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KAPITEL 5 Eric der Eber

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Deutschland, November 2003

Irgendetwas sehr Lebendiges, Großes und verzweifelt um sich Schlagendes fällt auf mich.

Es ist verrückt, auch nur zu versuchen, den Reißverschluss aufzuziehen, da alles wild herumgeschleudert wird. Das Biwakzelt knallt gegen einen Baum und ich bekomme einen Schlag auf den Kopf. Ich lasse die Taschenlampe fallen und werde im Dunkeln zusammengequetscht. Zum Glück ist die Taschenlampe in Reichweite geblieben.

Schließlich gelingt es mir, den straff gespannten Reißverschluss zu öffnen, und ich falle vor Verblüffung fast tot um. Ich bin noch immer verängstigt, aber ich muss auch unwillkürlich lachen. Vor mir, fast ebenso stark zitternd wie ich, während er mich aus kleinen, schwarzen, kurzsichtigen Augen ansieht, mit einer fein behaarten, zuckenden Schnauze und einem Paar kleiner Hauer, steht ein Eber. Er scheint noch jung zu sein, auch wenn er groß ist und offenbar aus Versehen mit meinem Zuhause zusammengeprallt ist. Vermutlich auf der Suche nach Trüffeln oder Ähnlichem. Er sieht so süß aus, aber ich habe gehört, dass Wildschweine gefährlich sind. Er hat sich mit den Hufen in den Zeltleinen verheddert, die bei dem Biwakzelt sehr niedrig sind, und er dreht sich im Kreis, bis er das Biwakzelt fast wie einen Umhang trägt. Wir sind beide zu eingezwängt, um uns zu bewegen. Ich habe gehört, dass man, wenn man es mit Bären zu tun hat, was mir noch nie passiert ist, mit ihnen reden soll, daher sage ich: »Es ist alles gut, Eric …« – der erste Name, der mir in den Sinn kommt – »… ich will keinen Speck zum Frühstück. Obelix isst vielleicht drei Wildschweine zum Frühstück, aber ich nicht!«

Ich bin tief besorgt, dass das Biwakzelt verwüstet wird, aber jetzt steht er stocksteif da. Ich selbst kann mich auch kaum bewegen. Es kommt mir vor, als ob Stunden vergangen sind, obwohl es erst ein paar Augenblicke her ist, seit Eric mit meinem Zelt zusammengestoßen ist. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal mit einem Wildschwein unzertrennlich verbunden sein würde. Schließlich opfere ich eine der Zeltleinen und durchtrenne sie mit meinem kleinen Messer. Eric schüttelt sich, als wollte er sehen, ob er wirklich befreit ist, dann zuckt er einmal kurz mit seinem kleinen Schwanz und stürmt mit einem letzten Schnauben davon.

Es ist lang nach der Morgendämmerung. Sonnenschein fällt durch die goldenen Blätter der Eichen. Alles ist vom Regen durchnässt, der aufgehört hat, ohne dass ich es bemerkt habe.

Ich werde Eric den Eber und die Lektion, die er mir erteilt hat, nie vergessen. Das hier ist eine facettenreiche Reise, nicht nur ein Lauf. In Zukunft binde ich kleine weiße Schleifen an die Zeltleinen, um alle kurzsichtigen Geschöpfe zu warnen, dass ich hier bin. Wilde Tiere greifen einen nicht oft an, aber es lohnt sich nicht, sie zu erschrecken. Ich bin dabei, zu lernen, dass sie nicht scharf auf einen Kampf sind, da sie selbst nicht verletzt werden wollen. Es ist nicht lustig, ein verwundetes Raubtier zu sein, denn auf die Weise kriegt man nichts zu fressen. Aber ich muss eine erneute Konfrontation vermeiden, selbst eine wie die mit dem Beeren und Trüffel fressenden Eric, egal, wie gut wir letztendlich miteinander auskamen, denn die Ausrüstung würde das nicht noch einmal überleben.

Ich schaffe es, mein Zeug einzusammeln; es ist ziemlich schlammig und muss geflickt werden. Ich habe keine Lust, darin zu schlafen, bevor ich es sauber gemacht habe, aber ich könnte es tun – es ist nicht allzu schlimm. Ich packe alles zusammen und laufe gut 35 Kilometer bis Leer, die erste deutsche Stadt. Ein absolut entzückender Anblick bietet sich mir: ein Hotel mit hübschen Blumenkästen, der Wärme und dem Geruch von heißem Kaffee und Schildern für selbst gemachten Apfelstrudel und köstliche deutsche Würstchen mit Sauerkraut.

Ich greife nach meinem Notvorrat an Euros, den mein Bruder Nicolas mir mitgegeben hat, bevor ich aufgebrochen bin. Der Geschäftsführer, in einem schwarzen Jackett und einer Nadelstreifenhose, schnappt sich meinen durchnässten, schlammverkrusteten Rucksack, als wäre er ein Gucci-Gepäckstück – nur vierzig Euro mit Frühstück, sagt er. Er tänzelt mit mir die mit Teppich ausgelegte Treppe hoch, führt mich in ein Zimmer mit einem Himmelbett und zeigt auf das geräumige Bad. Ich bin so froh, dass er nicht eine halbe Stunde später wieder auftaucht. Er hätte das Zimmer nicht wiedererkannt: Meine Schlafsäcke hängen über Plastiktüten, die die Tropfen auffangen sollen, und schlammverschmierte Leggings liegen überall verstreut. Das Tolle an Hotelzimmern ist, dass sie der Ausrüstung ebenso guttun wie dir selbst. Ich leere eine kleine Flasche Sekt, die er aufmerksamerweise neben das Bett gestellt hat, und sinke rasch in den Schlaf.

Mein längster Lauf

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