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Auf einen Goldenen Apfel wirft man Steine.

Türkisches Sprichwort

Frühlingsanfang. Ein schwarzer Drachen schwebt im Wind Istanbuls. Er kreist träge um die Suleiman-Moschee, als wäre er an den Minaretten festgebunden. Von hier aus kann er eine Stadt mit fünfzehn Millionen Einwohnern überblicken und durch seine gleichmütigen Augen das Vergehen von Tagen und Jahrhunderten beobachten.

Wäre ein Vorfahr dieses Vogels an einem kalten Märztag des Jahres 1453 über Konstantinopel geschwebt, hätte er wohl einen ähnlichen Grundriss gesehen, auch wenn die Stadt noch längst nicht so dicht bevölkert war. Es ist ein bemerkenswerter Ort, er bildet ungefähr ein Dreieck, das an seiner östlichen Spitze leicht nach oben gebogen ist wie das aggressive Horn eines Nashorns und an den beiden anderen Seiten vom Meer umfangen wird. Im Norden liegt die geschützte Bucht des Goldenen Horns; die Südseite wird vom Marmarameer gesäumt, an das sich im Westen jenseits des Flaschenhalses der Dardanellen das Mittelmeer anschließt. Aus der Luft kann man die lückenlose Linie von Befestigungen erkennen, die diese beiden der See zugewandten Seiten des Dreiecks schützen, und man sieht, wie die Wogen des Meeres mit sieben Knoten gegen die Spitze des Horns schlagen: Die Verteidigungsanlagen der Stadt sind sowohl natürlicher Art als auch von Menschenhand geschaffen.

Am außergewöhnlichsten jedoch ist die Grundlinie des Dreiecks. Ein Wall aus drei hintereinander gestaffelten Mauern, die in kurzen Abständen mit Türmen versehen sind. Vor diesem Wall verläuft ein mächtiger Graben, die Befestigung erstreckt sich vom Horn bis zum Marmarameer und schützt die Stadt vor Angriffen. Dies ist die tausend Jahre alte Theodosianische Landmauer, der eindrucksvollste Schutzwall des Mittelalters. Den Osmanen erschien sie im 14. und 15. Jahrhundert als ein »Knochen im Hals Allahs« – sie stellte für sie ein psychologisches Problem dar, das ihren Ehrgeiz bremste und ihre Eroberungsträume durchkreuzte. Für die abendländische Christenheit hingegen war sie das Bollwerk gegen den Islam, das sie vor der muslimischen Welt schützte und sie in Selbstgewissheit wiegte.

Wenn man im Frühling 1453 auf diesen Ort blickte, konnte man auch die befestigte Genueser Siedlung Galata sehen, einen winzigen italienischen Stadtstaat im hinteren Teil des Horns, und genau erkennen, wo Europa endet. Der Bosporus teilt die Kontinente und durchschneidet wie ein Fluss die niedrigen bewaldeten Berge am Schwarzen Meer. Auf der anderen Seite liegt Kleinasien, Anatolien, was im Griechischen »Osten« bedeutet. Die schneebedeckten Gipfel des Olymp schimmern hundert Kilometer entfernt in mattem Licht.

Auf der europäischen Seite erblickt das Auge sanft geschwungenes Hügelland, das sich bis zur osmanischen Stadt Edirne erstreckt, die 220 Kilometer weiter westlich liegt. Und in dieser Landschaft würde das alles sehende Auge etwas Besonderes entdecken. Auf der holprigen Straße, die beide Städte verbindet, marschieren lange Kolonnen von Männern; weiße Mützen und rote Turbane bewegen sich in dichten Massen voran; Bogen, Speere, Gewehre mit Luntenschlössern und Schilde glänzen in der tiefstehenden Sonne; vorüberpreschende Kavallerieschwadronen wirbeln Staub auf; Kettenhemden klirren und knarren. Dahinter folgen die langen Reihen aus Maultieren, Pferden und Kamelen, die all die Utensilien der Kriegführung befördern und das Personal, das dafür benötigt wird – Knappen, Köche, Büchsenmacher, Geistliche, Zimmerleute und Jäger. Und hinter ihnen kommt noch etwas. Große Ochsengespanne und Hunderte Männer ziehen unter größten Mühen Geschütze über den weichen Boden. Die gesamte osmanische Armee ist auf dem Marsch.

