra machte ihm Platz, damit er sehen konnte.

Die Halle hatte sich nicht verändert. Das große Metallmaul, das sie inzwischen als einen Teil eines Holzhäckslers identifizieren konnte, lag noch an derselben Stelle rechts vom Eingang. Es grinste böse.

Der ganze andere Schrott war auch noch da. Ein ganzer Irrgarten aus Metallplatten, Netzen zum Halten von Putz, und alten Schreibtischen mit umgedrehten Stühlen obenauf. Allerdings konnte sie nicht sehen, ob die Puppen da waren. Sie musste näher heran.

“Lass uns lieber das Licht einschalten.”

“Gleich. Ich glaube, das, was ich suche, finde ich nur im Dunkeln.”

Toby verkniff sich eine Antwort. Die Dunkelheit erlaubte keinen Sarkasmus.

Cassandra übernahm die Führung. Trotz der langen Zeitspanne seit ihrem letzten Besuch, erinnerte sie sich wieder an den Weg durch den Irrgarten. Toby folgte ihr und stieß sich dabei mehrmals die Hüfte an Werkbänken und merkwürdig langen Schrauben, die in den Raum hineinragten. Um ehrlich zu sein, hatte er mehr Augen für Cassandra, als für die Hindernisse in seinem Weg. Sie war eine dunkle Schönheit in einem düsteren Raum, und Toby konnte nicht anders, als ständig ihre weißen Schultern anzustarren. Ihr Geruch war berauschend. Wie der beste Kaffee der Welt.

Zum ersten Mal seit ihrer Begegnung vor einigen Stunden, fiel ihm auf, dass sie Schweißbänder an den Handgelenken trug. Im Dunkeln merkte er das nur deshalb, weil eine Lücke zwischen ihren Unterarmen und den Händen klaffte. Er fand, dass die Schweißbänder nicht zu ihrem Sommerkleid passten, aber er machte sich keine weiteren Gedanken darum. Er wollte lieber schauen, ob er im Dunkeln näher an sie herangehen konnte.

Der Wunsch wurde ihm auch prompt erfüllt, als Cassandra plötzlich stehenblieb.

“Sorry”, murmelte Toby ein weiteres Mal.

“Okay. Alles klar. Schau dir das an.” Sie klang beinahe eingeschüchtert, als sie mit schlaffem Arm ins Dunkel deutete.

Ihr Tonfall versprach ihm, gleich etwas Groteskes zu Gesicht zu bekommen, darum schob er sich vorbei, um zu sehen, worauf sie deutete.

Aufrecht an der hinteren Wand der Halle lehnte die abgerissene Heckflosse eines relativ kleinen Flugzeugs. Sie reichte Toby kaum bis zur Brust, und war an der oberen Kante stark abgerundet. Die Farbe des Lackes mochte einst grün gewesen sein, soweit man das im Dunkeln beurteilen konnte. Unverwechselbar jedoch war das schwarze Symbol darauf.

“Siehst du dasselbe wie ich?”, fragte Cassandra.

“Messerschmitt BF 109”, hauchte Toby zurück.

“Das war vor sechs Jahren nicht da.”

Toby ging näher heran und fuhr mit der Hand über den Lack. Kein Rost. Keine Kratzer.

“Als wäre es erst gestern abgeschossen worden.” Mehr als das Symbol auf der Heckflosse, verstörte ihn die Unversehrtheit dieses Reliktes. Jemand spielte mit ihnen, und das Spiel war langsam nicht mehr witzig.

“Lass uns gehen”, sagte Cassandra.

An der Tür zur Halle blieben sie noch einmal stehen. Cassandra betätigte den Lichtschalter, aber nichts geschah. Das Licht blieb aus.

5

Sie betraten den ersten Stock, an den sich Cassandra nur noch vage erinnerte, weil sie damals die aktive Teilnahme an der Exkursion verweigert hatte, nachdem Mrs Whitfield sie im zweiten Stock aufgelesen hatte. Cassandra war damals schmollend hinterhergeschlurft und hatte sich Rachefantasien an Mrs Whitfield hingegeben, ohne die Exkursionsführerin oder die Umgebung zur Kenntnis zu nehmen. Nur die Kratzer in ihrem Genick hatten sie beschäftigt.

Heute war es hier genauso dunkel wie im Erdgeschoß. Toby drückte auf den Lichtschalter, aber nichts tat sich. Scheinbar war der Strom im ganzen Haus ausgefallen.

Der Grundriss dieses Stockwerks unterschied sich von dem im Erdgeschoß und des zweiten Stocks. Hier hatte man Platz gemacht für spezielle Metallregale, in denen große Mappen gestapelt waren. Sie wirkten wie die Lamellen einer halb offenen Jalousie. In jeder Mappe lag eine aufgefaltete Ausgabe der Brickrow Beyond. Der Tageszeitung Brickrows.

“Hier war doch mal so ein Apparat, mit dem man sich die Zeitungen ansehen konnte”, sagte Toby

“Du meinst das Microfiche- Gerät.”

“Nein, nein, ich meine so einen Kasten, der aussieht wie ein Fernseher. Da konnte man Kopien der Zeitungen anschauen.”

“Ja, das Microfiche- Gerät”, sagte Cassandra geduldig.

“Was hat das denn mit Fischen zu tun?”

“Vergiss es einfach”, sagte Cassandra. Sie schaute in einen weiteren regalgesäumten Gang.

“Wie klein sind denn die Fische?”

“Vergiss es, Toby. Das hat nichts mit Fischen zu tun.”

Sie liefen eine Weile im Kreis, bis sie das gesamte Stockwerk überblickt hatten, und stellten fest, dass das Microfiche- Gerät nicht mehr da war.

“Was jetzt?”, fragte Toby.

Cassandra schaute zur Decke, wo die obersten Zeitungsmappen lagerten.

“Da sind Jahreszahlen an den Regalen.”

Toby sah es auch. “Neunzehnhundertvierundfünfzig”, las er vor. “Wann wurde die Schule gebaut?”

“Neunzehnhundertzwei.”

“Dann muss es weiter hinten sein.”

Cassandra schüttelte den Kopf. “Wenn jedes Regal einen Jahrgang enthält, dann müssten hier über hundertfünfzig Regale stehen. Es sind aber höchstens fünfzig.”

Sie schauten nach und fanden Cassandras Vermutung bestätigt. Das letzte Regal ganz hinten links hatte die Nummer 1945.

“Wo ist der Rest?”, überlegte Toby.

“Im Keller”, antwortete jemand hinter ihnen.

Cassandra und Toby zuckten vor Schreck zusammen. Eine der Archivangestellten hatte sich lautlos genähert. Eine junge Frau, kaum älter als achtzehn oder neunzehn. Es fiel schwer, sich ein Bild von ihr zu machen, weil das Tageslicht durch die Lamellen der Regale über ihren ganzen Körper gefächert wurde. Cassandra sah eine Lesebrille aufblitzen. Darunter bewegten sich rosa Lippen von einem Streifen Schatten ins Licht und wieder hinab in den Schatten.

“Kann ich euch helfen?”

Nach Cassandras Erfahrung im Umgang mit Beamten, war es das Beste, sich höflich vorzustellen, um keine Missgunst zu erregen. Darum tat sie das, bevor sie erklärte, wozu sie hier waren.

“Wir wollten recherchieren, aber wir finden das Microfiche- Gerät nicht.”

Die junge Angestellte lachte offen.

“Ach das haben wir schon lange nicht mehr. Alle Zeitungen sind in digitaler Form online abrufbar. Ihr hättet nicht herkommen müssen. Ihr könnt von zu Hause aus recherchieren.” Sie schürzte die Lippen. “Da ihr aber schon mal hier seid, zeige ich euch, wo unsere Computer stehen.” Sie führte Cassandra und Toby zurück zum Treppenhaus.

“Übrigens, ich bin Nora. Ich bin heute alleine hier.”

“Du gehst nicht zur Brickrow, oder?”, fragte Cassandra.

Nora schaute über die Schulter. “Nein, ich war auf der Eastern. Ich habe vor zwei Jahren meinen Abschluss gemacht und arbeite seitdem hier.”

