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O Christus, Herrscher und Meister der Welt, Dir weihe ich diese Stadt, die Dir untertan ist, dieses Szepter und die Macht Roms.

Inschrift auf der Konstantinsäule in Konstantinopel1

Das Streben des Islams nach der Eroberung dieser Stadt ist fast so alt wie der Islam selbst. Der Glaubenskrieg um Konstantinopel begann schon mit dem Propheten und wurzelt in einem Ereignis, dessen Wahrheitsgehalt wie so vieles in der Geschichte der Stadt nicht verifiziert werden kann.

Im Jahr 629 unternahm Herakleios, der »Selbstherrscher der Römer« und 28. Kaiser von Byzanz, zu Fuß eine Pilgerreise nach Jerusalem. Dies war der krönende Höhepunkt seines Lebens. Er hatte gegen die Perser mehrere eindrucksvolle Siege errungen und die bedeutendste Reliquie der Christenheit zurückgeholt, das sogenannte Heilige Kreuz, das er im Triumphzug wieder zur Grabeskirche überführte. Der islamischen Überlieferung zufolge wurde ihm ein Brief übergeben, als er in der Stadt ankam. Darin hieß es: »Im Namen Allahs, des Gütigsten und Barmherzigsten: Dieses Schreiben kommt von Mohammed, dem Sklaven Allahs, und seinem Apostel, und richtet sich an Herakleios, den Herrscher der Byzantiner. Friede sei mit jenen, die sich der göttlichen Führung beugen. Ich lade Dich ein, Dich Allah zu unterwerfen. Nimm den Islam an, und Allah wird Dir eine zweifache Belohnung zuteil werden lassen. Doch wenn Du diese Einladung zurückweist, wirst Du Dein Volk auf einen falschen Weg führen.«2 Herakleios kannte den Verfasser des Briefes nicht, doch er stellte Nachforschungen an, wie berichtet wurde, und tat das Schreiben anscheinend nicht in Bausch und Bogen ab. Ein ähnlicher Brief an den »König der Könige« in Persien war zerrissen worden. Mohammed quittierte diese Nachricht mit einer unverblümten Drohung: »Richtet ihm aus, dass sich meine Religion und meine Herrschaft weiter ausdehnen werden, als es das Königreich Chosraus jemals vermochte.«3 Für Chosrau war es mittlerweile zu spät – er war im Vorjahr mit Pfeilschüssen getötet worden –, aber das apokryphe Schreiben war eine Vorankündigung der Katastrophe, die über das christliche Byzanz und seine Hauptstadt Konstantinopel hereinbrechen und alles vernichten sollte, was der Kaiser geschaffen hatte.

In den vorhergehenden zehn Jahren war es Mohammed gelungen, die sich bekämpfenden Stämme auf der arabischen Halbinsel mithilfe der schlichten Botschaft des Islam zu einen. Motiviert durch das Wort Gottes und diszipliniert durch das gemeinschaftliche Gebet, wurden Gruppen nomadisierender Räuber in eine disziplinierte Kampftruppe verwandelt, deren Tatendrang nun nach außen gerichtet wurde, über den Rand der Wüste hinaus in eine Welt, die durch die Religion in zwei voneinander getrennte Bereiche geteilt wurde. Auf der einen Seite stand das Dar-al-Islam, das Haus des Islam, auf der anderen befanden sich jene Gebiete, die erst noch erobert werden mussten, das Dar al-Harb, das Haus des Krieges. Ab 630 tauchten muslimische Heere an den Grenzen des Byzantinischen Reiches auf, wo das besiedelte Land in Wüste überging, und sie wirkten wie Geister aus einem Sandsturm. Die Araber waren wendig, gut ausgerüstet und wagemutig. Sie überraschten die schwerfälligen Söldnerarmeen in Syrien. Sie griffen an, zogen sich schnell wieder in die Wüste zurück und lockten ihre Gegner aus ihren Festungen heraus, umzingelten und massakrierten sie. Sie durchquerten die unwirtlichen menschenleeren Wüstengebiete, töteten auf ihrem Marsch ihre Kamele und tranken das Wasser aus deren Mägen – und erschienen dann unerwartet im Rücken ihrer Feinde. Sie belagerten Städte und lernten, wie man sie eroberte. Zuerst fiel Damaskus, dann auch Jerusalem; Ägypten ergab sich 641, Armenien 653; im Laufe von zwanzig Jahren brach das persische Reich zusammen, und seine Bewohner nahmen den Islam an. Die Geschwindigkeit der Eroberungen war atemberaubend, die Anpassungsfähigkeit der Araber außergewöhnlich. Beflügelt durch das Wort Gottes und ihren Eroberungsdrang, bauten die Wüstenvölker in den Häfen Ägyptens und Palästinas mithilfe von Christen Schlachtschiffe, um »den Heiligen Krieg auf dem Meer zu führen«,4 nahmen 648 Zypern ein und besiegten 655 eine byzantinische Flotte in der so genannten »Schlacht der Masten«. Im Jahr 669 schließlich, 40 Jahre nach dem Tode des Propheten, sandte der Kalif Muawijja eine große See- und Landstreitmacht aus, um Konstantinopel einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Im Vertrauen auf die Dynamik der muslimischen Siegesserie erwartete er, dass er auch hier erfolgreich sein würde.

