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Verfassung

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Angesichts des Umfangs des Karlsreichs stellt sich die Frage nach seiner herrschaftlichen Durchdringung. Wie war es möglich, dieses riesige Land zu regieren35? Die zentrale Funktion nahm, wie in merowingischer Zeit, das Königtum ein. Ihm stand mit der Banngewalt das Recht zu, Befehle und Verordnungen zu erlassen und Verstöße dagegen zu bestrafen. In der Merowingerzeit war sein Sakralcharakter verblasst, hatte aber durch die Salbung Pippins und seiner Söhne Karl und Karlmann durch Papst Stephan II. im Jahre 754 an Bedeutung gewonnen36. Spätestens mit diesem Akt war die fränkische Königssalbung begründet. Die bislang gültige Meinung, bereits der Herrschaftswechsel von 751 sei durch eine Salbung des neuen Herrschers bekräftigt worden, stellte Josef Semmler in Frage37. Für ihn ist die zu 751 überlieferte consecratio episcoporum eher ein Segens- und Fürbittgebet. Mag Semmlers These auch umstritten sein38, so ist das Jahr 751 als Beginn der fränkischen Königssalbung doch zumindest mit Vorsicht zu behandeln. Aber für 754 ist die Königssalbung sicher bezeugt. Sie machte das Gottesgnadentum zur Grundlage der monarchischen Gewalt, das in der seit Karl üblichen Urkundenformel Dei gratia seinen Ausdruck fand. Wenngleich jeder Bewohner des Reichs dem König zur Treue verpflichtet war, kam es doch zu vereinzelten Aufständen gegen ihn. Für Karls Regierungszeit sind zwei Revolten belegt, Ausgangspunkt der zweiten war sogar sein ältester Sohn, Pippin der Bucklige. Karl reagierte, indem er 789 einen allgemeinen Treueid befahl, der offenbar dazu verpflichtete, das Leben des Herrschers nicht zu bedrohen und keine Feinde ins Land zu rufen. 802 ging er noch einen Schritt weiter, als er, inzwischen zum Kaiser gekrönt, alle Reichsbewohner erneut vereidigte und aktiven Gehorsam forderte39.

Mittelpunkt des Reiches, von dem aus der König regierte, war sein Hof, das palatium. Unter ihm verstehen wir den Personenkreis in der Umgebung des Herrschers. Einen bestimmten Ort können wir ihm nicht zuweisen, da es eine feste Residenz nicht gab, der König vielmehr von Pfalz zu Pfalz zog. Wir sprechen deshalb vom Reisekönigtum und seinem „ambulanten Regierungsstil“40. Zu den palatia zählten Quierzy, Herstal in der Nähe von Lüttich, das lothringische Diedenhofen (Thionville), Worms, Ingelheim, Düren, Nimwegen, Paderborn, Regensburg und natürlich Aachen. Dieser Ort war seit 794 Karls bevorzugte Pfalz, die er von 807 bis 814 fast ausschließlich bewohnte. Aachen gewann somit in der letzten Phase von Karls Regierung und unter Ludwig dem Frommen den Charakter einer Residenz. Über die Struktur des Hofs berichtet Erzbischof Hinkmar von Reims in seiner Schrift De ordine palatii41. Das Werk ist zwar erst 882 entstanden, fußt aber sehr wahrscheinlich auf älteren Aufzeichnungen. Den Kern des Hofes bilden die Hofämter der Merowingerzeit: Seneschall, Kämmerer, Stallgraf und Schenk. Der auch Truchsess genannte Seneschal (senescalcus) war für Versorgung und Unterhalt des Hofs zuständig; der Kämmerer (camerarius) beaufsichtigte Schatz und Schatzkammer; der Stallgraf (comes stabuli) kümmerte sich um den königlichen Pferdestall und das Transportwesen; der Mundschenk (princeps oder magister pincernarum, auch buticularius) trug die Verantwortung für die Getränke. Es versteht sich von selbst, dass das Amt des Hausmeiers seit Absetzung der Merowinger nicht mehr existierte. Ferner gab es den Pfalzgrafen (comes palatinus), der Beisitzer im Königsgericht war, ihm aber auch bei Abwesenheit des Herrschers vorsitzen konnte. Die Inhaber der Hofämter waren in ihrem jeweiligen Aufgabenbereich nicht auf die Pfalz und ihre nähere Umgebung beschränkt, sondern für das gesamte regnum zuständig. Neben den weltlichen gab es auch geistliche Hofämter. Diese bildeten die Hofkapelle, die für den Gottesdienst sorgte und die Kanzlei umfasste, der die Urkundenausstellung oblag42. Erklären lässt sich dies daraus, dass seit dem Ausgang der Merowingerzeit die schriftliche Verwaltung zu einer Domäne der Geistlichkeit geworden war. Hatten zuvor in spätantiker Tradition romanische Laien, referendarii, die Königsurkunden augestellt, so sind es nun mit den Notaren oder cancellarii Angehörige der Hofkapelle. An der Spitze der Kapelle steht der Erzkaplan, die Kanzlei wird vom Kanzler geleitet. Vorsteher der Kapelle waren in jener Zeit die Äbte Fulrad und Hilduin von Saint-Denis sowie die Bischöfe Angilram von Metz und Hildebald von Köln. Wie auch der Kanzler wurden sie in der Regel mit politischen Aufgaben betraut, so dass ihr Wirkungskreis den des Hofdienstes weit überschritt.