“Bist du Angestellte der Zeitung oder der Stadt?”, fragte Toby.

“Angestellte der Stadt”, antwortete sie. “Aber ich verwalte auch das Zeitungsarchiv zusammen mit zwei sehr netten Kolleginnen. Heutzutage kommen wenige Leute hierher, so dass wir kaum Öffentlichkeitsarbeit haben. Eigentlich sind wir nur am Archivieren, und wenn Mrs Thorne in Rente geht, wird ihre Stelle nicht neu besetzt. Dann schmeißen wir den Laden zu zweit.”

“Das klingt, als würden Stellen eingespart.”

“Oh ja, der Stadt geht´s schlecht.” Sie erreichten die Tür zum Treppenhaus. Nora zog sie auf und ließ die beiden hindurchtreten. Dann sprach sie hinter ihnen. “Im Grunde kann ich die ganze Arbeit auch selbst machen, worauf es im Endeffekt wohl hinauslaufen wird.”

“Macht dich das traurig?”, fragte Toby ins Dunkel.

“Ganz im Gegenteil. Nicht viele Menschen können behaupten, dass ihr Arbeitsplatz auch ihr privates Reich ist.”

Sie erreichten das Erdgeschoß. Nora trat an ihnen vorbei und blieb im Flur stehen. “Ach ich Trottel”, rief sie. “Ich habe die Taschenlampe vergessen. Ich muss noch einmal hoch in den dritten.”

“Was dagegen, wenn wir mitkommen?”, fragte Toby.

Nora hatte nichts dagegen. Sie führte sie hinauf, und gab Cassandra damit die Gelegenheit, den dritten Stock zu erforschen.

“Ist es nicht ziemlich unheimlich hier? So alleine?”, fragte Cassandra.

Toby spürte, worauf Cassandra mit ihrer Frage hinauswollte, soviel verriet ihr sein zögernder Handgriff im Dunkeln. Sie wagte es trotzdem.

“Passieren hier manchmal komische Dinge?”

Nora blieb vor der Tür zum dritten Stock stehen. Cassandra fühlte das mehr, als dass sie es sah. Toby rempelte sie wieder an.

“Was meinst du mit komische Dinge?”, sagte Noras Stimme im Dunkeln. “So was wie Spuk?”

“Und wenn ich das meinte?”

“Nein, das einzige, was hier spukt, bin ich”, sagte sie amüsiert.

Soviel dazu, dachte Cassandra. Sie erwartete, dass Nora die Tür öffnete, aber aus irgendeinem Grund zögerte die Bibliotheksangestellte.

“Könnt ihr ein Geheimnis für euch behalten?”

“Klar”, sagte Toby, und Cassandra stimmte zu. Sie machten sie darauf gefasst, dass Nora ihnen ihr Geheimnis anvertraute, aber statt es in Worte zu kleiden, stieß Nora die Tür zum dritten Stock auf.

Hier war mehr Licht als im Treppenhaus, weil die Sonne durch saubere Fenster schien, und sie konnten sehen, dass dieses Stockwerk dem zweiten ähnelte. Sechs große Betonsäulen stützten einen Raum ohne Zwischenwände. Und da endete die Ähnlichkeit auch. Anders als unten, war dieser Raum hier gesäubert und von Müll befreit worden. Hier lagen keine nutzlosen Geräte und altes Baumaterial herum, doch trotzdem war der Raum zugestellt.

“Wie findet ihr das?”, fragte Nora. Ihr hübsches Gesicht strahlte vor Stolz.

Das dritte Stockwerk dieses alten Fabrikgebäudes enthielt eine richtige Bibliothek. Reihe um Reihe ragten schwere Holzregale vor ihnen auf.

“Was glaubt ihr, wie ich gestaunt habe, als ich das erste Mal hier oben war und sah, dass hier die alten Bücherregale der Stadtbibliothek aufbewahrt wurden.”

“Ich kann es mir vorstellen”, sagte Cassandra. Wie hypnotisiert liefen sie und Toby tiefer zwischen die Reihen der Regale. Cassandra strich mit den Fingern über das dunkle Holz. Das hier waren uralte Eichenregale, die bis zur Decke reichten und so schwer waren, dass man nicht unter ihnen stehen wollte, wenn sie umfielen. So etwas wurde gar nicht mehr gebaut, dachte sie. Und als hätte sie ihre Gedanken gelesen, sagte Nora: “Vor einigen Jahren hat die Stadtbibliothek diese Regale durch modernere aus Leichtmetall ersetzt.”

“Unglaublich”, hauchte Cassandra.

“Diese Regale sind ausgesprochen teuer, und die Stadt wollte sie nicht wegwerfen, also ließ man sie hierhertransportieren.”

Toby schob seinen Hut zurück, um besser an die Decke zu sehen. “Die Möbelpacker tun mir leid. Wieso haben sie sie ausgerechnet in den dritten Stock getragen? Und wie haben sie sie durch die Tür gekriegt?”

“Die Regale lassen sich auseinandernehmen. Es sind richtige Kunstwerke. Sie bestehen ausschließlich aus Holz, mit raffinierten Steckverbindungen. Da ist keine einzige Schraube aus Metall. Man hat sie hier aufgestellt, weil dieser Raum leichter zu säubern war. Hier standen keine schweren Maschinen, wie im zweiten Stock. Das Erdgeschoß und der erste Stock waren schon belegt. Genauso der Keller. Also blieb nur dieser Raum.”

“Lieber Himmel, sie sind wunderschön.” Cassandra war wie gelähmt vor Ehrfurcht. Das hier war die Essenz all dessen, was sie ein Leben lang gesucht hatte. Von Menschenhand gefertigte, uralte und majestätische Kunst. Magie, die mit bloßen Händen in dieses dunkle Holz hineingearbeitet worden war. Cassandra schritt zwischen diesen deckenhohen Kolossen einher und fühlte sich wie eine Elfe in einem Wald voller Mammutbäume.

Nora beobachtete Cassandra beim hinabschreiten der Bücherregale. Sah wie Cassandra diese dunkle und magische Stimmung in sich aufnahm. Sie drehte sich zu Toby und sagte: “Deine Freundin scheint was Besonderes zu sein.”

Tobys Wangen erröteten um eine Nuance. “Sie ist nicht meine Freundin”, sagte er. “Wenn ich ehrlich bin, kenne ich sie erst seit ein paar Stunden.”

“Wirklich?”

“Und ich glaube, dass sie wirklich etwas Besonderes ist.” Toby sagte das nicht schwärmerisch, sondern vollkommen nüchtern. “Die meisten mögen sie nicht. Sie ist ein Außenseiter.”

Von weiter hinten fragte Cassandra: “Diese Bücher, woher kommen die?”

Der Großteil der Mammutregale war leer, aber ganz hinten stand ein einzelnes Regal, etwa zur Hälfte abwärts gefüllt mit Büchern der unterschiedlichsten Art. Es mussten an die tausend Bände sein. Was nach viel klang, war im Bibliotheksmaßstab verschwindend gering. Diese Regale konnten zusammen hunderttausende von Büchern aufnehmen.

“Die habe ich gesammelt”, sagte Nora. “Das ist mein Projekt. Ich baue ein Bibliothek auf.”

“Hast du keine Angst, dass man dir das verbietet?”, fragte Cassandra. “Was wenn die Stadt entscheidet, die Räume anderweitig zu nutzen?”

“Das wird sie nicht. Mrs Thorne hat die volle Entscheidungsgewalt über diese Räume. Wenn sie in Rente geht, übernimmt Mrs Yuill ihren Posten, und die”, stellte Nora fest, „geht nächstes Jahr in Rente.”

“Und dann bist du an der Reihe”, schloss Cassandra.

“Ganz genau.”

“Und wissen das deine Kolleginnen?”, fragte Toby.

“Das tun sie. Sie helfen mir, die Bücher zu besorgen.”

