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Gott, der Allmächtige, sagt: Ich habe ein Heer, welches ich Türken nannte und im Osten ansiedelte. Wenn ich nun einem Volke zürne, lasse ich die Türken über sie herrschen.

Al-Kashgari1

Das Auftauchen der Türken erweckte den schlummernden Geist des Heiligen Krieges. Sie waren erstmals im 6. Jahrhundert an den Grenzen des Byzantinischen Reiches erschienen und hatten Gesandte nach Konstantinopel geschickt, um mit Byzanz ein Bündnis gegen das Perserreich zu bilden. Für die Byzantiner waren sie zunächst nur eines von zahlreichen Völkern, die an die große Stadt heranzukommen versuchten; ihr angestammtes Gebiet lag jenseits des Schwarzen Meeres und erstreckte sich bis nach China. Sie waren heidnische Steppenbewohner aus den grasbewachsenen Ebenen Zentralasiens, von deren Epizentrum immer wieder Schockwellen ausgingen durch nomadische Reiter, die über die sesshaften Völker im Westen herfielen. Sie haben uns das Wort ordu hinterlassen (»Horde«) zur Erinnerung an diese Ereignisse, wie ein schwacher Hufabdruck im Sand.

Byzanz war schon mehrmals durch diese Nomaden verwüstet worden, bevor ihr Name im Reich zu einem Begriff wurde. Die ersten Turkvölker, die den sesshaften Griechen zu schaffen machten, waren vermutlich die Hunnen, die im 4. Jahrhundert über die christliche Welt hinwegfegten; ihnen folgten die Bulgaren, und jede dieser aufeinanderfolgenden Wogen erschien den Opfern so unerklärlich wie eine Heuschreckenplage, die über das Land hereinbrach. Die Byzantiner betrachteten diese Heimsuchungen als eine Strafe Gottes für ihre Sünden. Wie ihre Vettern, die Mongolen, lebten die Türken im Sattel der Pferde zwischen der großen Erde und dem weiten Himmel und verehrten beide mittels ihrer Schamanen. Sie waren rastlos, beweglich und stammesbewusst und lebten von der Viehzucht und Überfällen auf ihre Nachbarn. Beutezüge zu unternehmen, war ein Lebenszweck für sie, Städte galten ihnen als Feinde. Durch den Einsatz des Kompositbogens und ihrer Taktik der Kriegführung zu Pferd waren sie den sesshaften Völkern militärisch überlegen, was der arabische Historiker Ibn Khaldun als einen entscheidenden Faktor der geschichtlichen Entwicklung betrachtete. »Die sesshafte Bevölkerung [hat] sich dem ruhigen und bequemen Leben hingegeben«, schrieb er. »Die Menschen vertrauen auf die Mauern, die sie umgeben, und die Befestigungen, durch die sie abgeschirmt werden. Die nomadische Bevölkerung [verachtet] Mauern und Tore [und] verteidigt sich selbst. So tragen die Menschen stets Waffen, spähen nach allen Seiten des Weges, geben sich nur dann kurz dem Schlummer hin, wenn sie nicht allein sind oder oben auf dem Sattel des Kamels sitzen, lauschen aufmerksam auf die Geräusche und Rufe… So sind Tapferkeit bei ihnen zur Wesensart und Mut zum natürlichen Charakterzug geworden.«2 Dieser Aspekt sollte bald in der christlichen wie auch der islamischen Welt neue Bedeutung erlangen.

Wiederholte Erschütterungen im Herzen Asiens trieben diese Turkvölker nach Westen; im 9. Jahrhundert kamen sie mit der muslimischen Bevölkerung des Iran und des Irak in Berührung. Der Kalif von Bagdad erkannte ihre kämpferischen Qualitäten und gliederte sie als Militärsklaven in seine Heere ein; Ende des 10. Jahrhunderts hatte der Islam nachhaltig Fuß gefasst unter den Türken im Grenzgebiet, doch diese hielten an ihrer Identität und ihrer Sprache fest und sollten bald ihren Herren die Macht entreißen. Mitte des 11. Jahrhunderts übernahm die türkische Dynastie der Seldschuken das Sultanat von Bagdad, und bereits gegen Ende dieses Jahrhunderts wurde die islamische Welt von Zentralasien bis Ägypten von den Türken beherrscht.

Ihr rascher Aufstieg in der islamischen Welt wurde weithin als ein Werk der Vorsehung betrachtet, das Gott ausrichtete, um »den ersterbenden Atem des Islam wiederzubeleben und die Einheit der Muslime wiederherzustellen«.3 Zur selben Zeit regierte in Ägypten eine nichtorthodoxe Schia-Dynastie, sodass die türkischen Seldschuken, die sich der orthodoxen sunnitischen Lehre zugewandt hatten, als legitime gazi auftreten konnten, als Glaubenskämpfer, die den Dschihad gegen die Ungläubigen und den nichtorthodoxen Islam führten. Die Haltung des militanten Islam kam dem Kampfgeist der Türken sehr entgegen; ihre Lust am Plündern konnte als frommer Dienst an Allah gerechtfertigt werden. Unter dem türkischen Einfluss lebte im Islam der Eifer der frühen arabischen Eroberungszüge wieder auf, und der Krieg gegen die christlichen Feinde wurde in größerem Rahmen wieder aufgenommen. Sultan Saladin war zwar Kurde, doch die Armeen, die er und seine Nachfolger ins Feld führten, waren vom Ethos der Türken beseelt. »Gott sei gelobt«, schrieb AlRawandi im 13. Jahrhundert, »der Islam ist stark… Bei den Arabern, Persern, Romäern und Russen ist das Schwert in der Hand der Türken, und die Furcht vor ihrem Schwert ist tief in den Herzen der Menschen verankert.«4