Neben den Inhabern der Hofämter umgab sich der König mit einem Kreis von Vertrauten, dessen Zusammensetzung zu Kritik führen konnte, wenn der Eindruck entstand, der Herrscher werde einseitig beraten. Wichtige Entscheidungen blieben jedoch nicht dem König oder seinem Hof vorbehalten. Um ihre Akzeptanz zu gewährleisten, wurden sie auf einer Reichsversammlung beraten, zu der einmal im Jahr die Großen gemeinsam mit dem Heeresaufgebot zusammentraten. Zumeist waren sie auch mit einer Reichssynode verbunden. Einer der bedeutendsten Beschlüsse, die von einer solchen Versammlung getroffen wurden, war die Ordinatio Imperii, die 817 die Nachfolge Kaiser Ludwigs des Frommen regelte und dem Gedanken der Reichseinheit Ausdruck verlieh43. Darüber hinaus konnten hier auch die Kapitularien verkündet werden44. Eine königliche Gesetzgebung gab es schon in der Merowingerzeit, jedoch seit dem 7. Jahrhundert weniger häufig. Sie lebte mit dem Herrschaftsantritt Pippins wieder auf, der seinerseits an Reformdekrete der Hausmeier anknüpfen konnte. Da diese Erlasse in Kapitel gegliedert waren, werden sie als Kapitularien bezeichnet. Sie konnten Themen jedweder Art behandeln, ihre Gültigkeit erstreckte sich in der Regel auf das gesamte Reich. An ihrer Funktion orientiert sich die Unterteilung in die capitula legibus addenda, die die Volksrechte ergänzten, die capitula per se scribenda, die eigentlichen königlichen Erlasse, und die capitula missorum, Anweisungen an die Königsboten. Ein offizielles Register der Kapitularien gab es nicht, sondern nur private Aufzeichnungen, deren bekannteste – die des Benedictus Levita – zum größten Teil aus Fälschungen besteht45.