Cassandra strich mit den Fingern über die Buchrücken, die sich in der dunklen Obhut der Regale verloren. Viele der eingeprägten Titel waren ihr vollkommen unbekannt. Titel wie: Souvenirs fantastiques et nouveaux souvenirs oder Le labyrinthe oder Nadja. Viele der Bücher waren in Leder gebunden. Moderne, aber teure Ausgaben. Sie suchte nach bekannten Titeln und lachte kurz auf, als sie schließlich einen fand: The Romance of the Forest von Ann Radcliffe. Cassandra hatte keines ihrer Bücher gelesen, aber sie wusste, dass Ann Radcliffe in Bath zur Schule gegangen war, das etwa hundertfünfzig Kilometer von Brickrow entfernt lag.

“Willst du es ausleihen?”, fragte Nora, die Cassandras Reaktion bemerkt hatte.

“Ein anderes Mal vielleicht”, sagte Cassandra. “Ich schaue sie mir nur so gerne an.”

Ein Buch fiel ihr besonders auf. Es war in sehr dunkles, grünliches Kunstleder gebunden und mit goldener Prägeschrift versehen. Es hieß Der Traum des Stiers. Sie fand diesen Titel auf eine seltsame Weise verstörend.

“Darf ich es herausnehmen?”, fragte sie.

“Natürlich, schau es dir an.”

Cassandra zog es heraus und betrachtete den Umschlag. Ein Autor war nicht angegeben.

“Worum geht es?”, fragte Toby.

“Ich kenne es nicht. Der Titel klingt merkwürdig.”

“Schlag es auf”, schlug Nora vor. “Sieh nach, worum es geht.”

“Hast du es nicht gelesen?”

“Oh nein, ich habe die wenigsten gelesen. Es ist ja nicht so, dass ich nichts zu tun hätte.” Nora lächelte entwaffnend. “In meiner freien Zeit arbeite ich am Bestandsaufbau. Zum Lesen komme ich nur abends.”

Cassandra schlug das Buch auf. “Eigenartig.” Sie blätterte ein bisschen. Die Seiten knarzten. Vielleicht war das Buch doch älter als es aussah. “Es hat keinerlei bibliographische Angaben.”

“Und was heißt das?”, fragte Toby.

Nora erklärte es: “Die meisten Verlage drucken die wichtigsten bibliographischen Daten ab. Das Veröffentlichungsdatum, den Verlagsnamen, solche Dinge.”

“Aber hier ist noch nicht einmal der Autor angegeben”, sagte Cassandra.

“Und das ist ungewöhnlich”, schloss Nora. “Darf ich mal sehen?”

Cassandra reichte ihr das Buch.

“Ich kann mich nicht erinnern, von wem ich das habe.”

“Vielleicht ist es wertvoll?”, überlegte Toby.

Nora öffnete die Seiten und runzelte die Stirn.

“Was ist?”, fragte Toby. “Was steht drin?”

“Das kann ich dir auch nicht sagen.” Sie reichte ihm das Buch, damit er es selbst sehen konnte. Er drehte es richtigherum und betrachtete die Bilder auf der aufgeschlagenen Seite. Scheinbar war das kein Roman, sondern eine Art Bilderbuch. Allerdings erschloss sich ihm nicht, worum es in diesem Buch ging. Jede einzelne Seite dieses Werkes bestand aus Kritzeleien. Wirre und alptraumartige Skizzen zierten das Papier. Unmöglich zu sagen, was sie eigentlich darstellen sollten. Das erste Bild, das Toby ansah, wirkte auf ihn, als hätte ein geisteskranker Epileptiker eine Leinwand voll nasser Farbe zerschlitzt.

Er blätterte weiter.

Das nächste Bild, in schwarzer Tusche wie jedes Bild in diesem Buch, zeigte etwas, das aussah wie der orientalisch geschmückte Rücken einer Kobra, die sich gerade in Auflösung befand.

Ein Bild weiter sah Toby eine kuppelförmige Kathedrale zwischen vier äußerst krummen Türmen in wallendem Tuschenebel.

Toby blätterte und fand ein Bild, das einen schweren gepanzerten Stahlsarg zeigen mochte, voller Nieten, die Toby sonst nur von stählernen Brücken kannte. Am breiteren Ende des Sarges befand sich ein Sichtschlitz. Dahinter war es schwarz.

Toby schauderte. Eins noch, dann würde er das Buch schließen.

Das nächste Bild war seltsam. Es zeigte eine Handvoll Zähne in einer Schüssel aus schraffiertem Holz. Überall drum herum waren Tintenkleckse verspritzt worden, als hätte der Künstler schlampig gearbeitet. Trotzdem wirkte das Bild so plastisch, dass Toby das Gefühl hatte, diese Zähne in der Schüssel könnten klappern, wenn er das Buch schüttelte.

Wie in Trance hob er das Buch und schüttelte die Zähne heraus, die auf seinen Schuhen landeten. Sofort wurde er bleich. Schmerz schoss durch seine Beine, aber er konnte nicht schreien. Sie bissen! Oh mein Gott, sie bissen! Es war als würden die Zähne hunderte von Kilogramm wiegen. Sie fielen auf seine Füße und durchschlugen sie einfach. Sie durchschlugen seine weißen Schuhe wie Pistolenkugeln. Blut spritze auf.

Toby wurde schwindelig.

Es fühlte sich an, als steckten Eiszapfen in seinen Füßen. Überall um ihn herum hatten sich die weißen Zähne in den Kurzhaarteppich gebohrt. Oh Gott, ich darf die Füße nicht heben! Sie werden mich zerfleischen!

“Toby? Alles in Ordnung?” Cassandra riss ihn aus der Trance. Die Realität sprang an ihren Platz zurück. Schnell schaute Toby nach unten, sah aber keine Zähne auf dem Boden liegen. Auch nicht auf seinen Schuhen. Das Schwindelgefühl und der Schmerz waren wie abgeschaltet.

“Da war ein Haar zwischen den Seiten”, sagte Toby lahm. Er war bleich vor Schreck. Sie haben mich gebissen, gottverdammt!

Die beiden jungen Frauen sahen ihn in einer Mischung aus Misstrauen und Belustigung an. Keine von ihnen hatte die Zähne gesehen.

Tobys Adern tauten nur langsam auf. Er warf einen letzten Blick auf das Bild und war nicht überrascht, dass in der Schüssel keine Zähne mehr waren. Er ignorierte diesen Umstand und gab das Buch zurück an Cassandra. “Es ist ein Rätselbuch”, sagte er benommen.

“Was?”, fragte Cassandra verständnislos. Toby musste den Kopf schütteln, um seinen letzten Gedanken zu rekonstruieren.

“Ich sagte, das Buch ist ziemlich rätselhaft.”

Cassandra schob das Buch zurück ins Regal. Schließlich sagte Nora, die scheinbar nichts Merkwürdiges in diesem Buch bemerkt hatte: “Das ist bestimmt aus einem Kunstverlag. Experimentelles Malen oder etwas in der Art.”

Die Stimmung unter den drei Jugendlichen war ins Wanken geraten. Ein kurzer Moment der Verlegenheit stand zwischen den Drei, weil sie spürten, dass sich etwas verändert hatte.

“Wir sollten gehen”, schlug Toby vor. “Ich meine, wir sollten den Strom einschalten.” Dabei war er sich überhaupt nicht sicher, ob er das wollte. Immerhin ging hier etwas äußerst Merkwürdiges vor. Wenn ein Buch schon dermaßen spuken konnte, wozu war dann ein Computer fähig?

“Ich hole die Taschenlampe”, sagte Nora. Sie folgten ihr in den hinteren Teil des Raumes, wo eine weitere Überraschung auf sie wartete. Ein provisorisches Lager mit Matratze und Nachttisch. Der weiße Matratzenbezug lag in Falten. Auf dem Nachttisch stand ein Wecker und eine halbvolle Flasche Wasser.

“Du lebst hier?”, fragte Toby vollkommen baff.

“Natürlich nicht. Ich lebe mit meinen Eltern in einem Haus. Hier schlafe ich nur, wenn ich bis in den späten Abend arbeite. Manchmal sortiere ich nachts noch Bücher für die Bibliothek, da habe ich keine Lust mehr, nach Hause zu laufen.” Nora bückte sich und zog eine kleine Taschenlampe unter ihrem Kopfkissen hervor. Sie ließ sie einmal aufleuchten. “Folgt mir in den Keller”, sagte sie.