Je weiter das Auge schweift, umso mehr Einzelheiten dieses Unternehmens werden sichtbar. Gleichsam wie im Hintergrund eines mittelalterlichen Gemäldes kämpft sich von den Dardanellen her eine Flotte von Ruderschiffen langsam gegen den Wind vorwärts. Frachtschiffe mit hohen Wänden laufen aus ins Schwarze Meer mit Holz, Getreide und Kanonenkugeln an Bord. Aus Anatolien strömen Schäfer, Marketender, heilige Männer und Vagabunden in Gruppen hinab zum Bosporus, sie folgen dem Ruf zu den Waffen, der von den Osmanen ergangen ist. Dieses vielschichtige Aufgebot von Männern und Material bildet die ineinander greifende Bewegung eines Heeres, das auf ein bestimmtes Ziel zustrebt: Konstantinopel, die Hauptstadt jenes kleinen Restes, der 1453 vom alten Byzantinischen Reich noch geblieben ist.


Die mittelalterlichen Völker, die diesen Kampf ausfochten, waren überaus abergläubisch. Sie glaubten an Prophezeiungen und hielten Ausschau nach Omen. Die alten Monumente und Statuen in Konstantinopel waren für sie Quellen der Magie. Die Menschen sahen die Zukunft der Welt in den Inschriften auf römischen Säulen, deren ursprüngliche Entstehungsgeschichte in Vergessenheit geraten war. Sie deuteten die Wetterzeichen, und der Frühling des Jahres 1453 beunruhigte sie. Es war ungewöhnlich kalt und feucht. Dichte Nebelbänke hingen noch im März über dem Bosporus. Es gab leichte Erdbeben und für die Jahreszeit ungewöhnliche Schneefälle. In einer Stadt, die in gespannter Erwartung lebte, war dies ein schlechtes Omen, vielleicht sogar ein Vorzeichen für den nicht mehr fernen Weltuntergang.

Auch die Osmanen waren abergläubisch. Ihr Ziel war der Rote Apfel, auch Goldener Apfel genannt, ein Symbol für die Beherrschung der Welt. Ihn zu erobern, danach strebte der Islam seit achthundert Jahren, eigentlich bereits seit der Zeit des Propheten, und um diesen Apfel rankten sich Legenden, Prophezeiungen und apokryphe Verkündungen. Nach der Vorstellung des anrückenden Heeres befand sich der Apfel an einem bestimmten Platz in der Stadt. Unweit der Kirche der Heiligen Weisheit stand auf einer dreißig Meter hohen Säule ein gewaltiges bronzenes Reiterstandbild von Kaiser Justinian, ein Denkmal, das die Macht des frühen Byzantinischen Reiches verkörperte und seine Bedeutung als christliches Bollwerk gegen den Osten symbolisierte. Laut Prokop, einem Geschichtsschreiber des 6. Jahrhunderts, handelte es sich um ein höchst eindrucksvolles Monument:

Das Pferd richtet den Kopf nach Osten und wirkt sehr edel. Auf dem Pferd ruht eine große Statue des Kaisers, der gewandet ist wie Achilles… seine Brustplatte ist in heroischer Art gehalten; der Helm, der seinen Kopf bedeckt, bewegt sich anscheinend auf und ab und glänzt grell. Er blickt in die aufgehende Sonne, und er reitet, so will es scheinen, den Persern entgegen. In seiner linken Hand trägt er eine Weltkugel, wodurch der Bildhauer zeigen möchte, dass die gesamte Erde und das gesamte Meer ihm untertan sind, obwohl er weder ein Schwert noch einen Speer oder eine andere Waffe bei sich trägt, abgesehen von dem Kreuz, das auf der Weltkugel angebracht ist und dem allein er sein Königreich und seine meisterliche Beherrschung des Kriegshandwerks verdankt.1

In dieser mit einem Kreuz besetzten Weltkugel Justinians vermuteten die Türken den Goldenen Apfel, und dies hatte sie hierher geführt: der Ruf des sagenumwobenen alten christlichen Reiches und die Möglichkeit, zum Herrn der Welt aufzusteigen, die er zu verheißen schien.

Die Angst vor einer Belagerung war tief verwurzelt im Denken der Byzantiner. Dies war das Schreckgespenst, das ihre Bibliotheken heimsuchte, ihre Marmorgemächer und ihre Mosaikkirchen, aber sie kannten es zu gut, um sich von ihm überraschen zu lassen. In den 1123 Jahren bis zum Frühling 1453 war die Stadt dreiundzwanzigmal belagert worden. Sie war nur einmal gefallen – nicht vor den Arabern oder den Bulgaren, sondern vor den christlichen Kreuzrittern des vierten Kreuzzugs in einer besonders grotesken Episode der Geschichte des Christentums. Die Landmauer war noch nie überwunden worden, im 5. Jahrhundert allerdings hatte sie ein Erdbeben zum Einsturz gebracht. Davon abgesehen hatte sie bisher stets standgehalten, daher durften sich die Verteidiger berechtigte Hoffnungen machen, auch diesmal den Angriff zu überstehen, als die Truppen von Sultan Mehmet am 6. April 1453 vor der Stadt aufzogen.