Nachdem der Islam neuen Auftrieb erhalten hatte, dauerte es nicht lange, bis an der Südgrenze Anatoliens der Konflikt zwischen Christen und Muslimen, der einige Jahrhunderte weitgehend eingedämmt war, wieder voll entbrannte. Die Seldschuken in Bagdad waren beunruhigt über widerspenstige nomadische Stammeskrieger, die Turkmenen, deren Raubzüge einen Störfaktor im islamischen Herzland darstellten. Sie brachten diese Stammeskrieger dazu, ihre Energie nach Westen zu richten, gegen Byzanz – das Königreich Rum. Mitte des 11. Jahrhunderts fielen marodierende Gazi-Kämpfer im Namen des Heiligen Krieges so häufig in das christliche Anatolien ein, dass sich der Kaiser in Konstantinopel zu einer militärischen Reaktion gezwungen sah.

Im März 1071 begab sich Kaiser Romanus IV. Diogenes persönlich in den Osten, um die Situation zu bereinigen. Im August traf er bei Mantzikert in Ostanatolien aber nicht auf die Turkmenen, sondern auf ein Heer der Seldschuken unter deren herausragendem Befehlshaber Sultan Alp Arslan, des »heldenhaften Löwen«. Es war ein eigenartiges Ereignis. Der Sultan wollte eigentlich gar nicht kämpfen. Ihm ging es nicht in erster Linie darum, gegen die Christen Krieg zu führen, er wollte vielmehr das verhasste Schiiten-Regime in Ägypten niederwerfen. Er schlug einen Waffenstillstand vor, den die Römer jedoch ablehnten. Das folgende Gefecht endete mit einem überwältigenden Sieg der Muslime, wozu maßgeblich ihre klassische Taktik des Hinterhalts beitrug. Erschwerend kam die Tatsache hinzu, dass viele byzantinische Söldner zum Gegner überliefen. Romanus kam mit dem Leben davon und küsste den Boden vor dem siegreichen Sultan, der ihm einen Fuß auf den Hals setzte als symbolisches Zeichen seines Triumphes und der Unterwerfung des Feindes. Dies sollte sich als ein Wendepunkt der Weltgeschichte erweisen – und als eine Katastrophe für Konstantinopel.

Für die Byzantiner war die Schlacht von Mantzikert der »Tag des Schreckens«, eine Niederlage von verheerenden Ausmaßen, die ihre Zukunft lange überschatten sollte. Doch ihre volle Tragweite erkannte man in Konstantinopel erst später. Die Turkmenen stießen nun nach Anatolien vor, ohne auf Widerstand zu treffen; wo sie vorher Überfälle verübt und sich wieder zurückgezogen hatten, richteten sie sich jetzt dauerhaft ein und drangen immer weiter nach Westen vor in den Löwenkopf Anatoliens. Nach den heißen Wüsten das Iran und des Irak war das sanft gewellte Hügelland der Hochebene eine Landschaft, die den Nomaden aus Zentralasien mit ihren Jurten und Kamelen sehr behagte. Mit ihnen kamen der orthodoxe sunnitische Islam und auch extreme islamische Strömungen: Anhänger des Sufismus, Derwische und wandernde heilige Männer, die sowohl den Glaubenskrieg predigten als auch eine mystische Heiligenverehrung, die bei den christlichen Völkern Anklang fand. Zwanzig Jahre nach der Schlacht von Mantzikert hatten die Türken die Küsten des Mittelmeers erreicht. Eine ethnisch zersplitterte christliche Bevölkerung setzte ihnen kaum Widerstand entgegen; einige Christen traten zum Islam über, andere waren froh, der Besteuerung und Unterjochung durch Konstantinopel zu entrinnen. Der Islam betrachtete die Christen als »Menschen des Buches«; daher standen sie unter dem Schutz der Gesetze und durften ihre Religion frei ausüben. Abtrünnige christliche Sekten hießen die türkische Herrschaft sogar offen willkommen: »Aufgrund ihres Rechtswesens und ihrer guten Regierung lebten sie lieber unter deren Verwaltung«, schrieb Michael der Syrer. »Da die Türken nichts wussten von heiligen Mysterien…, waren sie es nicht gewöhnt, sich mit Glaubensbekenntnissen auseinanderzusetzen oder andere deswegen zu verfolgen, im Unterschied zu den Griechen«, fuhr er fort, die »ein verschlagenes und ketzerisches Volk«5 sind. Innere Auseinandersetzungen im byzantinischen Staat stärkten die Türken; bald wurden sie gebeten, in die Bürgerkriege einzugreifen, die Byzanz zerrissen. Die Eroberung von Kleinasien verlief so reibungslos und traf auf so geringen Widerstand, dass nach einer abermaligen Niederlage eines byzantinischen Heeres 1176 keine Möglichkeit mehr bestand, die Eindringlinge wieder zu vertreiben. Die Folgen von Mantzikert waren nun nicht mehr rückgängig zu machen. Bereits ab 1220 bezeichneten westliche Autoren Kleinasien als Turchia. Byzanz hatte sein Hinterland eingebüßt, das ihm Nahrung und Soldaten geliefert hatte. Und fast zur selben Zeit brach aus einer völlig unerwarteten Richtung eine weitere Katastrophe über Konstantinopel herein, und sie nahte aus dem christlichen Westen.