Für Muawijja war dies der Höhepunkt eines ehrgeizigen, seit langer Zeit verfolgten Plans, der sehr sorgfältig und gründlich ausgearbeitet und durchgeführt worden war. Im Jahr 669 besetzten arabische Armeen das asiatische Ufer gegenüber der Stadt. Im folgenden Jahr fuhr eine Flotte aus 400 Schiffen durch die Dardanellen und errichtete einen Stützpunkt auf der Halbinsel Kyzikos an der Südküste des Marmarameers. Dort wurden Vorräte angelegt, ein Trockendock gebaut und Versorgungseinrichtungen geschaffen, um einen Feldzug zu unterstützen, der so lange andauern sollte, bis die Stadt gefallen war. Nachdem die Muslime die Meerenge westlich der Stadt überquert hatten, setzten sie erstmals einen Fuß auf das europäische Ufer. Hier nahmen sie einen Hafen ein, von dem aus sie die Belagerung in die Wege leiten und im Hinterland der Stadt groß anlegte Raubzüge und Überfälle durchführen konnten. Die Verteidiger Konstantinopels verschanzten sich hinter ihren dicken Mauern, während ihre Flotte, die im Goldenen Horn vor Anker lag, Gegenschläge auf den Feind vorbereitete.

In den fünf Jahren von 674 bis 678 wiederholten die Araber ihre Angriffe immer nach demselben Muster. Zwischen Frühjahr und Herbst belagerten sie die Stadtmauern und unternahmen Marineoperationen in der Meerenge, bei denen es immer zu Zusammenstößen mit der byzantinischen Flotte kam. Auf beiden Seiten kam dieselbe Art von Rudergaleeren zum Einsatz, und auch die Mannschaften waren ebenbürtig, denn die Muslime hatten sich das seefahrerische Wissen der Christen aus der eroberten Levante angeeignet. Im Winter sammelten sich die Araber in ihrem Stützpunkt in Kyzikos, reparierten ihre Schiffe und bereiteten sich darauf vor, im folgenden Jahr die Schraube noch weiter anzuziehen. Sie richteten sich auf eine sehr lange Belagerung ein und waren überzeugt, dass ihnen der Sieg unausweichlich zufallen würde.

Doch 678 wagte die byzantinische Flotte einen entscheidenden Ausfall. Gegen Ende der jährlichen Kampfsaison griff sie die muslimischen Schiffe an, wahrscheinlich in deren Stützpunkt in Kyzikos – die Einzelheiten sind entweder unklar oder wurden absichtlich unterdrückt – und schickte dabei ein Geschwader schneller Dromones ins Gefecht, leichte, wendige Kriegsschiffe, die mit mehr als 200 Ruderern besetzt waren. Es gibt keine zeitgenössischen Berichte, doch der Ablauf des Gefechts lässt sich aus späteren Darstellungen rekonstruieren. Als die angreifenden Schiffe nahe an ihre Gegner herangekommen waren, schleuderten sie nach dem üblichen Pfeilhagel mithilfe von Katapulten, die am Bug montiert waren, einen Strom flüssigen Feuers gegen sie. Feuerfetzen legten sich auf das Wasser zwischen den dicht zusammengedrängten Schiffen, sprangen auf die feindlichen Schiffe über, stürzten auf sie herab und fuhren »wie ein Feuerstrahl mitten durch sie hindurch«.5 Die Explosionen des Feuers wurden vom donnerartigem Getöse begleitet; Rauch verdunkelte den Himmel, und Dampf und Gas erstickten die verängstigten Seeleute auf den arabischen Kriegsschiffen. Der Feuersturm schien die Gesetze der Natur auf den Kopf zu stellen: Er konnte vom Angreifer zur Seite oder nach unten und in jede beliebige Richtung gelenkt werden; wo er die Oberfläche des Meeres berührte, entzündete sich das Wasser. Er besaß anscheinend auch eine klebende Eigenschaft, er haftete an den hölzernen Schiffsrümpfen und Masten und ließ sich nicht mehr ablösen, sodass die Schiffe und ihre Besatzung schnell von einem auflodernden Feuerschwall verschlungen wurden, der wie der Ausbruch eines zornigen Gottes erschien. In diesem unerhörten Inferno »verbrannten die Schiffe der Araber und ihre Besatzungen bei lebendigem Leibe«.6 Die Flotte wurde vernichtet, die traumatisierten Überlebenden hoben die Belagerung auf und segelten nach Hause, »nachdem sie viele Kämpfer verloren und großen Schaden erlitten hatten«.7 In einem Wintersturm gingen die meisten der verbliebenen arabischen Schiffe unter, während die arabische Armee auf dem asiatischen Ufer in einen Hinterhalt geriet und aufgerieben wurde. Entmutigt erklärte sich Muawijja 679 zu einem dreißigjährigen Friedensvertrag zu sehr ungünstigen Bedingungen bereit und starb im folgenden Jahr als gebrochener Mann. Zum ersten Mal hatten die Muslime einen größeren Rückschlag erlitten.