6

Sie liefen die Treppe hinab - diesmal mit einem umherspringenden Lichtkegel vor den Füßen - und erreichten eine schwere, graue Feuerschutztür, die so kompromisslos vor ihnen aufragte, wie die Tür zu einem Atombunker. Nora holte einen gewöhnlichen Schlüssel hervor, schloss sie auf und zog an der Klinke. Dabei drückte sie die Fersen auf den Boden und stemmte sich nach hinten wie ein Seilzieher. Toby griff sich die Türkante beim ersten schmalen Spalt und zog sie ganz auf.

“Puh”, sagte Nora, als die Tür aufschwang. “Wir lagern hier eine ganze Menge Kulturgut.” Sie leuchtete ins Dunkel. “Alle unersetzbaren historischen Dokumente lagern hier in feuerfesten Panzerschränken.” Sie leuchtete zur Demonstration die breiten Metallschränke an, die hier zwischen den Betonsäulen standen. Die Luft war kalt und ausgesprochen trocken. Sie fühlten es in der Nase und im Rachen.

Cassandra fühlte sich wie in einer Gruft, und im Grunde war es auch nichts anderes. Eine moderne Gruft, die nicht Menschenleichen enthielt, sondern Dokumentenleichen.

“Hier unten lagern auch Zweitexemplare der Zeitungen, die ihr oben gesehen habt”, erklärte Nora weiterhin, während sie tiefer in den höhlenartigen Raum gingen. “Da hinten ist der Elektroraum.”

Toby versuchte, dicht am Lichtkegel von Noras Taschenlampe zu bleiben. Er fühlte sich hier ausgesprochen unwohl. Dieser Keller war noch viel unheimlicher als die anderen Stockwerke. Selbst nach der schweißtreibenden Hitze, die draußen herrschte, war es hier nicht angenehm kühl, sondern regelrecht bedrohlich kalt. Die Luft stand senkrecht im Raum ohne den kleinsten Luftzug. Das Atmen fiel schwer, und überall um sie herum schien die Dunkelheit sie zu umkreisen und näher zu rücken, sobald Nora die Taschenlampe schwenkte. Wenn jetzt auch noch ein unheimliches Geräusch ertönte, würde Toby wahrscheinlich vor Schreck aufschreien. Aber da er es schon erwartete, ging der Schreck an ihm vorbei, als das Geräusch tatsächlich ertönte. Genau hinter ihnen klickte es.

Cassandra trat neben ihn und sagte vollkommen gelassen: “Die Tür ist ins Schloss gefallen.”

Ach ja, die verdammte Tür. Sie war so schwer, dass sie erst ins Schloss gefallen war, als sie den Raum schon zur Hälfte durchquert hatten.

Nur ist hoffentlich nichts durch diese Tür hereingekommen, bevor sie zufiel, sagte eine fiese Stimme in Tobys Kopf, und er zwang sie mit aller Kraft zu schweigen.

Nora schien von alldem nichts mitzubekommen. Wie eine hübsche Magd mit einer Laterne in der Hand plauderte sie munter weiter: “Eigentlich hätte ich vorsichtiger sein müssen. Es ist meine Schuld, dass der Strom ausgefallen ist. Ich habe oben in meinem Büro drei Ventilatoren angeschlossen. Ich dachte, ich könnte vielleicht eine Art Luftzirkulation herstellen. Die Sicherungen halten das im Allgemeinen aus, aber da habe ich den Computer von Mrs Thorne eingeschaltet und Kaffee aufgesetzt und naja... als ich mein Radio eingeschaltet habe, ist die Sicherung rausgeflogen.”

Sie erreichten die zweite Stahltür an der gegenüberliegenden Seite des Kellers. Ein Schild mit der Aufschrift

VORSICHT

STARKSTROM

war daran befestigt.

Cassandra wunderte sich über Noras Erklärung für den Stromausfall. “Müssten hier nicht getrennte Sicherungen sein? Die können doch nicht alle gleichzeitig ausfallen.”

Nora schloss die Tür auf. “Wir haben wirklich getrennte Sicherungen. Die Klimaanlage hier im Keller hängt an einer. Und das Gerät, das die Luft trocken hält an einer anderen. Der Kurzschluss betrifft nur die oberen Stockwerke.” Nora leuchtete in den Elektroraum hinein. “Wenn ich ehrlich bin, war ich noch nie hier drin. Es summt ganz merkwürdig.”

Cassandra stellte sich neben Nora und versuchte dem tanzenden Lichtkegel zu folgen. Sie sah dicke Kabelstränge, die zu komplizierten Schaltkästen führten, sie sah Back-Up-Festplatten und skelettartige Serverregale, und hunderte von kleinen grünen Lämpchen. Manche waren auch gelb oder rot. Und überall Summen. Die Härchen an Cassandras Armen stellten sich auf.

“Wie sollen wir den richtigen Sicherungskasten finden?”

“Wir schauen einfach mal. So viele können es ja nicht sein”, sagte Nora.

Sie fanden den Kasten nach einer Minute. Die Elektriker hatten alle Sicherungen beschriftet. Allerdings hatte Nora sich geirrt. Kein Mensch hängt vier Stockwerke mit Dutzenden von Stromleitungen an eine Sicherung. Beinahe jede Leitung hatte ihre eigene Sicherung, und die meisten davon waren rausgesprungen. Viele der kleinen Plastikschalter zeigten nach unten.

“Also das war ich bestimmt nicht”, sagte Nora.

“Glaubt ihr, jemand hat die absichtlich ausgeschaltet?” In Tobys Stimme lag eine Spur Nervosität.

“Das ist nicht möglich. Die Tür war abgeschlossen und ich habe alle Schlüssel.”

“Wahrscheinlich hat eines der Starkstromgeräte gesponnen. Bestimmt war es ein Stromstoß, oder etwas in der Art.” Cassandra hatte nur wenig Ahnung von Elektrik, aber sie glaubte ohnehin nicht an das, was sie gerade gesagt hatte. Vielmehr dachte sie: Jemand wollte es hier dunkel haben. Ob seine Tricks im Dunkeln besser funktionieren? Schließlich waren die Puppen damals verschwunden, als die Whitfield das Licht eingeschaltet hatte. Wie habe ich es eigentlich geschafft, dieses Ereignis so vollständig zu vergessen?

Cassandra hörte den anderen nicht mehr zu.

Worauf wird das im Endeffekt hinauslaufen? Wer verursacht das alles?, dachte sie.

(Das Auge, Comtessa. Denk an das Auge!)

Sie fühlte sich mulmig. Zum ersten Mal kam ihr in den Sinn, dass sie vielleicht persönlich bedroht wurde. Ihr ureigenes Selbst. Ihre körperliche Unversehrtheit.

Das ist was persönliches, Comtessa. Hier hat´s jemand auf dich abgesehen.

Aber wer?

(Der Stier mit den Augen einer Ziege)

Aber wieso?

... keine Antwort.

Eine unglaubliche, elementare Angst schlich sich in Cassandras Eingeweide. Sie hatte das alles als eine Art Horrorabenteuer gesehen, das sie zwar gruselte, aber auch amüsierte. Jetzt auf einmal diese dreiste Bedrohung ihres innersten Selbst zu spüren, war schrecklich.

Und was hatte Toby damit zu tun? Ich habe ihn doch gerade erst kennengelernt.

Das Aufflackern des Lichtes, riss Cassandra aus ihren Gedanken. Der Strom war wieder da, nachdem Nora alle Sicherungen nach oben geklappt hatte. Sie schirmten ihre Augen ab, und warteten, dass sie sich an das Licht gewöhnten. Ein paar Sekunden lang sagte niemand etwas, und Nora hatte Gelegenheit, sich ihre neuen Freunde genauer anzusehen.