Die Kreuzzüge sollten dem militärischen Vormarsch des türkischen Islam Einhalt gebieten. Sie richteten sich gegen die Seldschuken, »ein verfluchtes Volk, ein Volk, das völlig fern ist von Gott«.6 Papst Urban II. rief 1095 in seinem berühmten Appell auf der Synode in Clermont dazu auf, »dieses heidnische Volk aus unseren Ländern zu vertreiben«, was den Auftakt bildete zu einer 350 Jahre währenden Epoche westlicher Eroberungszüge im Zeichen des Kreuzes. Obwohl ihnen ihre christlichen Brüder aus dem Westen eigentlich helfen wollten, sollte sich dieses Unternehmen zu einer dauerhaften Belastung für die Byzantiner entwickeln. Ab 1090 wurden sie immer wieder heimgesucht von marodierenden Rittern, die Unterstützung, Verpflegung und Dank erwarteten von ihren orthodoxen Brüdern, während sie plündernd in Richtung Jerusalem nach Süden zogen. Durch dieses Zusammentreffen wuchsen das wechselseitige Unverständnis und das Misstrauen. Beide Seiten konnten die Unterschiede in den Bräuchen und den Formen des Gottesdienstes studieren. Die Griechen betrachteten ihre in schweren Kettenhemden daherkommenden westlichen Glaubensbrüder als ungeschliffene barbarische Abenteurer; ein Kreuzzug war für sie nur der heuchlerische Versuch, Eroberungsgelüste mit dem Mantel der Frömmigkeit zu tarnen: »Sie tragen ihren Kopf hoch im Nacken, und ihr Sinn ist unbeugsam, ihr Blutdurst groß… sie hegen auch unablässig Übelwollen gegen die Rhomäer«,7 klagte Niketas Chroniates. Tatsächlich kamen die Byzantiner mit ihren sesshaften muslimischen Nachbarn besser aus, da sich durch den Umgang mit ihnen im Lauf der Jahrhunderte nach dem ersten Ausbruch des Heiligen Krieges eine gewisse Vertrautheit und Respekt entwickelt hatten: »Wir müssen als Brüder zusammenleben, auch wenn wir uns in unseren Bräuchen, Sitten und der Religion unterscheiden«,8 schrieb einmal ein Patriarch von Konstantinopel an den Kalifen von Bagdad. Den Kreuzfahrern dagegen erschienen die Byzantiner als verdorbene Ketzer, die obendrein bedrohlich orientalisch wirkten. Seldschukische und türkische Soldaten kämpften häufig für die Byzantiner; zudem entdeckten die Kreuzritter empört, dass es in der Stadt, die der Jungfrau Maria geweiht war, eine Moschee gab. »Konstantinopel ist anmaßend in seinem Wohlstand und verkommen in seinem Glauben«,9 verkündete der Kreuzfahrer Odo de Deuil. Darüber hinaus sorgten der Reichtum Konstantinopels und seine berühmten juwelenbesetzten Reliquien unter den Kreuzfahrer für großes Erstaunen und Verwunderung. In den Berichten, die in die kleinen Städte in der Normandie und am Rhein geschickt wurden, klangen unterschwellig Neid und Eifersucht an: »Seit Anbeginn der Welt«, schrieb der Marschall der Champagne, »hat man noch niemals so viele Reichtümer gesehen, die in einer einzigen Stadt angehäuft sind.«10 Das war eine unwiderstehliche Versuchung.

Schon seit Langem hatte der Westen das Byzantinische Reich militärisch, politisch und wirtschaftlich unter Druck gesetzt, doch Ende des 12. Jahrhunderts wurde dies vor allem in Konstantinopel sichtbar. In der Stadt war eine große Gemeinde italienischer Kaufleute entstanden, und da den Venezianern und den Genuesen besondere Vorrechte eingeräumt worden waren, ging es ihnen sehr gut. Die nach Gewinn strebenden, materialistischen Italiener waren nicht sonderlich beliebt: Die Genuesen hatten eine eigene Kolonie in Galata, einer mit Mauern geschützten Stadt jenseits des Goldenen Horns; die Kolonie der Venezianer galt »als so unverschämt reich und wohlhabend…, dass sie sogar auf die kaiserliche Macht verächtlich herabsehen könnten«.11 Immer wieder erfassten Wellen der Fremdenfeindlichkeit die Stadt; 1171 wurde Galata von den Griechen angegriffen und zerstört. Im Jahr 1183 wurde die gesamte italienische Gemeinde massakriert unter den Augen des byzantinischen Generals Andronikos »des Schrecklichen«.

Im Jahr 1204 führten dieser lange aufgestaute Argwohn und die Gewaltbereitschaft zu einer Katastrophe, welche die Griechen dem katholischen Westen nie verziehen haben. In einer der groteskesten Episoden in der Geschichte des Christentums wurde der Vierte Kreuzzug, der auf venezianischen Schiffen aufgebrochen war und eigentlich nach Ägypten fahren sollte, umgelenkt und griff Konstantinopel an. Drahtzieher dieses Unternehmens war Enrico Dandolo, der wahrscheinlich blinde 80-jährige Doge von Venedig, ein arglistiger und fintenreicher Politiker, der das Unternehmen persönlich leitete. Mit einem Anwärter auf den kaiserlichen Thron an Bord erreichte die gewaltige Flotte im Juni 1203 das Marmarameer; die Kreuzfahrer waren vielleicht selbst verblüfft, als sie anstatt der Küsten Ägyptens Konstantinopel vor dem Bug auftauchen sahen, eine Stadt, die für das Christentum von großer Bedeutung war. Nachdem die venezianischen Schiffe die Kette überwunden hatten, die das Goldene Horn schützte, nahmen sie Kurs auf den Strand und versuchten die Seewälle zu durchbrechen; als der Angriff scheiterte, sprang der alte Doge mit der Fahne des Heiligen Markus ans Ufer und forderte die Venezianer auf, ihren Kampfesmut unter Beweis zu stellen. Die Mauern wurden gestürmt, und Alexios, der Prätendent, wurde inthronisiert.