Die Chronisten betrachteten dieses Ereignis als Beweis dafür, dass sich das Rhomäer-Reich »Gottes Beistand«8 erfreue, doch in Wirklichkeit war es durch eine neuartige Technik gerettet worden: die Erfindung des so genannten griechischen Feuers. Die Geschichte dieser außergewöhnlichen Waffe ist bis heute umstritten – die Formel wurde von den Byzantinern als Staatsgeheimnis gehütet. Vermutlich kam ungefähr zur Zeit der Belagerung ein griechischer Flüchtling namens Kallinikos aus Syrien nach Konstantinopel und brachte eine Technik mit, die darin bestand, flüssiges Feuer mittels Druckspritzen abzuschießen. Dabei stützte er sich wahrscheinlich auf andere Methoden des Einsatzes von Feuer zu Kriegszwecken, die im Nahen Osten bereits weit verbreitet waren. Hauptbestandteil der Mischung war mit großer Wahrscheinlichkeit Erdöl aus natürlichen oberirdischen Quellen am Schwarzen Meer, das mit zerstoßenem Harz vermischt wurde, was ihm eine haftende Eigenschaft verlieh. In den geheimen Militärarsenalen der Stadt wurden während der Belagerung vermutlich die Katapulte für dieses Material verbessert. Die Byzantiner, die die technischen Errungenschaften des Römischen Reiches weiter gepflegt hatten, entwickelten eine Technik, die es ermöglichte, die Mixtur in verschlossenen Bronzebehältern zu erhitzen, sie mittels einer Handpumpe zu komprimieren und dann durch ein Rohr abzufeuern, in dem die Flüssigkeit durch einen Brandsatz entzündet wurde. Um auf einem hölzernen Schiff mit entflammbarem Material, Druck und Feuer sicher umzugehen, bedurfte es hoch qualifizierter Leute, und darin bestand das eigentliche Geheimnis des griechischen Feuers, das 678 die Kampfmoral der Araber brach.

Vierzig Jahre lang ärgerte die Omajjaden-Dynastie in Damaskus der Rückschlag bei Konstantinopel. Für die islamischen Theologen blieb es unverständlich, dass sich die Menschheit nicht beizeiten dazu bereit gefunden hatte, den Islam anzunehmen oder sich der muslimischen Herrschaft zu unterwerfen. Im Jahr 717 wurde ein zweiter, noch entschlossener Versuch unternommen, das Bollwerk zu erstürmen, das einer Ausbreitung des Glaubens nach Europa im Wege stand. Der Angriff der Araber erfolgte zu einer Zeit, als das Byzantinische Reich in Bedrängnis war. Am 25. März 717 war mit Leo II. ein neuer Kaiser gekrönt worden; fünf Monate später sah dieser sich einer Streitmacht von 80.000 Mann gegenüber, die sich entlang der Landmauer eingegraben hatte, und einer Flotte von 1800 Schiffen, die die Meerenge unter ihre Kontrolle gebracht hatte. Die Araber hatten aus der vorangegangenen Belagerung gelernt und ihre Strategie verbessert. Der muslimische General Maslama hatte schnell erkannt, dass man den Mauern der Stadt mit herkömmlichen Belagerungsmaschinen nicht beikommen konnte; folglich sollte diesmal eine totale Blockade verhängt werden, um die Stadt auszuhungern. Dass es ihm mit seiner Absicht ernst war, unterstrich die Tatsache, dass seine Armee Weizensamen mitbrachte. Im Herbst 717 pflügten die Araber den Boden vor den Stadtmauern um und legten Weizenfelder an, die sie im nächsten Sommer abernten wollten, um sich Nahrung zu verschaffen. Dann richteten sie sich häuslich ein und warteten. Ein Vorstoß griechischer Feuerschiffe hatte einen gewissen Erfolg, konnte den Belagerungsring aber nicht sprengen. Alles war überaus sorgfältig geplant worden, um die Ungläubigen in die Knie zu zwingen.

Am Ende jedoch erwartete die Araber eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes, die unerbittlich über sie hereinbrach. Nach Darstellung ihrer eigenen Chronisten gelang es Leo, seine Feinde durch ein raffiniertes diplomatisches Doppelspiel zu täuschen, das selbst nach den Maßstäben der Byzantiner wahrhaft bewunderungswürdig war. Er ließ Maslama ausrichten, dass die Stadt zur Kapitulation bereit sei, wenn die Araber ihre Lager mit Nahrungsvorräten zerstörten und den Verteidigern Getreide zukommen ließen. Nachdem dies geschehen war, verschanzte sich Leo hinter den Mauern und verweigerte weitere Verhandlungen. Dann brach über die getäuschte arabische Armee ein strenger Winter herein, auf den sie nicht vorbereitet war. Der Boden war hundert Tage lang von Schnee bedeckt; viele Kamele und Pferde erfroren. Den Soldaten, die zunehmend von Verzweiflung erfasst wurden, blieb nichts anders übrig, als die Kadaver zu essen. Die griechischen Chronisten, die nicht gerade für ihre Objektivität bekannt waren, berichteten von noch schauderhafteren Dingen. »Einige berichten«, schrieb Theophanes der Bekenner hundert Jahre später, »dass sie auch Leichen, ja sogar ihre eigenen Exkremente in den Backofen warfen, einpökelten und verzehrten.«9 Dem Hunger folgten Krankheiten; Tausende Soldaten erfroren. Die Araber hatten keine Erfahrung mit den strengen Wintern am Bosporus: Der Boden war zu hart, um Tote zu beerdigen; Hunderte Leichen mussten ins Meer geworfen werden.

