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KAPITEL 9 Ein Fremder ist Familie

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Polen, Dezember 2003

In Polen ist es ein Brauch, an Weihnachten einen zusätzlichen Platz für den »unbekannten Gast« zu decken. Es ist am frühen Morgen von Heiligabend, als ich herausfinde, wie wahr das ist. Ich bin durch ein Schneetreiben und einen Sturm gelaufen, die eben nachgelassen haben, als ich eine winzige Gestalt sehe, die mir hinterherstürzt, wobei sie einen Wirbelwind aus Schnee aufpeitscht. Hinter ihr her laufen ein kleines Mädchen mit Schneeflocken in den Locken, die unter ihrer Wollmütze hervorschauen, und ein kleiner Hund mit wedelndem Schwanz, der sich wie ein Miniatur-Schneepflug durch den Schnee kämpft, die Beine zu kurz, um über die Schneewehen zu springen.

»Nesoey Sisiat!«, ruft sie, »Frohe Weihnachten!« Anders als die meisten Leute in dieser Gegend spricht sie perfekt Englisch. Dorota, ihre Tochter Kasia, acht, und ihr süßer kleiner Hund Eny bringen mich zu ihrem Zuhause in Budry, ein kurzes Stück entfernt. Ich folge ihnen sehr gern. Offenbar haben sie das Gefühl, mich verwöhnen zu müssen. Sie wussten nicht einmal, dass ich komme, haben mich aber in der Ferne entdeckt.

»Niemand sollte an Weihnachten allein sein«, erklärt Dorota.

Das Gebäude ist ein hohes ex-kommunistisches Labyrinth von kleinen Wohnungen. Das Äußere ist grau, brutal funktional, wie die kommunistischen Gebäude, die in Deutschland, Albanien und Rumänien überlebt haben und die ich auf einer früheren Reise gesehen habe. Aber drinnen ist es völlig anders: Polnische Kerzen der ­Hoffnung und für den Geist von Weihnachten stehen auf den Regalen und Tischen. Es duftet nach frisch Gebackenem. Süßlich riechende Tannenzweige, Glöckchen und Lametta schmücken das Wohnzimmer für die Weihnachtszeit; kleine Tannenzweige hängen über Regalen mit Büchern in polnischer und englischer Sprache. Sie haben sogar The Pickwick Papers und Oliver Twist.

Sie wollen, dass ich bis zum ersten Weihnachtsfeiertag bleibe. Weihnachten wird traditionellerweise in einem engen Kreis gefeiert und doch wird einer Fremden wie mir so viel Zuneigung und Gastfreundschaft entgegengebracht. »Ein Fremder ist nie ein Fremder«, erklärt Dorota. »Ein Fremder ist Familie.« Ich bin so gerührt und doch muss ich wieder zurück auf die Straße.

Und so verwöhnen sie mich mit einem Heiligen Abend, den ich nie vergessen werde. Sie legen Musik auf und servieren mir Karpfen, den ihre Freunde gefangen haben. Er ist köstlich gebacken und, wie ich erfahre, das traditionelle Weihnachtsessen in diesem Teil Polens. Und wir essen Moczka, einen süßen Pudding, der nach Mohn, Nüssen und Trockenfrüchten schmeckt. Dorota hat einen Computer und schickt die erste Nachricht an die Website. Ich schreibe auch eine E-Mail an James und Eve. Ich hätte mir kein schöneres Weihnachtsgeschenk wünschen können. Bevor ich aufbreche, bindet Kasia etwas Lametta an meinen Rucksack. »Als Glücksbringer«, erklärt sie. Sie überhäufen mich mit Köstlichkeiten, bevor sie mich umarmen und verabschieden.

Schließlich gibt es doch noch eine Party, denn die Elstern und Stare sind fasziniert von Kasias Lametta und tauchen immer wieder auf und suchen nach einer Gelegenheit, es zu stibitzen. Die Kuchenkrümel sorgen dafür, dass die Spatzen und Finken meiner Spur noch eifriger folgen als sonst, da die Kost so erlesen ist. Sie sind noch immer Clives kleine »gefiederte Hooligans«.