Die soeben erwähnten Königsboten waren ein effizientes Instrument des Herrschers, sein Reich vom Hofe aus zu regieren46. Ein genau umrissener Amtssprengel, das missaticum, war jeweils zwei missi, einem geistlichen und einem weltlichen zugeordnet. Oftmals handelte es sich bei dem geistlichen Königsboten um den zuständigen Bischof, wie auch die missatica nicht selten den Diözesen entsprachen. In ihren Bezirken überwachten die Königsboten Verwaltung und Justiz, nahmen den Treueid ab und konnten auch selbst Recht sprechen. Sie waren das Bindeglied zwischen König und Lokalgewalten, den schon seit der Zeit der Merowinger belegten Grafen. Karl Ferdinand Werner wies darauf hin, dass es missatica nur in den Kerngebieten des Frankenreichs gab47. Ursprünglich standen zwischen den Grafen und dem Herrscher die Herzöge, duces, die vor allem im Osten des Frankenreichs in eine vizekönigliche Stellung gelangt waren und ehemals eigenständigen Völkern vorstanden, wie den Alemannen, Thüringern oder Bayern. Ein Dukat nach dem anderen wurde von den Karolingern ausgeschaltet, zuletzt 788 das bayerische Herzogtum. Als neue Zwischengewalt wurden seit dem 8. Jahrhundert in den Gebieten außerhalb des fränkischen Kernraums die regna eingerichtet, für die wir den Begriff „Mittelgewalten“ verwendet können48. An ihrer Spitze standen manchmal, aber nicht immer Unterkönige: Seit 781 regierte Karls Sohn Pippin im langobardischen Nord- und Mittelitalien, Ludwig in Aquitanien, das in jener Zeit die Gebiete zwischen Loire, der unteren Rhône, dem Mittelmeer und den Pyrenäen umfasste. Eine Sonderstellung nahm auch Bayern ein, an dessen Spitze Karl nach Ausschaltung des Herzogs einen Statthalter mit dem Titel eines Präfekten stellte. Ludwig und Pippin waren zwar gesalbte Könige, gegenüber dem Vater aber weisungsgebunden. Das Verhältnis wurde ausschließlich vom Recht des Vaters und der Verpflichtung der Söhne zum Gehorsam ihm gegenüber bestimmt. Aquitanien und das langobardische Italien waren (wie auch Bayern) Regionen, die nur behutsam der karolingischen Herrschaft eingegliedert werden konnten. Die Einsetzung und Ausstattung von Königen sollte die Integration fördern.

Als regionale Machthaber fungierten die Grafen. Der Amtscharakter wurde von Karl dem Großen betont, doch musste er auch auf die regionalen Verhältnisse und Ansprüche der dort ansässigen Großen Rücksicht nehmen, „so dass sich im Ergebnis die forcierte Zentralisierung und der Machtzuwachs des Adels allenfalls die Waage hielten“49. Wir dürfen davon ausgehen, dass das Frankenreich trotz aller Bemühungen zu jener Zeit nicht von einem lückenlosen Grafschaftsnetz überzogen war; Ausnahmen gab es vor allem in den größeren Wald-, Gebirgs- und Grenzregionen. Die genaue Ausdehnung der Komitate kennen wir nicht. Sie scheinen jedoch eher klein gewesen zu sein, so dass ihre Inhaber nicht allzu mächtig werden konnten. Insgesamt dürften mehrere hundert Grafschaften existiert haben, die zum Teil nochmals untergliedert waren, und zwar in Hundertschaften, denen als Unterbeamter der romanische vicarius oder der germanische centenarius vorstand. Erst im Laufe des 9. Jahrhunderts taucht, vor allem im Westfrankenreich, der vicecomes auf.

Mehrere Grafschaften in einer Hand zu vereinen, war unzulässig. Ausnahmen gab es in den Grenzregionen, wo Karl mehrere Komitate zu Markgrafschaften zusammenfasste, deren Vorsteher, die Markgrafen, eine größere militärische Selbstständigkeit besaßen. Gegen die Bretonen wurde die Bretonische Mark gegründet. Ihr bekanntester Befehlshaber, Roland, fand 778 bei Roncesvalles in den Pyrenäen den Tod und wurde zum Helden des Rolandslieds. Im Südosten gab es eine ganze Reihe von Marken, von denen die bayerische Ostmark bleibenden Bestand hatte: Im 12. Jahrhundert ging aus ihr das Herzogtum Österreich hervor. Eine Spanische Mark dürfte es hingegen, wie bereits angesprochen, als administrative Einheit wohl nie gegeben haben50.

Als Sachwalter des Königs nahm der Graf Aufgaben militärischer und polizeilicher Art war, er trieb die Steuern ein und sprach Recht. Gleichwohl konnte er in der Regel nicht seinen gesamten Amtsbezirk erfassen. Bedingt war dies durch das Rechtsinstitut der Immunität, mit dem vor allem Bistümer und Klöster ausgestattet waren. Die Immunität, die in der Spätantike entwickelt wurde und ursprünglich die kaiserlichen Domänen von öffentlichen Abgaben und Lasten befreite, bestand aus drei Elementen: Sie verbot dem königlichen Amtsträger, in der Regel dem Grafen, den mit Immunität ausgestatteten Bezirk in amtlicher Eigenschaft zu betreten (introitus), dort Abgaben zu erheben (exactio) oder Zwangshandlungen gegen deren Insassen auszuüben (districtio). Für die Rechtsprechung im Immunitätsbezirk und zur gerichtlichen Vertretung nach außen bestellte der Bischof oder Abt einen Vogt.