Im folgenden Frühjahr erschien eine große arabische Flotte mit Nachschub und Material, um der bedrängten Armee zu Hilfe zu kommen, aber auch sie konnte das Blatt nicht wenden. Da sie vor dem gefährlichen griechischen Feuer gewarnt worden waren, entluden und versteckten die Araber ihre Schiffe an der asiatischen Küste. Doch dann liefen einige Besatzungsmitglieder, die ägyptische Christen waren, zum Kaiser über und verrieten den Byzantinern die Position der Schiffe. Eine Gruppe von Feuerschiffen fiel über die unvorbereiteten arabischen Schiffe her und vernichtete sie. Eine zur selben Zeit von Syrien aus in Marsch gesetzte Truppe geriet in einen Hinterhalt und wurde von der byzantinischen Infanterie aufgerieben. Unterdessen hatte sich der unbeugsame und listenreiche Leo mit den nichtchristlichen Bulgaren verständigt. Er brachte sie dazu, die Ungläubigen vor den Mauern anzugreifen; in der folgenden Schlacht wurden 22.000 Araber getötet. Am 15. August 718, fast ein Jahr nach ihrer Ankunft, hoben die Armeen des Kalifen die Belagerung auf und zogen sich über das Land und das Meer zurück. Während sich die abziehenden Soldaten im anatolischen Hochland wiederholter Angriffe erwehren mussten, hatten die Muslime noch weitere Rückschläge zu verkraften. Im Marmarameer gingen mehrere Schiffe bei Stürmen unter; die übrigen wurden durch einen unterseeischen Vulkanausbruch in der Ägäis vernichtet, der so heftig war, »dass das Meerwasser zu brodeln begann und das Pech, mit dem die Schiffe gedichtet waren, erweichte, sodass alle Schiffe samt Besatzungen in der Tiefe versanken«.10 Von der gewaltigen Flotte, die dereinst ausgelaufen war, kehrten nur fünf Schiffe nach Syrien zurück, »um die Macht Gottes zu verkünden«.11 Byzanz hatte unter dem Ansturm des Islam gewankt, war aber nicht gefallen. Konstantinopel hatte überlebt mittels einer Verbindung aus technischer Innovation, diplomatischem Geschick, individueller Meisterleistungen, massiver Befestigungsanlagen – und nicht zuletzt auch Glück. Die Byzantiner hatten dafür jedoch erwartungsgemäß eine eigene Erklärung und glaubten, »dass Gott und die allerheiligste Jungfrau, die Gottesmutter, diese Hauptstadt und das Kaiserreich der Christen beschützen, und dass er nicht völlig verlässt, die ihn in Wahrheit anrufen, mögen wir auch wegen unserer Sünden auf kurze Zeit gezüchtigt werden«.12

Dass es dem Islam 717 nicht gelang, die Stadt einzunehmen, hatte weitreichende Folgen. Der Zusammenbruch Konstantinopels hätte den Weg geebnet für einen muslimischen Vorstoß nach Europa, der die künftige Entwicklung des Abendlandes maßgeblich beeinflusst hätte; dies bleibt eine der großen »Was wäre gewesen, wenn«-Fragen der Geschichte. Somit wurde der erste entschlossene Angriff des islamischen Dschihad abgewehrt, der fünfzehn Jahre später auf der anderen Seite des Mittelmeers einen Höhepunkt erreichte: Eine muslimische Streitmacht stand 250 Kilometer südlich von Paris, doch sie wurde am Ufer der Loire geschlagen.

Für den Islam hatte die Niederlage vor Konstantinopel mehr eine theologische als eine militärische Bedeutung. In den ersten Jahrzehnten nach seiner Entstehung besaß der Islam wenig Grund, daran zu zweifeln, dass der wahre Glauben am Ende den Sieg davontragen werde. Das Gesetz des Heiligen Krieges erzwang die fortgesetzte Expansion. Doch vor den Mauern Konstantinopels war der Islam von einem Spiegelbild seiner selbst zurückgeworfen worden; das Christentum war eine konkurrierende monotheistische Religion mit einem ähnlichen Sendungsbewusstsein und demselben Drang, Andersgläubige zu bekehren. Konstantinopel hatte die Frontlinie festgelegt in einem langwierigen Kampf zwischen zwei nahe verwandten Ausprägungen der Wahrheit, der noch mehrere Jahrhunderte fortgeführt werden sollte. Vorerst jedoch mussten die muslimischen Denker anerkennen, dass sich eine Veränderung im Verhältnis zwischen dem Haus des Islam und dem Haus des Krieges vollzogen hatte; die endgültige Unterwerfung der nichtislamischen Welt musste verschoben werden, vielleicht bis ans Ende der Zeiten. Einige Rechtsgelehrte konstruierten einen dritten Bereich, das Haus des Waffenstillstands, um eine Bezeichnung zu finden für die Verschiebung des Endsieges auf unbestimmt Zeit. Die Epoche der Glaubenskriege schien vorüber zu sein.