Es sind dreißig Kilometer bis zur nächsten Stadt, Gołdap, dem einzigen größeren Ort in dieser Gegend. Ich habe eine gute Strecke zurückgelegt und jetzt laufe ich zwischen dem geschäftigen Treiben und Last-Minute-Einkäufern hindurch. Ich bin, wie immer, besorgt wegen meines Budgets und mir ist ohnehin nicht danach, Weihnachten in einem Hotel zu verbringen. Ich laufe weiter, bis ich einen schönen Wald erreiche, und zelte auf einer weiten Lichtung.

Ich schlafe tief und fest und wache früh am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags auf. Es ist ein kalter Morgen, 21 Grad minus, aber die Luft ist frisch und klar. Ich bin warm angezogen und ein blasses Band aus Gold um den Rand des Himmels treibt mich an. Ich stehe auf und laufe los. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass ich weiterkommen muss, weiterlaufen an diesem besonderen Tag, auch wenn ich nicht weiß, warum …

Ich bin noch nicht weit gekommen, als ein Wagen neben mir hält und ein Paar in mittleren Jahren aussteigt. Sie halten eigens an, um mit mir zu reden, mit bedrückten Mienen. Sie sprechen Französisch, was ich verstehe, und sagen irgendetwas davon, dass sie schon so lange nach einem Zeichen suchen. Sie umarmen mich, scheinen überwältigt, mich zu sehen. Sie wollen mir ihre E-Mail-Adresse geben. Nachdem sie weitergefahren sind, sehe ich, was sie in mein Buch geschrieben haben: »Unser Sohn Guillamine hat sich am 30. Oktober 2003 das Leben genommen, um bei seinem großen Vater im Himmel zu sein. Sie sind uns als ein wundervoller Stern und eine Botschaft der Liebe erschienen. Sie haben uns Hoffnung gegeben.«

Es ist schwer, darüber zu schreiben. Ich weine und weine, was ich sonst nie tue. Ich weiß eigentlich nicht, warum sie gesagt haben, dass ich ihnen Hoffnung gegeben habe. Wenn ja, dann freut es mich. Meine Stimmung hebt sich bei dem Gedanken an Action und ich beschließe, über Weihnachten für Guillamine zu laufen, an diesen Mann zu denken, den ich nie kennengelernt habe und nie kennenlernen kann, und an seine Eltern, Christian und Elizbieta. Ich glaube tatsächlich, dass es helfen kann, an jemanden zu denken. Gedanken und Gebete sind mächtige Botschafter. Diese beiden haben mein Leben berührt und mir mehr Mut gegeben. Das Hin und Her zwischen dem Gefühl, dass meine Familie hier bei mir ist, und der Einsamkeit, die mich wie ein Messer schneidet, ist verflogen. Vielleicht weil es mir vor Augen geführt hat, dass ich so vieles habe.

Am nächsten Tag erreiche ich Dubeninki und lerne eine wundervolle Dame namens Bozenna kennen. »Sie müssen zum Essen zu mir nach Hause kommen«, begrüßt sie mich, »aber zuerst gehen wir in die Kirche.« Die riesige Kirche ist zum Bersten gefüllt, die Leute stehen Schulter an Schulter. Der Gesang ist mächtig und aufwühlend, jede Stimme aus dem dichten Gedränge fällt mit ein. Es gibt Gitarrenmusik und Kinder, die singen, und ganz zum Schluss die Taufe eines drei Wochen alten Babys.

Es war immer mein Grundsatz, nie spätabends eine Grenze zu überqueren, da ich in einem neuen Land und mir nicht sicher sein würde, wie ich alles handhaben musste. Ich schlafe auf dieser Seite der litauischen Grenze unter Bäumen, die unter dem Gewicht des Schnees ganz gebogen und geknickt sind. Ein Baum ächzt, aber ich kann nicht sagen, welcher, und ich bin so müde, dass ich nicht umziehe. Ich hoffe, dass er nicht auf mich stürzen wird und dass alles gut geht.

Mein längster Lauf

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