Im darauffolgenden April, nach einem Winter interner Auseinandersetzungen und Intrigen, in dem die Ungeduld der Kreuzfahrer wuchs, wurde Konstantinopel erobert und geplündert. Es kam zu einem grauenhaften Massaker, und große Teile der Stadt wurden durch einen Brand vernichtet: »Es wurden mehr Häuser zerstört, als es in den drei größten Städten des Königreiches Frankreich gibt«, verkündete der französische Ritter Gottfried von Villehardouin. Die großen Kunstwerke der Stadt wurden zerstört und die Sophienkirche entweiht und geplündert: »Als sie… die allerheiligsten Geräte und Gefäße von unübertrefflicher Kunst und Schönheit und aus seltenen Stoffen, das gediegene, mit Gold bezogene Silber…und noch vieles andere fortschaffen wollten, führten sie Maulesel und Packtiere bis zum Allerheiligsten vor und beluden sie schwer«, berichtete der Chronist Niketas. »Als einige der Tiere auf dem blinkenden Steinboden ausglitten, zogen sie die Schwerter und erstachen sie, sodass die heilige Stätte nicht nur mit dem Kot der Tiere, sondern auch mit dem vergossenen Blut befleckt wurde.«12 Die Venezianer raubten eine große Zahl von Statuen, Reliquien und wertvollen Gegenständen, um damit ihre Markuskirche auszustatten, unter anderem die vier Bronzepferde, die seit der Zeit Konstantins des Großen im Hippodrom gestanden waren. Konstantinopel glich einem rauchenden Trümmerhaufen. »O du Stadt, du Stadt aller Städte«, klagte der Chronist Niketas, »du hast den Kelch des Zorns des Herrn bis auf den Grund geleert.«13 Dies war eine typische Reaktion der Byzantiner; doch unabhängig davon, ob die Katastrophe menschlichen oder göttlichen Ursprungs war, die Konsequenzen waren dieselben: Konstantinopel schrumpfte zu einem Schatten seiner einstigen Größe. Fast sechzig Jahre lang war die Stadt nun das »Lateinische Kaiserreich von Konstantinopel«, das vom Herzog von Flandern und dessen Nachfolgern regiert wurde. Das Byzantinische Reich wurde aufgeteilt in eine Reihe von fränkischen Staaten und italienischen Kolonien, während ein großer Teil seiner Bevölkerung nach Griechenland floh. Die Byzantiner errichteten in Nikäa in Anatolien ein Exilkönigreich und konnten sich weiterer türkischer Vorstöße ziemlich erfolgreich erwehren. Als sie 1261 Konstantinopel zurückeroberten, war die Infrastruktur der Stadt nahezu vollständig zerstört, und ihr Herrschaftsgebiet war auf einige zersplitterte Gebiete geschrumpft. Als die Byzantiner ihre Stellung wieder zu festigen suchten und sich neuen Bedrohungen aus dem Westen ausgesetzt sahen, kehrten sie abermals dem islamischen Anatolien den Rücken zu, hatten dafür aber einen stetig steigenden Preis zu bezahlen.


Anatolien wurde weiterhin durch massive Bevölkerungswanderungen im Osten erschüttert. Zwei Jahre nach der Plünderung Konstantinopels gelang es dem Stammesführer Temuchin, die sich bekriegenden Nomadenstämme der inneren Mongolei zu vereinigen, worauf er den Titel Dschingis Khan annahm – Herrscher der Welt. Die langhaarigen, den Himmel anbetenden Mongolen brachen mit erschreckender Heftigkeit über die islamische Welt herein. Als Persien im Chaos versank, schwappte eine weitere Welle von Vertriebenen westwärts nach Anatolien. Der Kontinent wurde zum Schmelztiegel unterschiedlichster Völker, von Griechen, Türken, Iranern, Armeniern, Afghanen und Georgiern. Nachdem die Mongolen 1243 das stabilste Staatsgebilde in der Region, jenes der Rum-Seldschuken, unterworfen hatten, zerfiel Anatolien in ein Mosaik kleiner Königreiche. Die umherwandernden Turkvölker konnten nun nicht mehr weiter nach Westen ziehen; es gab keine ungläubigen Nachbarn mehr, deren Unterwerfung der Islam unter Berufung auf den Koran anstreben konnte. Als sie das Meer erreichten, verschafften sich manche von ihnen Schiffe und plünderten byzantinische Küstenregionen. Andere bekämpften sich gegenseitig. Anatolien war ein von Chaos geprägtes, zersplittertes und gefährliches Gebiet – ein wilder Westen, in dem sich Räuber, Plünderer und religiöse Visionäre tummelten, die von einer explosiven Verbindung aus mystischem Sufismus und orthodoxem sunnitischen Glauben beflügelt wurden. Die Turkmenen legten weiterhin lange Entfernungen zurück in ihren üppig bestickten Sätteln auf ihren Raubzügen in der Gazi-Tradition, aber jetzt gab es nur noch ein kleines unbedeutendes Reich, das des Stammes Osman, das noch an das gottlose Byzanz im Nordwesten Anatoliens angrenzte.