Was zu diesem historischen Augenblick führte und was danach folgte, ist das Thema dieses Buches. Es ist eine Geschichte von menschlichem Mut und Grausamkeit, von technischem Erfindungsgeist, Glück, Feigheit, Vorurteilen und Geheimnissen. Es berührt aber auch viele andere Aspekte einer Welt, die an der Schwelle zu großen Veränderungen stand: die Entwicklung von Feuerwaffen, die Kunst der Belagerung, Taktiken der Seekriegsführung, die religiösen Überzeugungen, Mythen und den Aberglauben der Menschen des Mittelalters. Doch in erster Linie ist es die Geschichte eines Ortes – von Meeresströmungen, Bergen, Halbinseln und dem Wetter –, vom Land, das sich hebt und senkt, und von der Meerenge, die eine so schmale Trennlinie bildet zwischen den beiden Kontinenten, dass es den Anschein hat, als würden »sie sich beinahe küssen«, und von den besonderen geologischen Merkmalen, die diesen Ort verwundbar machten. Durch die Möglichkeiten, die dieser Ort bot – für den Handel, die Verteidigung und die Beschaffung von Nahrung –, wurde Konstantinopel zum Schlüssel für imperiale Bestrebungen und lockte viele Heere vor seine Tore. »Der Sitz des Römischen Reiches ist Konstantinopel«, schrieb Georg Trapezuntios, »und wer Kaiser der Römer ist, der ist auch Herrscher der ganzen Welt«.2


Moderne Nationalisten haben die Belagerung Konstantinopels als Kampf zwischen den Griechen und den Osmanen gedeutet, doch solche Vereinfachungen sind irreführend. Keine der beiden Seiten hätte diese Deutung akzeptiert oder auch nur verstanden, wenngleich sie die jeweilige Gegenseite Griechen und Osmanen nannten. Die Osmanen, genauer gesagt der Stamm von Osman, nannten sich selbst so oder einfach nur Muslime. »Türke« war eine herabsetzende Bezeichnung, die von den westlichen Staaten verwendet wurde; der Name »Türkei« war den Osmanen unbekannt, bis er bei der Gründung der neuen Republik im Jahre 1923 aus Europa entlehnt wurde. Das Osmanische Reich war 1453 bereits ein multikulturelles Gebilde, das die Völker der von ihm unterworfenen Gebiete in sich aufsog, ohne großen Wert auf ethnische Identität zu legen. Seine Kerntruppen waren Slawen, sein führender General ein Grieche, sein Admiral ein Bulgare und sein Sultan wahrscheinlich ein halber Serbe oder Mazedonier. Aufgrund der komplizierten Regelungen des mittelalterlichen Feudalrechts begleiteten ihn Tausende christlicher Soldaten auf dem Marsch von Edirne aus. Sie wollten die Griechisch sprechenden Bewohner Konstantinopels unterwerfen, die wir heute Byzantiner nennen, eine Bezeichnung, die erstmals 1853 verwendet wurde, genau vierhundert Jahre nach der großen Belagerung. Sie galten als die Erben des Römischen Reiches und bezeichneten sich selbst daher als Römer. Ihr Befehlshaber war ein Kaiser, der zur Hälfte Serbe und zu einem Viertel Italiener war, und die Verteidiger waren zum größten Teil Menschen aus Westeuropa, welche die Byzantiner »Franken« nannten: Venezianer, Genuesen und Katalanen, die unterstützt wurden durch einige ethnische Türken, Kreter – und einen Schotten. Auch wenn es schwierig ist, den Teilnehmern der Belagerung feste Identitäten oder Loyalitäten zuzuschreiben, so gab es doch eine Dimension dieses Kampfes, die von den Chronisten nie vergessen wurde: die Frage des Glaubens. Die Muslime bezeichneten ihre Gegner als »verabscheuungswürdige Ungläubige«, »unglückselige Gottlose«, »Feinde des Glaubens«; im Gegenzug wurden sie »Heiden«, »heidnische Ungläubige« oder »die ungläubigen Türken« genannt. Konstantinopel lag in vorderster Front in einem über weite Entfernungen ausgetragenen Kampf zwischen Islam und Christentum um den wahren Glauben. Es war ein Ort, an dem unterschiedliche Versionen der Wahrheit seit achthundert Jahren aufeinandergetroffen waren, im Krieg oder im Frieden, und hier sollte im Frühjahr 1453 in einem verdichteten historischen Moment das Verhältnis zwischen den beiden großen monotheistischen Religionen um neue und dauerhafte Aspekte bereichert werden.

Konstantinopel 1453

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