Ein Kennzeichen der Welt des frühen und hohen Mittelalters ist die Symbiose von weltlicher und geistlicher Sphäre51. Wir sprachen bereits davon, dass die Kanzlei von geistlichen Kräften gebildet wurde. Wichtige Ratgeber im Entourage des Königs stammten aus dem Episkopat. Karl selbst verstand seine Würde auch als oberste rechtliche und administrative Instanz für die Kirche. Die geistlichen Königsboten wachten über die Einhaltung des Kirchenrechts, und Kapitularien betrafen auch religiöse Fragen. Eine Reichskirche, wie sie Ludwig der Fromme durch die Verbindung von Schutz- und Immunitätsprivileg schaffen sollte, gab es unter Karl dem Großen hingegen noch nicht. Aber Karl nutzte die sich bietenden Gelegenheiten, um Klöster in seine Herrschaftssphäre einzubeziehen. Dies umso mehr, wenn sie in militärisch wichtigen Operationsgebieten, etwa gegen die Sachsen, lagen. Das an römischen kirchlichen Normen orientierte Wirken des Bonifatius hatte zur Romverbundenheit der fränkischen Landeskirche geführt52. Sein Bemühen, die unter den späten Merowingern verfallene Metropolitanverfassung wiederherzustellen, war jedoch nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Karl der Große nahm sie erneut in Angriff. Zunächst wurden Reims, Mainz und Bourges zu Metropolen erhoben und dieses Amt regelmäßig mit der Würde des Erzbischofs verbunden, der vom Papst das Pallium erhielt. Beim Tod des Kaisers gab es ein lückenloses Netz von Kirchenprovinzen. Wir können es seinem 811 abgefassten Testament entnehmen, in dem 21 Erzbischöfe mit gleichen Anteilen bedacht werden. Wieder ist es Einhard, der die Verfügung überliefert53:

„In dieser Absicht und zu diesem Zwecke hat er alles Hab und Gut, was sich in Gold, Silber, Edelsteinen und königlichem Schmuck an jenem Tage, wie gesagt, in seiner Schatzkammer vorfand, zuvörderst in drei Teile geteilt, dann durch nochmalige Teilung aus jenen beiden ersten einundzwanzig Teile gemacht, den dritten aber ganz gelassen. Und die Teilung der beiden ersten Teile in einundzwanzig ist darum geschehen, damit, weil in seinem Reiche einundzwanzig Metropolitanstädte sind, durch die Hand seiner Erben und Freunde ein Teil als fromme Schenkung jeder Metropole zukomme, der jeweilige Erzbischof in derselben aber den seiner Kirche zufallenden Teil in Empfang nehme und mit seinen Suffraganen in der Weise teile, daß ein Drittel seiner Kirche verbleibt, zwei Drittel aber unter seine Suffraganen verteilt werden. Von diesen Teilen, die aus den beiden ersten Hauptteilen gemacht sind und nach der Zahl der Metropolitanstädte einundzwanzig betragen, liegt jeder von dem andern abgesondert an seinem eigenen Verwahrort mit der Aufschrift der Stadt, der er zufallen soll. Die Namen der Metropolen, an welche diese fromme Schenkung zu machen ist, sind folgende: Rom, Ravenna, Mailand, Cividale del Friuli, Grado, Köln, Mainz, Salzburg, Trier, Sens, Besançon, Lyon, Rouen, Reims, Arles, Vienne, Moutiers-en-Tarentaise, Embrun, Bordeaux, Tours und Bourges.“

Zu diesen 21 Sitzen kam 813 noch Narbonne hinzu, und unter Ludwig dem Frommen wurde das Erzbistum Hamburg gegründet, das als Basis für den Ausgriff nach Skandinavien diente. Erfasst wurde nicht nur der gallorömische, sondern mit Köln, Mainz und Salzburg auch der germanische Raum. Rom wird in Karls Testament zwar an erster Stelle genannt, doch handelt es sich nur um einen Ehrenvorrang.

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