Byzanz hatte sich als bislang hartnäckigster Gegner erwiesen, und Konstantinopel blieb für die Muslime eine schwärende Wunde wie auch weiterhin ein Ziel tiefer Sehnsucht. Viele Märtyrer waren vor seinen Mauern gestorben, darunter auch Ajjub, der Bannerträger des Propheten, der 669 im Gefecht fiel. Durch ihren Tod wurde die Stadt zu einem heiligen Ort für den Islam, und ihrer Eroberung wurde fürderhin eine geradezu messianische Bedeutung beigemessen. Durch die Belagerungen entstand ein reicher Schatz an Mythen und Legenden, der über Jahrhunderte weitergegeben wurde. Dazu gehörten auch die Hadithe, eine Sammlung von Überlieferungen über Mohammed, und die Prophezeiungen, die von Niederlagen und Tod kündeten, denen schließlich der Sieg der Glaubenskrieger folgen werde: »Im heiligen Krieg gegen Konstantinopel wird sich ein Drittel der Muslime ergeben, was Allah nicht verzeihen kann; ein Drittel wird in der Schlacht getötet werden, was sie zu wundersamen Märtyrern machen wird; und das letzte Drittel wird den Sieg erringen.«13 Es war ein Kampf, der in historischen Dimensionen ausgetragen werden sollte. Die Architektur des Konflikts zwischen dem Islam und Byzanz war so weitgespannt, dass in den folgenden 650 Jahren keine muslimischen Banner mehr vor den Stadtmauern aufgezogen werden sollten – eine längere Zeitspanne als jene, die uns heute von 1453 trennt –, doch die Prophezeiung hatte verheißen, dass sie eines Tages zurückkehren würden.


Konstantinopel, erbaut an jener Stelle, wo der sagenumwobene thrakische König Byzas bereits tausend Jahre vorher eine Siedlung gegründet hatte, war schon 400 Jahre eine christliche Stadt, als Maslamas Truppen den Rückzug antraten. Der Ort, den Kaiser Konstantin im Jahr 324 zu seiner neuen Hauptstadt bestimmte, verfügte über beträchtliche natürliche Vorteile. Nach dem Bau der Landmauer im 5. Jahrhundert war die Stadt praktisch unverwundbar, solange sich die Belagerungstechnik auf den Einsatz von Katapulten beschränkte. Innerhalb der Mauern, die eine Länge von neunzehn Kilometern hatten, entwickelte sich Konstantinopel auf mehreren steilen Hängen, die natürliche Aussichtspunkte über die umgebenden Gewässer darstellten, während an der Ostseite die Bucht des Goldenen Horns, die wie ein gebogenes Geweih aussieht, einen sicheren Hochseehafen bot. Den einzigen Nachteil bildete die Trockenheit des Vorgebirges, ein Problem, das die römischen Wasserbauingenieure mittels eines ausgeklügelten Systems von Aquädukten und Zisternen zu beheben suchten.

Der Ort lag ideal am Schnittpunkt von Handelswegen und Militärstraßen; auch die Geschichte der früheren Siedlung hallte wider vom Klang marschierender Stiefel und ins Wasser eintauchender Ruder: Jason und die Argonauten fuhren hier vorüber auf ihrer Suche nach dem Goldenen Vlies; der persische König Darios marschierte im Krieg gegen die Skythen mit 700.000 Soldaten über eine Brücke aus Booten; der römische Dichter Ovid blickte auf seinem Weg in die Verbannung am Schwarzen Meer wehmütig auf »das mächtige Tor zwischen dem doppelten Meer«.14 An diesem Knotenpunkt schöpfte die christliche Stadt Reichtum aus einem ausgedehnten Hinterland. Im Osten konnten die Schätze Zentralasiens über den Bosporus zur Kaiserstadt geschafft werden: das Gold der Barbaren, Pelze und Sklaven aus Russland, Kaviar vom Schwarzen Meer, Wachs und Salz, Gewürze, Elfenbein, Bernstein und Perlen aus dem Fernen Osten. Im Süden führten Straßen zu den Städten des Mittleren Ostens – Damaskus, Aleppo und Bagdad –, und im Westen erschlossen die Schifffahrtsstraßen durch die Dardanellen das gesamte Mittelmeer: Ägypten und das Nildelta, die reichen Inseln Sizilien und Kreta, die italienische Halbinsel und alles, was jenseits der Straße von Gibraltar lag. Näher waren das Holz, der Kalkstein und der Marmor, die zum Bau einer herrschaftlichen Stadt verwendet werden konnten, und all die Mittel, die zu ihrer Erhaltung benötigt wurden. Die Meeresströmungen im Bosporus boten reiche Fischgründe, während auf den Feldern des europäischen Thrakien und im fruchtbaren Tiefland der anatolischen Hochebene Olivenöl, Getreide und Wein im Überfluss erzeugt wurden.