Was Toby anging, fand Nora ihn auf eine pausbäckige Art attraktiv. Er war kein Frauenschwarm, aber nah dran. Wenn er drei oder vier Kilo abnahm, wäre seine Kinnpartie deutlich scharfkantiger und maskuliner. Und das würde seinen Marktwert enorm steigern. Allerdings hakte Nora ihn als zu jung für sich ab.

Im Vergleich zu ihm, spielte Cassandra in einer deutlich anderen Liga.

Die Frau ist schön wie schwarzer Schnee in einem russischen Märchen. Was würde ich dafür geben, im schonungslosen Neonlicht so auszusehen.

Nora hatte zuvor schon Cassandras dichte Präsenz gespürt, und im grellen Neonlicht, wurde diese Präsenz nicht im Ansatz gemindert. Cassandra schien Licht regelrecht zu absorbieren. Möglich, dass es am dunklen Haar lag, oder an dem Kleid, aber da existierte auch etwas anderes, nicht sichtbares. Vielleicht ihre Aura, wer weiß. Ihre Haut konnte es nicht sein, denn die war sehr hell und porenlos.

Ein weiteres beeindruckendes Merkmal, das Nora sofort auffiel, war Cassandras Mund. Er war symmetrisch, und die Mundwinkel knickten nach oben ab. Nora wusste nicht, dass Toby beinahe im selben Moment auf den gleichen Gedanken kam wie sie: Cassandra Moon hatte einen leichten Clownsmund. Was bei jedem anderen grotesk bedrohlich gewirkt hätte, verlieh Cassandra eine besondere Wirkung. Toby würde sie nicht benennen können, aber Nora dachte: Sie ist erhaben.

“Ist es die Nase?”, fragte Cassandra, die Noras Starren falsch interpretierte. “Die Leute starren mir immer auf die Nase.”

Nora senkte den Blick, aber dann lachte sie auf. “Tut mir leid.”

“Schon gut.” Cassandra lächelte. “Da wir jetzt Strom haben, würde ich gerne meine Recherche fortsetzen.”

7

“Setzt euch.” Nora schob einen dritten Stuhl an den Recherche-Computer. Sie tat das vollkommen selbstverständlich, als wären sie schon seit Jahren ein Team. Sie dachte nicht eine Sekunde daran, dass sie vielleicht nicht erwünscht war.

“Ich zeige euch die Suchmaske.”

Kindern der Neuzeit musste niemand die Bedienung einer Suchmaschine beibringen, und nach einem Blick auf die Suchmaske war Cassandra bereits am Tippen.

Parallel zur Recherche sprachen sie über ihre seltsamen Erlebnisse. Toby erzählte von den Zähnen, die ihn gebissen hatten, und Cassandra berichtete von ihrem ersten Besuch des Archivs und den merkwürdigen Puppen im zweiten Stock. Nach einer anfänglichen Skepsis - “Ihr nehmt mich doch auf den Arm?” - hatte Nora zugestehen müssen, dass sie sich auf all das keinen Reim machen konnte. Sie hatte in diesem Gebäude noch nie etwas Ungewöhnliches erlebt, und nebenbei gesagt in ganz Brickrow nicht, aber wenn sie wirklich Freunde werden wollten, würde sie ihnen einen gewissen Vertrauensbonus entgegenbringen müssen. Nicht weniger verlangte sie im Gegenzug von ihnen.

Die Recherche nahm Zeit in Anspruch, aber zum Schluss stießen sie auf folgende Ergebnisse:

Die Stadt Brickrow wurde nicht gegründet. Sie wuchs einfach zu dem heran, was sie heute war. Niemand wusste genau, wann in diesem Gebiet die ersten Bauernhöfe entstanden waren, aber im Jahre 1801 wurde das erste Mal von Brickrow als Town gesprochen. Zu dieser Zeit existierte die Brickrow Beyond-Tageszeitung noch nicht, sie wurde erst 1850 gegründet, aber diese Details würde Cassandra später im Grundbuch finden. Das meiste davon war für ihren Aufsatz ohnehin unerheblich. Ihr ging es nur um das Schulgebäude. Dieses wurde erst viel später im Jahre 1902 gebaut, lange nachdem ein findiger Geschäftsmann die Idee hatte, Baumwolle aus Indien zu importieren und sie in Brickrow weiterzuverarbeiten.

Der Anlass für den Bau der Schule waren natürlich die Kinder der zugewanderten Familien gewesen. Zwar ließen viele der ärmeren Arbeiter ihre Kinder lieber in den Fabriken schuften, statt sie zur Schule zu schicken, doch sorgte Brickrows Wohlstand schnell dafür, dass Kinderarbeit fast gänzlich ausstarb. Und hier wurde es interessant. Da die beiden damaligen reinen Jungenschulen Brickrows, die heute nicht mehr existierten, völlig überbelegt waren, beschloss die Stadt, eine weitere zu bauen, die groß genug war, alle Kinder aufzunehmen. Die beiden anderen Schulgebäude, noch aus Holz gebaut, wurden abgerissen, um Lagerhallen Platz zu machen. Der Architekt, den man mit der Planung und dem Bau der neuen Schule beauftragt hatte, hieß Anthony Coleman.

“Oha, klick mal ein paar Seiten vor”, sagte Nora.

“Wohin?”

“Es muss etwa 1930 gewesen sein. Dieser Anthony Coleman wollte damals ein Museum bauen, wenn ich mich recht erinnere.”

“Du kennst den?”, fragte Toby. Er selbst sah diesen Namen zum ersten Mal im Zusammenhang mit Brickrow.

“Er war der leitende Architekt im Rathaus. Das war zwischen 1890 und 1940. Genau weiß ich es nicht mehr.”

“Das ist eine ganze Menge Lesestoff”, sagte Cassandra, während sie klickte. “Über 15000 Zeitungsausgaben.”

“Was ist mit Volltextsuche?”, schlug Toby vor.

“Soweit sind wir noch nicht. Aber seinen Namen könnten wir indexiert haben.”

Cassandra tippte den Namen in die Suchmaske und bekam drei Zeitungsseiten als Ergebnis. Sie klickte auf die erste Seite und bekam die Ausgabe von 1902, die sie sich schon angesehen hatten. Sie klickte weiter, und bekam dafür eine Titelseite vom Oktober 1915. Darauf war ein großes Schwarzweiß-Foto abgebildet, das ein weißes viktorianisches Haus mit schwarzen Dachspitzen zeigte. Die langen schmalen Fenster waren ebenfalls schwarz und undurchsichtig. Durch die eigenartige Beleuchtung wirkte das Foto traumhaft entrückt, so als hätte der Fotograf einen Bildweißer benutzt, um den Eindruck eines nebligen Tagtraumes hervorzurufen.

“Westcott Manor”, sagte Cassandra.

“Schau, wie groß es wirkt. Das Bild muss verzerrt sein”, meinte Toby. “Wie unter Wasser.”

Es war nicht zu Übersehen. Der Fotograf hatte versucht, auf dem Foto die Schieflage des Hauses dadurch zu verstärken, dass er beim Fotografieren die Kamera vom Stativ genommen und es von schräg unten geknipst hatte. Dadurch wirkte das Westcott Manor grotesk in die Länge gezogen. Es schien auf den Betrachter hinabzuschauen wie eine große weiße Maske.

Cassandra überflog den dazugehörigen Artikel. “Westcott Manor wurde unter Leitung von Anthony Coleman gebaut.”

“Er muss eine Menge Ärger bekommen haben, als herauskam, dass er es auf schwimmendem Boden erbaut hatte”, vermutete Nora.

“Ganz im Gegenteil. Dieser Artikel ist recht ironisch gehalten. Hier steht, dass Coleman sogar einen kräftigen Händedruck vom Bürgermeister bekam für den Bau eines der bizarrsten Häuser der Stadt. Und für die Vertreibung des unbeliebtesten Bürgers Gregory Westcott.” Cassandra machte sich hastig Notizen. “Das ist echt gut. Das kommt in den Aufsatz.”

“Dass Mister Welling dir das mal abnimmt”, gab Toby zu bedenken.

