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KAPITEL 8 Die Sterne berühren

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Polen, Dezember 2003

Am 9. Dezember sind es zwanzig Grad minus, aber es ist ein schöner Morgen. Ich bin zu ehrgeizig, als ich in der Kälte des Waldes meine Wäsche wasche. Meine Socken fühlen sich an, als ob sie anfangen, allein um die Welt zu laufen, daher nutze ich die Gelegenheit, sie in Wasser zu waschen, das ich aus geschmolzenem Schnee gewonnen habe. Um kein Wasser zu verschwenden und da ich stolz auf meine Genügsamkeit bin, versuche ich, mir die Haare zu waschen, die feucht, halb gefroren und klebrig von gefrorenem Schweiß sind. Die Haarspitzen, die unter meiner schlammverschmierten Schlupfmütze hervorschauen, sind verkrustet von dem Schmutz vorbeifahrender Lastwagen, die auf matschigen, vereisten Straßen schmuddeligen Schnee an mir hochgespritzt haben. Was für ein Fehler. Meine Haare sind gefroren, noch bevor ich das Shampoo herausbekommen kann, und stehen vom Kopf ab, sodass ich wie ein Punkrocker mit Eiszapfen als Ohrringen aussehe. Als ich zurück zu meinen Socken komme, sind sie hart gefroren. Ich hatte sie außen an meinen Rucksack gebunden und vergessen, dass ich Sachen nie auf diese Weise trocknen kann, wenn es eiskalt ist. Sie sind so hart, dass ich sie auseinanderbrechen muss.

Sicherheit kann nur daraus entstehen, dass man dort draußen in den Wäldern verletzlich ist und lernt, damit umzugehen. In den meisten Nächten muss ich aus Budgetgründen und wegen der großen Entfernungen zwischen den Orten draußen schlafen und ich habe mir angewöhnt, mein Biwakzelt nicht als ein McDonald’s, sondern als ein winziges Hotel Sheraton anzusehen. Es muss alles enthalten, was ich brauche, denn Cafés und andere Sicherheitsnetze werden von jetzt an immer dünner gesät sein. Während die Tage kürzer und die Bedingungen härter werden, kann man die Kilometer im Grunde nur in einer Art 24-Stunden-Rhythmus bewältigen. Ein paar Stunden laufen, dann anhalten, ausruhen und wieder weiterlaufen, wie bei einer Nachtwache auf See oder Schichtarbeit. Daher ist das Biwakzelt sehr praktisch. Zusammenrollen, schlafen und los.

Einfache Dinge und Hightech-Gegenstände arbeiten Hand in Hand zusammen. Ein Bleistift ist unerlässlich für Notizen, denn er schreibt noch lange, nachdem die Tinte in Füllern und Kugelschreibern gefroren ist. Vaseline eignet sich gut, um die Haut zu schützen, vor allem an den Füßen. Ich habe einen kleinen violetten Fleck von einer leichten Erfrierung an einer Zehe. Das ist an dem einen Morgen passiert, an dem ich vergessen habe, die Vaseline aufzutragen. Meine Füße wurden auch richtig kalt, als ich versucht habe, in Stiefeln zu laufen, und der gefrorene Schweiß darin nicht trocknen konnte. In meinen Saucony-Laufschuhen fühle ich mich weitaus wohler, vor allem, wenn ich sie an die eisigen Bedingungen anpasse. Ich lege sie mit Kaninchenfell aus und mache sie mit einem Spray wetterfest. Sie sind leicht genug, um in ihnen zu laufen, verursachen mir keine Blasen und können nachts im Schlafsack getrocknet werden.

Ich gewöhne mir an, Wasser zu erwärmen und in eine Trinkflasche abzufüllen und nachts Socken um diese Wärmflasche zu wickeln oder sie darüber zu ziehen. Anders als Gummiwärmflaschen hat sie genau die richtige Form für Socken und kann auch in meine Schuhe gesteckt werden, um diese zu wärmen, bevor ich sie anziehe, was sich wirklich herrlich anfühlt.

Auch wenn ich mittlerweile mehr Federn habe als ein Falke, liebe ich meine brillante Kleidung mit Daunenfeder-Gortex-Prinzip. Die äußeren Schichten sind kalt und eisig oder feucht, aber die inneren Schichten aus Daunenfedern, wie die von Vögeln, sind immer trocken und meine Haut ist warm. Meine Körperkerntemperatur ist stabil und gut.