Die genaue Herkunft dieses Volkes, das wir heute Osmanen nennen, ist nicht bekannt. Sie gingen etwa um 1280 aus den umherziehenden Turkmenen hervor, eine Sippe ungebildeter Krieger, die zwischen Zelten und Holzfeuern lebten, aus dem Sattel herrschten und mit einem Daumenabdruck unterschrieben und deren Geschichte nachträglich von imperialen Mythenbildnern rekonstruiert wurde. Der Legende zufolge soll Osman schon von Anfang an für Großes auserwählt worden sein. Eines Nachts hatte er einen Traum, in dem er Konstantinopel sah, »das an der Verbindung zwischen zwei Meeren und zwei Kontinenten lag und aussah wie ein Diamant zwischen zwei Saphiren und zwei Smaragden und daher den Edelstein im Ring eines riesigen Reiches zu bilden schien, das die gesamte Welt umfasste«.14 Osman zog sich den Mantel der Gazis an, denen sein Stamm nacheifern sollte. Durch Glück und Reaktionsschnelligkeit gleichermaßen entwickelte sich das Herrschaftsgebiet Osmans aus einem winzigen Fürstentum zu jener Weltmacht, von der er geträumt hatte.

Das Reich Osmans im Nordwesten Anatoliens grenzte unmittelbar an den byzantinischen Verteidigungsring, der Konstantinopel schützte. Da es hier Land von Ungläubigen gab, das noch nicht erobert war, fühlten sich Gazis, Abenteurer und landhungrige Flüchtlinge angezogen, die unter Osmans Befehl ihr Glück versuchen wollten. Osman herrschte als Stammesführer in enger Verbindung mit seinem Volk. Zugleich bot sich den Osmanen hier die einzigartige Gelegenheit, den benachbarten byzantinischen Staat zu studieren und dessen Strukturen nachzubilden. Der Stamm lernte buchstäblich »in Windeseile« und übernahm außergewöhnlich schnell Technologien, Zeremonielle und Taktiken. Im Jahr 1302 errang Osman einen ersten Sieg über die Byzantiner, der sein Ansehen mehrte und den Zulauf von Kämpfern verstärkte. Bei weiteren Attacken gegen die zerfallenden Verteidigungseinrichtungen des Reiches gelang es ihm, die Stadt Brusa abzuschneiden; da er jedoch nicht über wirksame Belagerungstechnik verfügte, dauerte es sieben Jahre, bis sein Sohn Orhan die Stadt schließlich 1326 einnehmen und zur Hauptstadt seines kleinen Reiches erklären konnte. Im Jahr 1329 besiegte Orhan Kaiser Andronikos III. bei Pelekanos, und danach konnten die Byzantiner ihre verbliebenen Städte in Anatolien nicht mehr sichern. Diese fielen nun schnell nacheinander: 1331 Nikäa, 1337 Nikomedia und im folgenden Jahr Skutari. Die muslimischen Krieger konnten mit ihren Pferden jetzt über eigenes Land zum Meer reiten und über den Bosporus nach Europa blicken. Auf der anderen Seite konnten sie Konstantinopel erkennen: die Linie seiner Seewälle, die imposante Sophienkirche, die kaiserlichen Fahnen, die auf Türmen und Palästen wehten.

Auf ihrem Vormarsch passten die Eroberer die griechischen Namen der eingenommenen Städte den vokalen Harmonien des Türkischen an. Aus Smyrna wurde Izmir; Nikäa, der Verkündungsort des Nizänischen Glaubensbekenntnisses, wurde zu Iznik; Brusa wurde durch eine Umstellung der Konsonanten zu Bursa; Konstantinopel bezeichneten sie offiziell zwar weiterhin mit dem arabischen Namen Konstantinijje, doch in der türkischen Alltagssprache entwickelte es sich zu Istanbul durch eine Mutation, die nach wie vor unklar ist. Vielleicht war dieser Name schlicht eine Verballhornung von Konstantinopel, er könnte aber auch einen anderen Ursprung haben. Griechische Autoren nannten Konstantinopel einfach nur polis, die Stadt. Ein Mann, der dorthin wollte, sagte, er fahre »eis tin polin« (»in die Stadt«), was in türkischen Ohren wie Istanbul geklungen haben könnte.