Hinten im Büro sprang ein Drucker mit einem hydraulischen Jaulen an, und Cassandra klickte zur nächsten Seite. Eine Ausgabe vom März 1932. Es war nicht die Titelseite, sondern ein mittelgroßer Artikel von Seite zwei. Die Überschrift lautete: Kein Museum für Brickrow?

“Da ist eine Kurzbiographie Colemans.” Cassandra druckte auch diese Seite aus, dann überflog sie den Artikel. Sie fand heraus, dass Coleman nicht nur ein reicher Architekt war, sondern nebenbei auch ein Mäzen, der häufig aufs Festland reiste, um seiner Obsession nachzugehen.

“Was ist ein Mäzen?”, fragte Toby.

“Das ist jemand, der mit Geldgeschenken die Kunst oder die Forschung fördert. Oder auch andere Dinge”, erklärte Nora.

“In diesem Fall die Kunst”, sagte Cassandra.

“Verstehe. Und was haben die davon?”

Cassandra und Nora wollten gleichzeitig antworten und stockten beide. “Naja...”, sagte Nora. Cassandra warf einen Blick auf den Zeitungsartikel. “In Colemans Fall war Kunst wohl seine Obsession. Wenn ich das richtig verstehe, war er zur damaligen Zeit einer der größten Mäzen und Förderer von Museen. Er beschränkte sich nicht nur auf eine Kunstrichtung, sondern war von Kunst an sich besessen. Vom...”, sie suchte den richtigen Begriff im Text,” ...Schöpfungsprozess des menschlichen Geistes.”

“Das klingt ja sehr schräg”, fand Toby.

“Oh, es gibt viele solcher Menschen. Auch ich liebe die Kunst”, sagte Nora. Dann lachte sie. “Nur habe ich leider kein Geld, sie zu fördern.”

“Hier steht nirgendwo Colemans Geburtsdatum. Wie alt er wohl war?”, überlegte Cassandra.

“Neunzehnhundertzweiunddreißig?” Nora überschlug ein paar Zahlen in Gedanken. “Wenn er fünfzig Jahre lang im Rathaus gearbeitet hat, dann schätze ich, dass er 1932 an die siebzig gewesen sein muss. Wenn nicht älter.”

“Und dann plant er noch den Bau eines Museums?”, zweifelte Toby.

“Nicht nur das. Er reiste auch noch fleißig in Europa herum und suchte nach neuen Künstlern und Projekten, die er fördern konnte. Von einem bestimmten Künstler war er ganz besonders angetan. Leider wird sein Name nicht erwähnt.”

Tja, Comtessa. Wie schade, oder? Jetzt hast du die Frage, aber dafür keine Antwort.

Cassandra versteifte sich.

Kann es sein...?

Sie schob den Gedanken schnell beiseite. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, sich dem Schock der Erkenntnis hinzugeben.

Recherchiere lieber weiter.

“Was ist aus dem geplanten Museum geworden?”, fragte Nora. Sie hätte es zwar selbst nachlesen können, aber Cassandra saß dichter am Bildschirm.

“Nichts. Der Bürgermeister hat den Bau abgelehnt. Die meisten großen Firmen waren pleitegegangen und die Stadt verarmte. Ein kostspieliges Museum muss das letzte gewesen sein, das die damals sehen wollten. Außerdem war der Bau des Gebäudes eine Sache, aber wer sollte das Museum mit Kunstschätzen füllen?”

“Hatte Coleman keine Privatsammlung?”

“Dazu steht hier nichts.”

“Wie ging es weiter?”, fragte Nora. “Was ist aus Coleman geworden?”

“Das war´s. Mehr steht hier nicht.” Cassandra suchte in den darauffolgenden Ausgaben, fand aber keine Artikel mehr zu Coleman oder seinen Projekten. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als die Suche zu beenden.

“Leute, ich weiß nicht wie´s euch geht, aber ich sterbe vor Hunger”, sagte Toby.

Nora warf einen Blick auf ihre winzige Armbanduhr. “Drei Uhr”, stellte sie fest. Und dann: “Mögt ihr Käsebrote?”

8

Wie sich herausstellte, war der kleine Nachttisch neben Noras Nachtlager oben in ihrer Titanenbibliothek in Wahrheit ein kleiner Kühlschrank. Sie hob das braune Deckchen und öffnete die kleine Tür. Er war randvoll gefüllt mit Käsebroten in Zellophanpapier und Diät-Cola.

Zu dritt fläzten sie sich auf Noras Bett und aßen die Käsebrote. Toby, der zwischen den beiden Mädchen saß, hätte nicht glücklicher sein können.

“Wir krümeln dir das ganze Bett voll”, sagte er, aber Nora winkte ab.

“Krümelt so viel ihr wollt.”

Während sie aßen und dabei schwatzten, vertraute Nora ihnen an, dass sie, abgesehen von ihren Eltern und ihren beiden Kolleginnen Mrs Thorne und Yuill, die einzigen Menschen waren, die von ihrem Bibliotheksprojekt wussten. Darum mussten sie in heiligem Ernst schwören, niemandem etwas darüber zu erzählen.

Nora hätte sich keine Sorgen um ihr Geheimnis machen müssen, denn allein Cassandras Mitwissen war bereits Versprechen genug. Ohne es preiszugeben, machte Cassandra sich bereits Gedanken darüber, wie sie Nora zu noch mehr Büchern verhelfen konnte, um diese Bibliothek zu einem wahren Behemoth zu machen. Nicht nur was die Größe anbetraf, sondern auch die Menge an Wissen und der darin enthaltenen Wunder. Eine verschwörerischere Persönlichkeit als sie, hätte Nora nicht finden können.

Zu dritt würden sie diese Bibliothek zu einem höherdimensionalen Bulk-Raum gestalten, bestehend aus Schichten unzähliger Branwelten voller Erzählungen und Abenteuer. Und in diesem Gedanken keimte ein kreativer Schöpfungsprozess heran, der in der Zukunft bereits Früchte trug. Kein metaphysischer Humbug, sondern ein Prozess, der tagtäglich vonstattenging, im Zuge einer jeden Vision eines jeden Bauplaners, Architekten, Künstlers und Wissenschaftlers.

Dass diese Tatsache Cassandra in den Augen eines bestimmten Wesens überaus interessant machte, wusste sie nicht. Was nicht bedeutete, dass ihr Unterbewusstsein keine vage Vermutung hegte...

Die Liebe zur Kunst und die Fähigkeit zur Transzendenz...

Cassandra klinkte sich aus. Monokonspirative Gedanken unterspülten ihren Kontakt zur Realität. Sie ließ sich nichts anmerken, aber ihr Verstand war nur noch mit diesen neuen Gedanken beschäftigt.

Liebe und Transzendenz... Wieso kam ihr das gerade jetzt in den Sinn? Was hatte ihr Unterbewusstsein da ausgegraben?

Sind wir wieder am Grübeln, Comtessa? Bohren wir wieder nach Angst und Schrecken?

Sei still! Hilf mir lieber.

Schön. Dann denk mal nach. Was sagte Nora vorhin am Computer?

Sie liebt die Kunst.

Genau.

Sie ist die Liebe zur Kunst?

Nur weiter.

Was bin dann ich? Die Transzendenz?

Bingo. Du mit deinen jenseitigen Anfällen. Was hast du gefühlt, als du diese alten Regale berührt hast?

Ich weiß es nicht. Ich sah Dinge...

So wie du immer Dinge siehst, wenn du mal wieder auf einem deiner Psychotrips bist.

Visionen. Es sind einfach nur Visionen. Viele Menschen haben das.

Ja, und viele Menschen sind verrückt.

Bin ich verrückt?

...

Bin ich verrückt?

...

Vielleicht ist das nicht wichtig. Liebe und Transzendenz. Die Bedeutung dieser beiden Konzepte ist im Moment wichtiger. Aber etwas fehlt noch, oder?

Ja, das dritte. Es sind doch immer drei. Es ist beinahe schon langweilig.

Toby fehlt. Das ist es. Aber wofür steht er?

Sag du es mir, Comtessa. Woran hast du als erstes gedacht, als du ihm begegnet bist.

Er wirkte harmlos.

Harmlos ist nicht das richtige Wort. Er ist nicht harmlos. Er steht auf dich.

