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Göttersommer

Sascha Kersken

© Copyright 2016 by Sascha Kersken • Alle Rechte vorbehalten

Titelfoto und –gestaltung: Tülay Kersken


Before the time I did Lysander see,

Seem’d Athens as a paradise to me:

O, then, what graces in my love do dwell,

That he hath turn’d a heaven unto a hell!

-- William Shakespeare: “A Midsummer Night’s Dream,” Act I, Scene I

I. Donnerstag

Seufzend ließ sich Dustin Graham auf sein noch unberührtes Hotelbett sinken. Es war wieder ein harter Verhandlungstag gewesen; keine der beiden Parteien hatte sich auch nur einen Millimeter auf die andere zu bewegt. Er fuhr sich mit den Händen durch sein ergrauendes, verschwitztes Haar, stand wieder auf und trat ans Fenster.

Der zwölfte Stock des Athener Hilton, gegenüber der Nationalgalerie, bot einen atemberaubenden Blick über die Stadt, aber Dustin bemerkte nichts davon. Obwohl die Sonne vor einer Viertelstunde untergegangen war, herrschten an diesem Donnerstagabend draußen sicherlich noch über fünfunddreißig Grad. Selten war Graham so dankbar für eine Klimaanlage gewesen.

Er ging zu dem kleinen, mahagoni­farbenen Hotelzimmer­schreibtisch, nahm den Hörer des Telefons ab und drückte die Taste für die Rezeption.

„Parakalo?“, kam es aus dem Hörer.

„Guten Abend“, sagte Dustin, „hier spricht Graham, Zimmer 1235. Bringen Sie mir bitte eine Flasche Champagner aufs Zimmer, Ihre beste Sorte.“

„Sehr wohl, Sir“, antwortete der Rezeptionist in tadellosem Englisch.

Dustin setzte sich auf den einzigen Stuhl des Zimmers und begann, die Financial Times zu überfliegen. Der Dow Jones hatte sich nach einigen Turbulenzen wieder erholt, aber der Euro schien weiter in freiem Fall begriffen. Der Leitartikel beschäftigte sich mit den Athener Verhandlungen; der Internationale Währungsfonds wurde erwähnt, seine Position kritisiert, aber Graham selbst wurde nicht beim Namen genannt. Eines der Privilegien, wenn man in einer großen Organisation nur in der zweiten Reihe stand, die zwar die eigentliche Arbeit erledigte, aber nicht für deren Repräsentation nach außen zuständig war.

Während er zu den Kursen der Waren­termin­börsen weiterblätterte, klopfte es an der Tür. „Herein!“, rief Dustin.

Ein junger Mann in einer adretten Hotelpagenuniform betrat das Zimmer; auf seiner rechten Hand balancierte er ein silbernes Tablett mit einem Eiskübel, in dem sich eine Flasche Moët & Chandon mit einem weißen Stofftuch um den Flaschenhals und ein Kristall­champagnerglas befanden. Der Page deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an und sagte mit einem leichten griechischen Akzent: „Bitte sehr, Ihr Champagner, Sir.“

„Danke“, sagte Dustin, nestelte einen leicht zerknüllten Fünfeuroschein aus seiner Hosentasche und drückte ihn dem Mann in die linke Hand. „Stellen Sie alles einfach hier ab, ich werde die Flasche selbst öffnen. Und dann lassen Sie mich bitte allein.“

„Selbstverständlich“, antwortete der Page, „und vielen Dank, Sir.“

„Sie sind ja immer noch hier“, meinte Graham unwirsch. Der junge Mann ging eilenden Schrittes zur Zimmertür, öffnete sie und machte Anstalten, hinauszutreten.

„Nicht so eilig, mein Junge!“, sagte jemand, der sich offenbar gleich hinter der Tür befand, mit dröhnender Bassstimme. Der Page trat wieder ins Zimmer, und hinter ihm stiefelte schweren Schrittes eine Gestalt hinein, wie Dustin noch nie eine gesehen hatte.