Das rasche Vordringen der Osmanen erschien als ebenso gottgewollt wie jenes der Araber sieben Jahrhunderte zuvor. Als der berühmte arabische Reisende Ibn Battutah 1331 Orhans Reich besuchte, beeindruckte ihn die rastlose Energie, die dort herrschte: »Es heißt, er habe sich nie länger als einen Monat in einer Stadt aufgehalten. Er kämpft ständig gegen die Ungläubigen und hält sie unter Belagerung.«15 Die frühen Osmanen stellten sich als Gazis dar; sie umhüllten sich mit dem Titel von Glaubenskriegern wie mit der grünen Fahne des Islam. Bald wurden sie auch Sultane. Im Jahr 1337 ließ Orhan in Bursa eine Inschrift anbringen, in der er sich als »Sultan, Sohn des Sultans der Gazis, Gazi, Sohn des Gazi, Herrscher der Horizonte, Held der Welt«16 rühmen ließ. In der Tat war nun ein neues Zeitalter heroischer muslimischer Eroberungszüge angebrochen, und der militante Islam entwickelte neue Dynamik. »Der Gazi ist das Schwert Gottes«, schrieb der Chronist Ahmeti um 1400, »er ist der Beschützer und die Zuflucht der Gläubigen. Wenn er für Gott zum Märtyrer wird, glaubt nicht, dass er gestorben ist – er lebt in der Glückseligkeit mit Allah, er besitzt das ewige Leben.«17 Die Eroberungen weckten hohe Erwartungen bei den nomadisierenden Räubern, die auf eigene Faust operierten, und den der Mystik ergebenen Derwischen, die in zerlumpten Kleidern mit ihnen über die staubigen Straßen Anatoliens zogen. Prophezeiungen und Heldenlieder waren allenthalben im Schwange. Sie erinnerten an die Hadith über die Eroberung Konstantinopels und die Legenden vom Goldenen Apfel. Als Kaiser Johannes Cantacuzenos Orhans Kämpfer nach 1350 einlud, über die Dardanellen zu kommen und in die endlosen Bürgerkriege im byzantinischen Staat einzugreifen, setzten die Muslime erstmals seit 717 wieder ihre Füße auf europäischen Boden. Als 1354 durch ein Erdbeben die Mauern von Gallipoli zerstört wurden, erklärten die Osmanen dies kurzerhand zu einem Fingerzeig Gottes für die Muslime und nahmen die Stadt ein. Ein unablässiger Strom von Kriegern und Geistlichen folgte ihnen nach Europa. Im Jahr 1359 tauchte erstmals seit 650 Jahren wieder eine islamische Streitmacht vor den Mauern der Stadt auf. Ein Anflug von Endzeit-Erwartung war spürbar. »Warum sind die Gazi erst so spät erschienen?«, fragte Ahmeti. »Weil das Beste immer erst am Schluss kommt. Genau wie der eigentliche Prophet Mohammed nach den anderen kam, genau wie der Koran nach der Thora, den Psalmen und den Evangelien vom Himmel herabkam, so erschienen auch die Gazi als letzte in der Welt.«18 Die Eroberung Konstantinopels erschien offenbar als Traum, der durchaus wahr werden konnte.

Dass die Osmanen so rasch vorrückten, war jedoch kein Wunder und auch nicht gottgegeben. Aufgrund der geographischen Lage, ihrer Gewohnheiten und glücklicher Umstände besaßen sie beste Voraussetzungen, um Nutzen aus dem Zerfall des byzantinischen Staates zu ziehen. Die ersten Sultane, die noch in enger Verbindung mit ihrem Volk und auch mit der Natur lebten, nahmen das sich verändernde politische Umfeld aufmerksam wahr. Während die Byzantiner im Banne tausendjähriger Zeremonien und Traditionen standen, waren die Osmanen wach, flexibel und aufgeschlossen. Die Gesetze des Islam verlangten Gnade gegenüber unterworfenen Völkern, und die Osmanen regierten ihre Untertanen mit leichter Hand, was vielen angenehmer erschien als die Herrschaft europäischer Feudalherren. Sie versuchten nicht, die Christen, welche die Bevölkerungsmehrheit bildeten, zum Islam zu bekehren – das war auch nicht erstrebenswert für eine Dynastie, die ein großes Reich errichten wollte. Unter dem Gesetz der Scharia war es nicht möglich, Muslime ebenso hart zu besteuern wie Ungläubige, wenngleich ihre Belastung nicht sonderlich hoch war. Die Bauern auf dem Balkan begrüßten die Befreiung vom schwereren Joch der feudalen Knechtschaft. Zudem besaßen die Osmanen eine vorteilhaftere Erbfolgepraxis. Im Unterschied zu anderen türkischen Fürstentümern hatten die frühen Sultane das Reich nie zwischen Nachfolgern aufgeteilt und auch nie selbst einen Nachfolger bestimmt. Alle Söhne wurden zu Herrschern herangezogen, aber nur einer konnte den Thron besteigen – eine Methode, die auf brutale Weise sicherzustellen schien, dass der am besten geeignete überlebte. Zur großen Verwunderung westlicher Beobachter legten sie auch keinen Wert darauf, die Nachfolge über eine Heirat zu sichern. Während die byzantinischen Kaiser, wie auch alle anderen europäischen Herrscherhäuser, sorgfältig darauf achteten, dass ihre Kinder nur innerhalb des eigenen Geschlechts oder Abkömmlinge einer anerkannten Adelsfamilie heirateten, interessierte dies die Osmanen kaum. Der Vater eines Sultans war natürlicherweise sein Vorgänger, aber seine Mutter konnte eine Konkubine sein oder eine Sklavin, womöglich war sie auch keine Muslima von Geburt oder entstammte einem der zahlreichen unterworfenen Völker. Diese genetische Beliebigkeit erschloss den Osmanen außergewöhnliche Ressourcen.