Man könnte denken, dass er naiv ist. Er hat so eine Art. Mit seinen Lokomotiven und den bescheidenen Wünschen.

Es wird wärmer. Aber naiv ist er auch nicht.

Nein, er ist etwas anderes. Aber was?

Es wird oft mit Naivität und Bescheidenheit verwechselt. Denk nach. Es ist eines der verlorenen Gefühle.

Was soll das denn jetzt heißen?

Hey, ich kann dir nur erzählen, was du ohnehin schon weißt, also denk nach.

Verlorene Gefühle, verlorene Gefühle. Was für ein Quatsch. Er ist einfach zufrieden mit sich und seiner Umwelt.

Und was ist er nicht?

Er ist nicht arrogant.

Und was noch?

Er ist nicht hochmütig.

Und was ist das Gegenteil davon?

Demut!

Na endlich, Comtessa.

Toby steht für die Demut? Aber was bedeutet das?

Liebe führt zu Demut. Demut führt zu Transzendenz. Transzendenz führt zu...

...zu was? Was bedeutet das alles? Was hat das mit unseren Erlebnissen zu tun? Mit diesen Erscheinungen?

Vielleicht nichts, Comtessa. Vielleicht bist du wirklich nur verrückt.

Jemand sprach mit ihr, aber sie verstand die Worte nicht.

Eines der verlorenen Gefühle. Wenn Demut eines davon ist, was sind die anderen?

Sie wollte dieses Rätsel lösen, aber ihre Konzentration ließ nach.

“Erde an Cassandra! Hallo?” Toby schnippte ihr mit den Fingern vor dem Gesicht herum, wie ein Hypnotiseur, der sein Opfer nicht mehr wachkriegt.

Cassandra schüttelte den Kopf. Diese seltsamen Überlegungen waren eine Offenbarung gewesen, aber die Erkenntnis zerfaserte und verlor ihre Struktur.

“Ich war in Gedanken. Was sagtet ihr?”

“Wir versuchen diesen Erscheinungen auf den Grund zu gehen, aber wir sehen einfach keinen Zusammenhang”, sagte Toby. “Vielleicht bist du schlauer als wir.”

“Ganz bestimmt nicht”, sagte Cassandra müde.

“Wir glauben, dass du der Auslöser bist”, meinte Nora. “Mit dir hat alles angefangen, oder nicht?”

“Mit mir hat alles angefangen”, sinnierte Cassandra. Sie ließ die Worte auf der Zunge zergehen, um zu sehen, ob sie nach Wahrheit schmeckten.

“Ich habe noch nie etwas gesehen, bis ich dich getroffen habe. Das war vor vier Stunden und seitdem sah ich Würmer, Wrackteile, Zähne.” Toby zuckte die Schultern. Es sollte kein Vorwurf sein.

Dem konnte sie nicht widersprechen. Mit wem sollte es zu tun haben, wenn nicht mit ihr?

“Womit hat es angefangen?”, fragte Nora.

Mit dem Bild auf dem Hügel, wollte Cassandra antworten, aber das stimmte nicht. Angefangen hatte es mit den Puppen im zweiten Stock. Das war vor sechs Jahren gewesen und sie hatte das vollkommen verdrängt, aber war das wirklich der Anfang gewesen? Hatte es überhaupt einen? Einen zeitlichen Anfang? Cassandra glaubte, dass das die falsche Frage war. Die Zeit spielte hier eine untergeordnete Rolle. Hier ging es um etwas anderes. Es ging um Transzendenz, auch wenn ihr Verstand noch nicht in der Lage war, das richtig zu ergründen. Die Ursache zu ergründen.

“Es begann mit meinem Entschluss, Nachforschungen anzustellen. Glaube ich jedenfalls.”

“Für deinen Aufsatz? Das scheint mir ein recht trivialer Grund zu sein”, sagte Toby.

Statt Cassandra, antwortete Nora. “Der Aufsatz ist unwichtig. Es geht nur darum, dass du rumschnüffelst, wenn du mir den Ausdruck verzeihst.”

Cassandra richtete sich auf. Die Matratze war unbequem geworden, und ihr Rücken hatte sich verkrampft. “Ich denke nicht, dass mich jemand vom Recherchieren abhalten will. Ich glaube das Gegenteil ist der Fall. Ich war zu neugierig und jetzt ist jemand auf mich neugierig geworden.”

“Das muss nicht zwangsläufig schlimm sein, oder? Gut, ihr habt euch ein paar Mal erschreckt, aber passiert ist euch nichts. Ihr wurdet nicht verletzt.” Nora versuchte beruhigend zu klingen, aber Toby fand es nicht überzeugend. Neugier war nicht harmlos. Neugier konnte todbringend sein. Was wenn wir Insekten sind, und Cassandra hat die Aufmerksamkeit von etwas Großem auf uns gelenkt...?

“Leute, ich werde jetzt was Dummes sagen, und ich habe vollstes Verständnis dafür, wenn ihr über mich lacht. Nur lasst es euch einmal durch den Kopf gehen, bevor ihr mich auslacht.” Toby machte eine Pause und wartete auf Einspruch, aber Cassandra und Nora schwiegen. Darum fuhr er fort: “Glaubt ihr, dass es mit Anthony Coleman zu tun haben könnte? Ich meine, dass sein Geist vielleicht noch hier ist und spukt?”

Weder Cassandra noch Nora brachen in Gelächter aus. Sie dachten über Tobys Idee nach, aber nur Cassandra konnte dazu etwas sagen.

“Ich glaube nicht, dass wir es hier mit Geistern zu tun haben, um wessen Geist auch immer. Fragt mich nicht wieso, aber ich bin ziemlich sicher, dass dieses Ding, das mich beobachtet hat, mit einem Geist etwa so viel zu tun hat, wie Godzilla mit einem Gecko.”

“Und was tun wir dagegen? Warten, bis es das Interesse von alleine verliert?”

Darauf hatte niemand eine Antwort. Was sollten sie schon tun?

“Wie kamst du auf Anthony Coleman?”, fragte Nora.

Toby war sich da selbst nicht sicher. “Ich habe nur so eine Ahnung, dass es vielleicht mit ihm zu tun haben könnte. Er stand doch so auf Kunst, und diese Erscheinungen haben immer etwas Künstlerisches an sich.”

“Vielleicht verraten uns ja die Fotos mehr. Wir sollten sie holen gehen”, schlug Nora vor.

Sie fegten die Krümel beiseite und stellten die leeren Cola-Dosen weg.

9

Auf dem Weg zu Jorge Packards Gemischtwarenladen, in dem Cassandra ihren Fotofilm abgegeben hatte, schwirrte den drei neuen Freunden ein Geist namens Anthony Coleman durch den Kopf. War es möglich, das Toby recht hatte? Spukte in Brickrow ein Geist herum?

Nein, dachte Cassandra. Sie war davon überzeugt, dass es hier um mehr ging als nur um einen Menschen, egal ob lebendig oder tot. Die Ereignisse der letzten Tage deuteten in ihren Augen auf ein weit abstrakteres Problem hin. Etwas, das man nur im Geiste erfassen konnte, und ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren, um dieses Rätsel zu lösen. Es war nicht leicht, aber ihr Unterbewusstsein hatte ihr in der Bibliothek schon mal einen Ansatz geliefert, auch wenn sie nicht wusste, was sie damit anfangen sollte.

Als sie den Gemischtwarenladen erreichten, war keiner von ihnen um einen Deut schlauer.

Jorge Packard hatte seinen Platz an der Theke nicht verlassen. Seine Augen waren leer, seine runzligen Lippen feucht. Er sprach mit sich selbst. Seine Stimme zitterte und die Worte wanden sich wie kupferne Würmer aus seiner Kehle.

“...wenn er das Ganze ironischer aufgezogen hätte... das Klischee muss satirisch präsentiert werden... Innovation ist unabdingbar... Die Postmoderne...”, stellte Jorge fest, “ist tot, bevor sie geboren wird. Wie könnte er das ändern?”