Die wohlhabende Stadt, die an diesem Ort entstand, war ein Ausdruck imperialer Größe, regiert von einem römischen Kaiser und bewohnt von griechischsprachigen Menschen. Konstantin ließ ein Netz von Straßen anlegen, die mit Kolonnaden versehen waren, flankiert von öffentlichen Gebäuden mit Säulenvorhallen, großen Plätzen, Gärten, Säulen und Triumphbögen sowohl heidnischer als auch christlicher Herkunft. Es gab Statuen und Denkmale, die von den klassischen Stätten geraubt worden waren (darunter die legendären Bronzepferde, die der griechische Bildhauer Lysippos wahrscheinlich für Alexander den Großen angefertigt hatte und die heute ein Wahrzeichen Venedigs sind), ein Hippodrom, das jenem in Rom nicht nachstand, kaiserliche Paläste und Kirchen »zahlreicher als die Tage eines Jahres«.15 Konstantinopel wurde eine Stadt des Marmors und des Porphyr, des geschlagenen Goldes und der prunkvollen Mosaiken, und es zählte in seiner Glanzzeit 500.000 Einwohner. Konstantinopel verblüffte die Besucher, die hierher kamen, um Handel zu treiben oder den oströmischen Kaisern ihre Referenz zu erweisen. Die Barbaren aus dem finsteren Europa bestaunten offenen Mundes »die Stadt, von der alle Welt träumt«.16 Der Bericht des Chronisten Fulcher von Chartres, der im 11. Jahrhundert nach Konstantinopel kam, drückt aus, was viele Besucher im Lauf der Jahrhunderte empfunden haben: »O was für eine herrliche Stadt, wie majestätisch, wie schön! Wie groß ist die Zahl ihrer Klöster, die sie birgt, wie viele Paläste sind an ihren Hauptstraßen und Gassen in lauter Arbeit errichtet worden, wie viele wunderbare Kunstwerke gibt es da zu schauen! Es wäre ermüdend, die Fülle all der guten Dinge aufzuzählen, die Werke aus Gold und Silber, der mannigfachen Gewänder und heiligen Reliquien. Unablässig laufen Schiffe im Hafen ein, und es gibt nichts, was Menschen begehren, das nicht dahin gebracht würde.«17

Byzanz war nicht nur die letzte Erbin des Römischen Reiches, sondern auch die erste christliche Nation. Von ihrer Gründung an wurde die Hauptstadt als eine Nachbildung des Himmels verstanden, als eine Manifestation des Triumphes Christi, und der Kaiser galt als Gottes Stellvertreter auf Erden. Der christliche Glaube war überall sichtbar und spürbar: in den erhabenen Kuppeln der Kirchen, dem Glockenläuten und dem Schlagen der hölzernen Gongs, in den Klöstern, der großen Zahl von Mönchen und Nonnen, der endlosen Aneinanderreihung von Heiligenbildern an den Straßen und Mauern, den unablässigen Andachten und christlichen Zeremonien, an denen die frommen Bürger und der Kaiser teilnahmen. Fastenzeiten, kirchliche Festtage und Nachtwachen bestimmten den Kalender, den Zeitablauf und den Rhythmus des Lebens. Die Stadt wurde zum Sammelplatz der Reliquien der Christenheit, die man aus dem Heiligen Land herbeischaffte, und sie wurde neidvoll beäugt von den Christen im Abendland. Hier befanden sich das Haupt von Johannes dem Täufer, die Dornenkrone, die Nägel vom Kreuz Christi und der Grabstein, die sterblichen Überreste der Apostel und tausend weitere, Wunder wirkende Artefakte, verwahrt in goldenen und juwelenbesetzten Reliquiaren. Der orthodoxe Glaube berührte die Menschen emotional sehr tief durch die intensiven Farben seiner Mosaiken und Heiligenbilder, die geheimnisvolle Schönheit seiner Liturgie, die in dunklen, von wenigen Lampen erhellten Kirchen zelebriert wurde, den Weihrauch und das aufwändige Zeremoniell, das die Kirche und den Kaiser gleichermaßen umfing in einem Labyrinth prunkvoller Rituale, die darauf zielten, die Sinne zu bezaubern mit ihren auf das Himmelreich anspielenden Metaphern. Ein russischer Besucher, der 1391 eine Kaiserkrönung miterlebte, war erstaunt darüber, wie langsam das festliche Ereignis vonstatten ging:

Die Sänger stimmten einen unbeschreiblich schönen Gesang an. Der kaiserliche Festzug bewegte sich so langsam fort, dass er drei Stunden brauchte, um von der großen Pforte bis zum Thron zu gelangen. Zwölf Bewaffnete, von Kopf bis Fuß in Eisen gehüllt, umgaben den Kaiser. Vor ihm schritten zwei schwarzhaarige Bannerträger; die Stangen ihrer Fahnen, ihre Kleider und Hüte waren rot. Vor diesen Bannerträgern gingen Herolde mit silberbeschlagenen Stäben... Auf den Thron steigend, bekleidete sich der Kaiser mit dem kaiserlichen Purpur und bedeckte sich mit dem kaiserlichen Diadem und der Zinnenkrone... Darauf begann die heilige Liturgie... Wer vermag die Schönheit von alldem zu beschreiben!18