Von allen Neuerungen der Osmanen war die Schaffung einer regulären Armee wahrscheinlich die bedeutendste. Die ungebärdigen Gruppen von Gazi-Kriegern waren zu undiszipliniert, um den wachsenden Ambitionen der Sultane gerecht zu werden; gut gesicherte Städte zu belagern, erforderte Geduld, methodisches Vorgehen und auch gewisse handwerkliche Fertigkeiten. Ende des 14. Jahrhunderts schuf Sultan Murat I. eine neue Streitmacht, die aus gefangenen Sklaven aus den Balkanstaaten bestand. Regelmäßig wurden christliche Jungen zwangsrekrutiert, mussten den Islam annehmen und Türkisch lernen. Fern von ihren Familien waren diese neuen Rekruten allein dem Sultan ergeben. Sie waren seine Leibgarde: die »Sklaven der Pforte«. Sie wurden in Infanterieeinheiten organisiert, den Yeni Cheri oder Janitscharen, und in Kavallerieverbänden, die zusammen die erste bezahlte Armee in Europa seit der römischen Zeit bildeten. Diesen Verbänden sollte entscheidende Bedeutung für die Entwicklung des osmanischen Staates zukommen. Das Vorbild hatten die Osmanen aus ihrer eigenen Geschichte übernommen: Auch die Türken waren als Militärsklaven an den Grenzen der islamischen Welt rekrutiert worden. Das hatte ihren späteren Aufstieg ermöglicht. Doch für Christen, die diese Entwicklung aus der Ferne beobachteten, war es eine erschreckende Vorstellung: Dass gefangen genommene christliche junge Männer gegen andere Christen kämpfen sollten, erschien ihnen niederträchtig und unmenschlich. Die Zwangsrekrutierung von Christenkindern trug maßgeblich zur Entstehung des Mythos von den »barbarischen Türken« bei.

Der Begriff »Türke« verbreitete sich rasch im Westen. Er war größtenteils ein europäisches Konstrukt, ein Ausdruck, der dem Selbstverständnis des Westens entsprach und von den Osmanen nur selten verwendet wurde. Diese betrachteten ihn vielmehr als herabsetzend. Sie bevorzugten Bezeichnungen, die weder einen ethnischen noch einen territorialen Anklang hatten und sowohl ihre nomadische Herkunft zum Ausdruck brachten, die Tatsache also, dass sie nicht an bestimmte Gebiete gebunden waren, als auch ihre multiethnische Zusammensetzung. Ihre Identität bezogen sie in erster Linie aus der Religion: Die osmanischen Sultane bezeichneten sich selbst in zunehmend blumiger werdender Sprache als »Herren des Islam« und ihr Reich als »Zuflucht der Gläubigen« oder als die »Verteidigten Länder« und ihr Volk entweder als Muslime oder als Osmanen. Das osmanische Selbstverständnis bestand aus einer einzigartigen Verbindung unterschiedlicher Elemente und Völkerschaften: aus türkischem Stammesdenken, dem sunnitischen Islam, persischem Hofzeremoniell, byzantinischen Verwaltungs- und Besteuerungsmethoden und einer zeremoniellen, hochtrabenden Hofsprache, die türkische Grammatik mit arabischem und persischem Vokabular verband. Aus diesem Konglomerat entwickelte sich eine eigenständige Identität.


Der Aufstieg der Osmanen ging einher mit dem unaufhaltsamen Niedergang von Byzanz. Die Faktoren, die dazu führten, dass die Zeit nach 1300 in Europa als »Unglücksjahrhundert« bezeichnet wurde, waren auch im Ostreich wirksam. Zersplitterung, Bürgerkriege, Bevölkerungsschwund und Verarmung suchten Konstantinopel heim. Es gab einige bezeichnende symbolische Momente. Im Jahr 1284 traf Kaiser Andronikos die selbstmörderische Entscheidung, die kaiserliche Flotte abzuschaffen. Die arbeitslos gewordenen Seeleute liefen zu den Osmanen über und halfen diesen, eine eigene Flotte aufzubauen. Um das Jahr 1325 übernahmen die Kaiser aus dem Hause Palaiologos den Doppeladler in ihr Wappen; er symbolisierte jedoch nicht, wie häufig behauptet wurde, ein mächtiges Reich, das den Blick sowohl nach Osten als auch Westen richtete, sondern eher die Aufteilung der Autorität zwischen zwei streitsüchtigen Herrschern aus derselben Familie. Der Adler bekam eine prophetische Bedeutung. Die Jahre von 1341 bis 1371 waren geprägt von einer verheerenden Abfolge von Bürgerkriegen, Vorstößen sowohl der Osmanen als auch der mächtigen Serben, religiösen Auseinandersetzungen und einer Pestepidemie. Konstantinopel war die erste europäische Stadt, in der der Schwarze Tod wütete: Ratten, die im Schwarzmeerhafen Kaffa an Bord von Schiffen gelangt waren, wurden 1347 in die Stadt eingeschleppt. Die Bevölkerung schrumpfte auf wenig mehr als 100.000. Zudem verwüstete eine Reihe von Erdbeben Konstantinopel – die Kuppel der Hagia Sophia stürzte 1346 ein –, die Stadt »aus reinem Gold« verkam immer weiter, und ihre Bewohner verfielen in eine fatalistische Untergangsstimmung. Reisende berichteten vom erbärmlichen Erscheinungsbild der Stadt. Ibn Battutah sah keine Stadt mehr, sondern nur noch eine Ansammlung von dreizehn Dörfern, die durch Felder getrennt waren. Der Spanier Pero Tafur schrieb nach einem Besuch in Konstantinopel, dass selbst der Kaiserpalast in einem Zustand sei, »dass man daran und an der Stadt selbst ablesen [könne], welche Leiden den Menschen auferlegt wurden und noch auferlegt werden… Es gibt nur wenige Einwohner… Sie sind nicht gut gekleidet, sondern elend und arm, gezeichnet von der Härte des Schicksals«, bevor er voll christlichen Mitgefühls hinzufügte, »das jedoch nicht so schlimm ist, wie sie es verdienen, denn sie sind ein lasterhaftes Volk, das der Sünde erlegen ist«.19 Die Stadt schrumpfte in ihren Mauern wie ein alter Mann in den Kleidern seiner Jugendzeit, und auch die Kaiser mussten auf manche Annehmlichkeiten verzichten. Bei der Krönung von Kaiser Johannes VI. Cantacuzenos im Jahr 1347 bemerkten Beobachter, dass die Kronjuwelen aus Glas bestanden und die Tablette beim Bankett aus Ton und Zinn. Das goldene Geschirr war verkauft worden, um Geld für den Bürgerkrieg aufzutreiben; die Juwelen hatte man an Venedig verpfändet – sie befanden sich nun in der Schatzkammer von Sankt Markus.