Cassandra legte die Hände auf die Theke und beugte sich vor, um Jorge anzusprechen. “Ich habe hier einen Film zur Entwicklung gegeben.”

Feuchte graue Augen tanzten vor Cassandras Gesicht. Seltsam wie seine Augen nach einer Erinnerung suchten.

Er hat alles vergessen, dachte Cassandra. Galle rührte sich in ihrem Magen. Er hat den Film verschlampt. Hat ihn vollkommen aus dem Gedächtnis gelöscht.

“Ja”, sagte Jorge, dabei zog er dieses kurze Wort wie einen Kaugummi in die Länge. “Ein wirklich gutes Bild ist ein Buch für sich. Wenn du es auf die richtige Weise knipst, erzählt es dir eine eigene Geschichte. Schlechte Bilder zeigen dir nur Stasis. Da tut sich nichts, das Motiv ist tot. Sei vorsichtig, auf wen du deine Kamera richtest. Wenn du kein wirklich guter Fotograf bist, tötest du das Motiv. Nicht umsonst heißt es, ein Foto schießen.” Jorge Packard verstummte, und drei baffe Teenager sahen sich an.

“Und, bin ich gut?”, fragte Cassandra.

Aus Jorges Kehle platzte eine Lachblase. Ein trockenes Hehe drang aus seinem Mund. “Ich habe sie mir nicht angesehen. Zu unheimlich für mich. Viel zu unheimlich.”

Bevor sie sich über diese Aussage Gedanken machen konnte, holte Jorge einen Umschlag mit aufgedruckten Urlaubsmotiven unter der Theke hervor und schob ihn Cassandra zu.

Sie öffnete den Umschlag und warf einen flüchtigen Blick hinein. Es waren ihre Fotos. Die Brickrow Grammar School prangte auf dem vordersten Bild. Sie bezahlte die Fotos und wollte gehen, doch Jorge Packard hatte noch etwas zu sagen:

“Für die Kunst musst du leiden!”, krächzte er. “Und du wirst doch leiden, oder?”

Cassandra blieb auf der Schwelle stehen und sah zurück. Verwirrung stand in ihrem Gesicht. Es war sinnlos, etwas zu erwidern, weil der alte Mann bereits in anderen Sphären weilte, und wieder vor sich hinmurmelte.

Jorge Packard war verrückt. Und Verrückte reden Unsinn.

Sie verließ den Gemischtwarenladen (oder, wie sie ihn von jetzt an nennen würde: Jorge Packards Gehirnwäscheladen) und folgte Nora und Toby zum Springbrunnen.

Es war beinahe fünf. Die blockartigen Schatten der Häuser krochen über den gepflasterten Platz.

Sie setzten sich auf den flachen Brunnenrand, wo Cassandra den Umschlag öffnete und den Stapel Fotos herausnahm.

Was sie sah, ließ sie die Luft anhalten.

Nora, die gefasster blieb, sagte. “Das ist nicht das, was du fotografiert hast.”

Cassandra schüttelte den Kopf. Nein.

Das Foto zeigte das Westcott Manor. Es war das gleiche Bild wie in der Zeitung, nur in Farbe. Die weiße Holzfassade leuchtete geisterhaft im grünen Moornebel. Fast wie unter Wasser. Toby musste seine Fantasie nicht bemühen, um das Schalkhafte im leeren Blick der Fenster zu sehen.

Es ist eine Einladung, dachte er. Es grinst wie ein Wahnsinniger, der dich zu sich nach Hause einlädt.

Nora und Cassandra kamen zum gleichen Schluss. Es war ganz offensichtlich eine Einladung. Kommt doch zum Tee! Entspannt euch! Bleibt zum Sterben!

Schnell wechselte Cassandra zum nächsten Bild. Es war das gleiche wie zuvor.

Sie holte das nächste Bild hervor und ließ es beinahe fallen. Es zeigte sie selbst, wie sie oben auf dem Hügel stand und Brickrow fotografierte.

Das nächste zeigte sie und Toby im Wald. Sie sahen sich die Schienen an.

Das nächste zeigte ihren Weg zum Archiv.

Das nächste zeigte Nora.

Das nächste Cassandra, Toby und Nora...

Das nächste...

Das nächste...

Das nächste...

Sie ließ die Fotos in Tobys Hand fallen. Sie hatte genug gesehen. Für eine Weile schwiegen die Drei. Diese Situation war einfach zu absurd. Kein Grund zur Angst. Es war einfach zu absurd. Einfach absurd. Einfach...

Noras große Augen zwinkerten in dem Bemühen, Sinn aus den Bildern zu lesen. “Jemand anderes hat diese Fotos geschossen und sie dann mit deinen vertauscht. Was denkt ihr?”

“Wenn das wahr ist, wäre das nicht besser als unsere Spuktheorie.”

“Es wäre schlimmer”, sagte Cassandra. “Wenn ich die Wahl habe zwischen einem Psychopathen, der uns verfolgt und fotografiert, und einem dämlichen Geist, dann wähle ich den dämlichen Geist.”

“Und ein Verrückter kann uns keine Halluzinationen bescheren.”

Nora sah es ein. Kein Psychopath also.

“Leute...”, sagte Cassandra plötzlich. Sie hatte Toby die Bilder wieder abgenommen und sie durchgeblättert. Der Tonfall ihrer Stimme verhieß nichts Gutes. Sie betrachtete das erste Bild mit dem Westcott Manor darauf.

Nora und Toby beugten sich vor und sahen es ebenfalls.

“Die Tür war doch gerade eben noch geschlossen.” Nora nahm ihr das Foto aus der Hand. Die weiße Tür mit den schwarzen Fensterscheiben darin stand jetzt offen, als würde das Haus auf Gäste warten. Dahinter war es dunkel wie in einem Keller.

“Es will, dass wir zu ihm kommen”, sagte Nora.

“Ihr wollt doch nicht wirklich in ein solches Haus gehen?”

“Nein”, sagte Nora.

“Doch”, sagte Cassandra.

“Das meinst du doch nicht ernst?”

“Reg dich ab”, sagte Cassandra. “Was soll schon passieren?” Sie sprach ganz ruhig, aber in ihrem Inneren brodelte die Erregung.

“Entschuldige bitte, ich wäre gerne auf deiner Seite, aber er hat recht. Diese Dinge sind bizarr. Und wann ist etwas Bizarres auch jemals etwas Gutes? Schau dir die Bilder an. Und das Haus. Glaubst du, dass dort drin wirklich etwas auf uns wartet, das uns wohlgesonnen ist?”

Cassandra sah es ein, aber sie war auch stur. Toby und Nora verstanden einfach nicht, dass man selten die Gelegenheit bekam, ein Wunder zu sehen, und dann ist es einerlei, ob das Wunder nun gut oder schlecht ist, es ist einfach ein Wunder verdammt. So etwas ließ man sich nicht entgehen, weil man eine solche Gelegenheit unter Umständen nie wieder bekam.

Aber statt ihnen das zu sagen, schwieg Cassandra und zuckte nur die Schultern.

Toby sah, dass sie Cassandra auf der Kippe hatten und sagte: “Wir stimmen ab.” Er sah ihr und danach Nora in die Augen. “Ich weiß nicht, was ihr denkt, aber ich habe das Gefühl, dass wir in dieser Sache gleichberechtigt sein sollten.”

Nora stimmte zu, aber Cassandra blieb stumm. Ihre Augen klebten förmlich an dem Foto vom Westcott Manor. “Aber was, wenn die Visionen nicht aufhören?”, fragte sie.

Nora beugte sich zu ihr. Sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. “Willst du denn, dass die Visionen aufhören? Was, wenn wir da hineingehen und das Rätsel lösen? Was, wenn wir mit einem Schlag alle Mysterien zerstören? Wenn nur noch die alte langweilige Welt bleibt?”

Toby sah, wie es in Cassandra arbeitete. Nora hatte sie genau getroffen. Mit dem ersten Schuss mitten ins Herz. Er war beeindruckt.

“Möglicherweise...”, Cassandra senkte das Foto, “...hast du recht.”

Und damit war die Entscheidung gefallen.

Der Traum des Stiers

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