Fest verankert wie ein mächtiges Schiff lag im Zentrum der Stadt die Sophienkirche, die Justinian in nur sechs Jahren hatte erbauen lassen und die 537 eingeweiht worden war. Sie war das eindrucksvollste Bauwerk der Spätantike, ein Gebäude, dessen pompöse Dimensionen sich mit entsprechendem Glanz verbanden. Die große, frei tragende Kuppel erschien den Menschen der Zeit geradezu als Wunder. Man habe den Eindruck, schrieb Prokop, »dass sie nicht auf festen Grundmauern zu ruhen scheint, sondern als überdecke sie den Raum unter sich wie an der sagenhaften goldenen Kette am Himmel aufgehängt«.19 Sie war so imposant, dass es Betrachtern, die sie zum ersten Mal sahen, die Sprache verschlug. Die Decke, die über eine Fläche von 120 Quadratmetern mit goldenen Mosaiksteinchen überzogen war, wirkte überwältigend, wie Paulos Silentiarios berichtete: »Funkelnder Goldglanz flutet von ihnen herab, sodass die Menschenaugen es kaum ertragen können«, schwärmte er, während ihn die dekorativen Muster zu poetischen Schilderungen inspirierten: »Auch kannst du den grünen Glanz des lakonischen Marmors sehen und anderes Gestein in gewundenen Maserungen blitzend... Nicht zu vergessen das Gestein, welches das tiefvereiste Gebirge emporsandte, zwar schwärzlich schimmernd anzusehen, doch von vielen milchigen Adern durchzogen... Oder auch, was der leuchtende Onyx an Wertvollem in seinem lichtdurchfluteten Steinbruch ans Tageslicht gefördert hat..., hier ganz grün leuchtend und dem Smaragde nicht unähnlich, dort noch dunkler und ins Blau sich verlierend. Endlich findet sich dort schneeiges Weiß, mit dem Glanz des Schwarzen verbunden, sodass die Anmut des Steins vom Farbengemisch noch erhöht wird.«20 Die ergreifende Schönheit der Liturgie in der Sophienkirche trug maßgeblich dazu bei, dass Russland den orthodoxen Glauben annahm, nachdem im 10. Jahrhundert eine Abordnung aus Kiew die Messe miterlebt und nach Hause berichtet hatte: »Wir wussten nicht, ob wir im Himmel waren oder auf der Erde. Denn auf Erden gibt es keine derartige Pracht und Schönheit, und wir sind außerstande, sie zu beschreiben. Wir wissen nur, dass dort Gott unter den Menschen weilt.«21 Die detailverliebte Prachtentfaltung der orthodoxen Kirche war das Gegenbild der kargen Reinheit des asketischen Islams. Die eine Religion wartete mit der abstrakten Schlichtheit der Wüste auf, einer einfachen Form der Anbetung, die man überall praktizieren konnte, sofern man die Sonne sehen konnte, die andere schwelgte in Bildern, Farben und Musik, verzauberte mit Metaphern des göttlichen Geheimnisses, die dazu dienen sollten, die Seele in den Himmel zu geleiten. Doch beiden ging es letztlich darum, der Welt ihre Vorstellung von Gott näherzubringen.

Im Leben der Byzantiner spielte das Spirituelle eine so bedeutende Rolle wie wohl zu keiner anderen Zeit in der Geschichte des Christentums. Zeitweise wurde die Stabilität des Reiches dadurch gefährdet, dass sich zu viele Offiziere in Klöster zurückzogen, und theologische Fragen wurden auf den Straßen so leidenschaftlich diskutiert, dass es bisweilen zu Tätlichkeiten kam. »Die Stadt ist voller Arbeiter und Sklaven, die allesamt Theologen sind«, berichtete ein Besucher befremdet. »Wenn man einen Mann bittet, Geld zu wechseln, erläutert er einem, wie sich Gottvater und Gottsohn unterscheiden. Wenn man nach dem Preis von einem Laib Brot fragt, erklärt er, dass der Sohn Gottes unter dem Vater steht. Wenn man wissen will, ob das Bad bereitet ist, wird einem gesagt, dass der Sohn aus dem Nichts erschaffen wurde.«22 War Christus eine einzige Person oder war er aus mehreren zusammengesetzt? War der Heilige Geist nur von Gottvater gekommen oder vom Vater und vom Sohn? Waren Heiligenbilder götzendienerisch oder nicht? Dies waren keine müßigen Fragen: Von den Antworten hingen die Erlösung oder die Verdammnis ab. Fragen der Orthodoxie und der Häresie bargen für das Imperium genauso viel Zündstoff wie Bürgerkriege, und sie untergruben seine Einheit mit durchaus vergleichbaren Kräften.

Die Welt des byzantinischen Christentums war zudem seltsam schicksalsergeben. Alles wurde von Gott gegeben, und Unheil jeglicher Art, vom Verlust einer Geldbörse bis zu einer großen Belagerung, galten als eine Folge persönlicher oder kollektiver Sünden. Der Kaiser wurde von der Gnade Gottes bestimmt, aber wenn er durch eine Palastrevolte gestürzt wurde – von Verschwörern erschlagen oder im Bad erstochen oder erdrosselt oder von Pferden durch die Straßen geschleift oder geblendet oder in die Verbannung geschickt – (denn das Schicksal der Herrscher war stets ungewiss), dann entsprach auch dies dem Willen Gottes und wies auf irgendwelche verborgenen Sünden hin. Und da sich die Zukunft vorhersagen ließ, waren die Byzantiner auf abergläubische Weise besessen von Prophezeiungen. Unsichere Kaiser schlugen gern die Bibel an einer beliebigen Stelle auf in der Hoffnung, in einem Vers einen Hinweis auf ihr Schicksal zu finden; die Weissagung war eine ausgiebig gepflegte Beschäftigung, die von den Geistlichen häufig bekämpft wurde, aber zu tief in der griechischen Seele verwurzelt war, als dass man sie hätte ausrotten können. Bisweilen nahm sie auch bizarre Formen an: Ein arabischer Besucher erlebte im 9. Jahrhundert, wie ein Pferd auf eigenartige Weise dazu benutzt wurde, Auskunft zu erhalten über das Vorankommen einer weit entfernt kämpfenden Armee: »Sie werden in die Kirche geführt, wo Zügel aufgehängt worden sind. Wenn eines der Pferde einen Zügel ins Maul nimmt, sagen die Leute: ›Wir haben einen Sieg im Lande des Islams erfochten.‹ Manchmal naht ein Pferd, riecht an dem Zügel, kehrt um und geht nicht wieder zu dem Zügel hin...«23 In diesem Fall verließen die Menschen die Kirche bedrückt, weil sie eine Niederlage erwarteten.