Während dieser Wirren drangen die Osmanen weiter ungehindert nach Europa vor. Im Jahr 1362 schlossen sie Konstantinopel weitgehend ein, als sie die 220 Kilometer westlich gelegene Stadt Adrianopel eroberten – im Türkischen Edirne genannt –, und verlegten die Hauptstadt ihres Reiches nach Europa. Nachdem sie 1371 die Serben besiegt hatten, war Kaiser Johannes von jeglicher christlicher Unterstützung abgeschnitten, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als ein Vasall der Sultane zu werden, der auf Geheiß Soldaten zur Verfügung stellen und bei Ernennungen um Erlaubnis nachsuchen musste. Der Vormarsch der Osmanen schien unaufhaltsam: Ende des 14. Jahrhunderts erstreckte sich ihr Gebiet bereits von der Donau bis zum Euphrat. »Die Ausdehnung der Türken oder Heiden ist wie das Meer«, schrieb der Serbe Michael »der Janitschar«, »es steht nie still, sondern ist ständig in Bewegung… Wenn man der Schlange nicht den Kopf abschlägt, wird es immer schlimmer.«20 Der Papst rief 1366 in einer Bulle zum Kreuzzug gegen die Osmanen auf und drohte den Führern der Handel treibenden Staaten in Italien und an der Adria vergeblich den Kirchenbann an, weil sie die Türken mit Waffen belieferten. In den folgenden fünfzig Jahren wurden drei Kreuzzüge gegen die Ungläubigen unternommen, allesamt unter der Führung von Ungarn, des bedrohtesten Staates in Osteuropa. Sie sollten zum Schwanengesang einer geeinten Christenheit werden. Jeder endete mit einer demütigenden Niederlage, deren Ursachen leicht ausfindig zu machen waren. Europa war gespalten, von Armut geplagt, wurde durch innere Konflikte erschüttert und vom Schwarzen Tod geschwächt. Die Heere waren schwerfällig, uneinig, undiszipliniert und taktisch unfähig im Vergleich zu den mobilen und gut organisierten Osmanen, die für eine gemeinsame Sache kämpften. Die wenigen Europäer, die sie aus der Nähe beobachten konnten, kamen nicht umhin, der »osmanische Ordnung« Bewunderung zu zollen. Der französische Reisende Bertrandon de la Brocquière berichtete um 1430:

Sie sind fleißig und stehen gern früh auf. Sie brauchen wenig zum Leben… Es ist ihnen gleichgültig, wo sie schlafen, meistens liegen sie auf dem Boden… Ihre Pferde sind gut, sie werden, was das Futter anbelangt, kurz gehalten, und sie laufen sehr schnell und weit… Ihren Führern bringen sie bedingungslosen Gehorsam entgegen… Wenn das Zeichen ertönt, marschieren jene, welche die Vorhut bilden sollen, geordnet ab, gefolgt von den übrigen, die sich ebenso ruhig und geordnet verhalten… Zehntausend Türken machen weniger Lärm als hundert Soldaten aus christlichen Heeren… Ich muss gestehen, dass ich die Türken bei meinen mehrfachen Begegnungen stets freimütig und loyal erlebt habe, und wenn es erforderlich war, Mut zu beweisen, haben sie dies stets getan.21

Entsprechend düster sah es zu Beginn des 15. Jahrhunderts aus für Konstantinopel. Belagerungen durch die Osmanen waren zu einer regelmäßig wiederkehrenden Begleiterscheinung des Lebens geworden. Als Kaiser Manuel 1394 seinen Vasalleneid brach, unternahm Sultan Bajezit mehrere Angriffe auf die Stadt, die erst eingestellt wurden, als Bajezit 1402 selbst in einer Schlacht vom türkischen Mongolen Timur besiegt wurde. Danach bemühten sich die byzantinischen Kaiser verzweifelt um Hilfe aus dem Westen – Manuel reiste 1400 sogar nach England –, während sie gegenüber den osmanischen Thronprätendenten eine Politik diplomatischer Intrigen und selektiver Unterstützung verfolgten. Sultan Murat II. belagerte Konstantinopel 1422, um Thronaspiranten zu ermutigen, doch die Stadt hielt abermals stand. Die Osmanen verfügten weder über eine Kriegsflotte, um die Stadt abzuriegeln, noch über die Technologie, ihre massiven Landmauern schnell zu stürmen, und Manuel, der mittlerweile zwar ein alter Mann war, aber nach wie vor ein gerissener Diplomat, gelang es, mittels eines weiteren osmanischen Möchtegern-Führers im Osmanischen Reich die Gefahr eines Bürgerkriegs zu schüren. Die Belagerung wurde aufgehoben, doch Konstantinopel war nun stark angeschlagen. Es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die Osmanen abermals auf die Stadt vorrücken und eine weitere Belagerung wagen würden. Allein die Angst vor einem vereinten europäischen Kreuzzug hielt sie noch davon ab.

Konstantinopel 1453

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