Der Mann musste über zwei Meter groß sein, denn er bückte sich ein wenig, um unter dem Türrahmen durchzupassen. Er hatte lockiges, schwarzes Haar und einen eben solchen Vollbart. Statt eines Anzugs, einer Jeans oder sonstiger moderner Kleidung war er in ein wallendes, weißes Gewand gehüllt. Um die Hüften trug er einen breiten Gürtel mit einer goldenen Schnalle, an dem allen Ernstes eine bronzene Schwertscheide befestigt war, in der wiederum ein ziemlich langes Schwert steckte. In der rechten Hand hielt er einen hölzernen Stab, der fast so lang war wie er selbst und dessen Messingkopf reich mit Ornamenten verziert war. Seine riesigen Füße steckten in Sandalen, die bis fast zu den Knien hoch geschnürt waren.

„Guten Abend“, dröhnte der Riese. „Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.“

„Hören Sie, wenn das ein Scherz sein soll, dann ist er nicht sonderlich gelungen“, brauste Dustin auf. „Wer sind Sie? Und was haben Sie in meinem Hotelzimmer verloren? Sind Sie einer von diesen Typen, die sich als Krieger verkleiden und auf diese Comicmessen gehen? Mein Neffe ist auch so einer; der hat sich sogar mal von Kopf bis Fuß grün angemalt, weil er so aussehen wollte wie dieser, ähm, Hulk.“

„Schweig, Sterblicher!“, donnerte der Mann und stampfte dabei mit seinem Stab auf den Boden.

Der Page blickte sehr verlegen von dem Riesen zu Dustin und wieder zurück, dann räusperte er sich und stammelte, zum Riesen gewandt: „Ich muss Sie auffordern, das Zimmer unseres Gastes zu verlassen, Sir.“

Das schien den Bärtigen zu belustigen. Mit einem unterdrückten Kichern sagte er zu dem Pagen: „Du gefällst mir, Junge. Du hast Mut.“ Mit diesen Worten legte er den Stab auf dem Bett ab, trat auf den Pagen zu, legte ihm beide Hände an die Schläfen und flüsterte etwas in einer Sprache, die Graham nicht verstand. Sofort schien alle Verlegenheit von dem Jungen abzufallen.

„Verrätst du uns deinen Namen?“, fragte der merkwürdige Mann den Pagen.

„Ich bin Christos, o Herr“, antwortete er.

„Ein schöner Name“, bemerkte der Angesprochene. „Sei bitte so gut und hol noch zwei Gläser, mein Junge“, bat ihn der Große in einem beinahe väterlichen Tonfall. Gemessenen Schrittes machte sich Christos auf den Weg.

„Nun zu dir, Dustin Robert Graham“, sagte der Fremde dann. „Setz dich, wir müssen reden.“ Er wies mit ausgestreckter Hand auf das Bett. Dustin wollte eigentlich protestieren, den Mann auffordern, ihn in Ruhe zu lassen oder die Polizei rufen, aber irgendetwas an der Präsenz des imposanten Mannes schien nichts davon zuzulassen. Also setzte er sich gehorsam auf das Bett und starrte den Anderen mit einer Mischung aus Neugier und kalter Wut an. Der setzte sich rittlings auf den Stuhl, verschränkte seine gewaltigen Unterarme auf der Rückenlehne und begann wieder zu sprechen.