Viele Jahrhunderte lang übte Byzanz mit seiner Hauptstadt, die so leuchtend war wie die Sonne, eine enorme Anziehungskraft auf die Welt jenseits seiner Grenzen aus. Byzanz verkörperte die betörende Verheißung von Wohlstand und Sicherheit. Seine Goldmünzen, die Bézants, die Bildnisse seiner Kaiser trugen, waren der Goldstandard des Mittelalters. Das Ansehen des Römischen Reiches verband sich mit seinem Namen; in der muslimischen Welt nannte man es einfach nur Rum, Rom, und wie Rom zog es die Bewunderung und den Neid der nomadisierenden Halbbarbaren vor seinen Toren auf sich. Vom Balkan und den Ebenen Ungarns, von den russischen Wäldern und den Steppen Asiens, von überall her schlugen Wogen von wandernden Völkern gegen seine Grenzen: die Hunnen und die Griechen, die Slawen und die Gepiden, die tatarischen Awaren, die türkischen Bulgaren und die wilden Petschenegen, sie alle zogen durch die byzantinische Welt.

In seiner Glanzzeit erstreckte sich das Reich weit über den Mittelmeerraum bis nach Italien und Tunesien, doch unter dem unablässigen Druck seiner Nachbarn schrumpfte es wieder wie eine riesige Landkarte, die sich an den Rändern wellt. Jahr für Jahr liefen kaiserliche Flotten aus den großen Häfen am Marmarameer aus, mit wehenden Fahnen und unter Fanfarenstößen, um eine Provinz zurückzugewinnen oder eine Grenze zu sichern. Byzanz war ein Reich, das sich ständig im Krieg befand, und Konstantinopel geriet aufgrund seiner Lage an der Schnittstelle zweier Kontinente immer wieder sowohl aus Europa als auch aus Asien unter Druck. Die Araber waren nur die entschlossensten von unzähligen Feinden, die in den ersten fünfhundert Jahren seiner Existenz vor der Landmauer von Byzanz aufzogen. Die Perser und die Awaren kamen im Jahr 626, die Bulgaren im 8., 9. und 10. Jahrhundert, Fürst Igor der Russe im Jahr 941. Die Belagerung war ein Daseinszustand für das griechische Volk und sein ältester Mythos: Die Menschen kannten Homers Erzählung von Troja. Dies hatte zur Folge, dass sie gleichermaßen pragmatisch wie abergläubisch wurden. Die Erhaltung der Stadtmauern war eine Bürgerpflicht; die Kornspeicher und Zisternen waren stets gefüllt, doch auch der geistigen Verteidigung wurde von den orthodoxen Gläubigen höchste Bedeutung beigemessen. Die Jungfrau Maria war die Schutzpatronin der Stadt; Bilder von ihr hingen in Krisenzeiten an den Wänden und sollen die Stadt während der Belagerung von 717 gerettet haben. Sie waren eine ähnliche Stütze und Zuflucht wie der Koran für die Muslime.

Keine der Belagerungsarmeen, die vor der Landmauer aufmarschierten, konnte diese physischen und psychologischen Bollwerke überwinden. Keiner der Möchtegern-Eroberer verfügte über die Technik zur Erstürmung der Befestigungsanlagen oder über genug Kriegsschiffe, um das Meer abriegeln. Keiner brachte die Geduld auf, die Bewohner auszuhungern. Das Reich wankte zwar häufig, bewies aber eine beträchtliche Widerstandskraft. Die Infrastruktur der Stadt, die Stärke der Institutionen des Imperiums und der glückliche Zufall, dass es in schwierigen Zeiten über herausragende Führer verfügte, erzeugten sowohl bei den Einwohnern Konstantinopels als auch seinen Feinden den Eindruck, das Oströmische Reich werde die Zeiten überdauern.

Doch die Erfahrung der Belagerung durch die Araber prägte die Stadt nachhaltig. Die Menschen erkannten den Islam als eine Gegenkraft, die sich nicht mehr gänzlich zurückdrängen lassen würde, als einen Gegner, der sich qualitativ von allen bisherigen Feinden unterschied; in ihren Prophezeiungen über die Sarazenen – wie die Araber von den Christen genannt wurden – kamen ihre Vorahnungen über das Schicksal der Welt zum Ausdruck. Ein Autor bezeichnete sie als das vierte Tier der Apokalypse, als »das vierte Reich auf Erden, das zerstörerischste aller Reiche, das die gesamte Welt in eine Wüste verwandeln wird«.24 Und gegen Ende des 11. Jahrhunderts wurde Byzanz vom Islam abermals ein Schlag versetzt. Er kam so unverhofft, dass damals kaum jemand seine Bedeutung erkannte.

Konstantinopel 1453

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