Mein Training sinkt zu purer Dekadenz ab, als ich am 13. Dezember 2003 Gdansk (Danzig) erreiche. Ein Rosie-Paket wurde an Allianz Polska geschickt. Die Mitarbeiter öffnen ihr Büro sogar an einem stürmischen Sonntag, um mich zu begrüßen und mir das Paket zu überreichen. Obwohl er seit Jahren Chief Investment Officer bei Allianz Cornhill ist, ist Geoffs Geisteshaltung noch immer dieselbe wie damals, als er Student war und lernen musste, sechs verschiedene Bustypen zu fahren, um sich für einen Job bei den australischen Verkehrsbetrieben zu qualifizieren. Wenn Geoff sagt, dass er helfen wird, dann meint er es ernst: Er ist ein Läufer und kümmert sich darum, dass ich mein Ziel erreiche.

Irgendwie gelingt es mir, die unerlässliche neue Ausrüstung in den Rucksack zu stopfen, darunter den großen zusätzlichen Schlafsack für die nächste harte Etappe, Schuhe, ein paar Vorräte und wetterfeste Leggings. Der Rucksack ist fast zum Bersten gefüllt und wiegt jetzt 23 Kilo.

An jenem Abend laden mich die Assistentin des Geschäftsführers, Isabella, und ihr Freund Darek in ein fabelhaftes russisches Restaurant in der Stadt ein, zu Kaviar und frischem Fisch aus der Bucht, hinuntergespült mit polnischem Wodka und schwarzem Johannisbeersaft. Darek sagt, es ist nur »Wodka-Sparring«, da der polnische Wodka nicht so stark ist wie der russische. »Nur ein Training«, ergänzt er. Er ist sehr energiespendend, aber ich habe noch nie so tief und fest geschlafen. Ich rolle mich auf dem Sofa ihrer gemütlichen Wohnung zusammen, gehätschelt und behütet von ihrem schönen schwarzen Hund Myrto. Am Glück ihrer Tiere lässt sich ablesen, wie Menschen sind.

Ich bin fast die ganzen zwei Wochen vor Weihnachten in der Wildnis unterwegs, auf dem Weg zur litauischen Grenze. Diese Etappe meiner Reise wird seltsam und metaphysisch. Ich spüre, dass meine Familie mit mir geht, so stark, dass ich glaube, wenn ich mich im dunklen Wald umdrehe, werde ich sie sehen. Und ich tue es, deutlicher als zu der Zeit, als wir tatsächlich zusammen waren. Am 19. Dezember ist der zweite Geburtstag meines Enkels Michael. Ich freue mich für Michael, aber gleichzeitig bin ich traurig, dass ich nicht bei ihm sein kann. Er ist so wundervoll und ich will nichts mehr, als ihn zu umarmen. Ich lade das Satellitentelefon eigens auf, damit ich Happy Birthday für ihn singen kann.

Zwei Tage vor Weihnachten, nahe der litauischen Grenze, liege ich da, den Kopf aus dem Biwakzelt gesteckt, in meine dickste Jacke gepackt und die Kapuze fest zugezogen. Es ist eine solch wunderschöne, klare, mondbeschienene Nacht. Ich kann Tausende von Weihnachtsbäumen sehen.

Sternenlicht fällt wie glänzende Kristalle über die dunklen, majestätischen Tannen und Silberbirken. Ich starre zu dem Himmel über der Waldlichtung hoch. Der Sirius strahlt hell und ich kann den Oriongürtel und eine Million anderer Sterne sehen. Ich benenne die Sterne nach meiner Familie – Eve, Peter, James, Michael, Marianne – und all den Menschen, die ich liebe. Ich denke an all die Welten dort draußen, die mit all ihrer Kraft auf die Erde hinunterscheinen. Sie alle sind so weit entfernt, dass die Zeit kaum noch eine Rolle zu spielen scheint. Alles, was je passiert ist, ist hier, ein Teil des Jetzt, und verleiht mir Kraft. Bald werde ich zu Hause sein, sage ich mir. Die Zeit ist eine Freundin.

Mein längster Lauf

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