„Ich muss zugeben, dass ich dir gegenüber im Vorteil bin“, erklärte er. „Ich kenne dich, aber du hast keine Ahnung, wer ich bin. Nun, mein Name ist Hades; ich herrsche seit Äonen über die Unterwelt.“

Das war zu viel. Präsenz hin oder her – Dustin sprang auf, ging einige Schritte auf den Typen, der sich Hades nannte, zu, schaute ihn auf eine Weise an, von der er hoffte, dass sie bedrohlich wirkte, und sagte sehr langsam und sehr deutlich: „Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Sie kommen in mein Hotelzimmer, das nebenbei bemerkt pro Nacht mehr kostet, als Sie vermutlich im Monat verdienen, und dann behaupten Sie einen solchen Unsinn?“

Der angebliche Hades sagte gar nichts. Er sah Dustin lediglich ruhig, aber durchdringend an. Und obwohl er seine Lippen nicht bewegte, hörte Dustin im Inneren seines Kopfes die Stimme des Riesen, die so noch viel bedrohlicher klang als zuvor: Du weißt, dass ich es bin, Dustin. Du hast es gewusst, seit ich dein Zimmer betreten habe. Also setz dich wieder hin, schweig, und hör mir zu!

Er konnte sowieso nichts anderes tun, als sich hinzusetzen – urplötzlich war ihm schwindlig, und er hatte rasende Kopfschmerzen. Sein Mund war trocken und seine Hände begannen unkontrolliert zu zittern.

Bevor Hades etwas sagen konnte, kam Christos zurück. Er stellte ein anderes Silbertablett mit zwei weiteren Kristallgläsern auf den Tisch, öffnete gekonnt die Flasche und schenkte in alle drei Gläser Champagner ein. Er nahm das Tablett mit den beiden neuen Gläsern und hielt es zuerst Hades vor die Nase, der ein Glas nahm, und ging anschließend die wenigen Schritte zum Bett, um auch Dustin ein Glas zu geben. Schließlich ergriff er sein eigenes Trinkgefäß und erhob es. „Auf dein Wohl, Hades!“, rief er und nahm einen kräftigen Schluck.

„Auf die Sterblichen!“, sagte Hades, führte sein Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug. „Man kann über euch sagen, was man will“, bemerkte er dann, während er sich mit dem Handrücken den Mund abwischte, „aber von edlen Getränken versteht ihr etwas.“

Zögernd hob auch Graham sein Glas, sagte „Prost“ in keine bestimmte Richtung und nippte vorsichtig am Champagner. Normalerweise mochte er das Getränk, aber jetzt kam es ihm vor wie bittere Medizin.

Christos setze sich auf die andere Seite des Bettes und sah Hades erwartungsvoll an. Offenbar machte dieser merkwürdige Kerl dem Jungen nicht die geringste Angst, während Dustin immer noch nicht wusste, was er von ihm halten sollte.

„Du fragst dich berechtigterweise, was ich überhaupt von dir will, Dustin“, begann Hades. „Ich will es dir verraten. Wir Götter betrachten seit einiger Zeit mit großer Sorge, was mit dem Land geschieht, das uns vor so vielen Jahrtausenden anvertraut wurde.

Natürlich war es auch vorher nicht immer friedlich – die Stämme Griechenlands haben sich unzählige Male untereinander bekriegt, fremde Mächte haben das Land immer wieder erobert, und es herrschten Hungersnöte und Naturkatastrophen. Aber so arg wie in den letzten Jahren war es nie – es ist, als hätten die Menschen allen Mut und alle Hoffnung verloren, während ihr Land ihnen unter den Händen entrissen und an kleingeistige Krämer aus aller Welt verkauft wird. An Krämer wie dich, Dustin Graham.“

Dustin räusperte sich, aber der Gott brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.

„Wir haben lange diskutiert“, fuhr er fort, „ob wir eingreifen sollen, denn das haben wir seit den Tagen des trojanischen Krieges und Odysseus’ nicht mehr getan. Aber ihr lasst uns keine Wahl. Wir können nicht länger tatenlos zusehen. Eurer unseligen Herrschaft muss ein Ende gemacht werden. Du, Dustin Graham, bist unser auserwähltes Werkzeug.“

Dustins Gedanken rasten hinter seinen pochenden Schläfen. Die griechischen Politiker hatten ihr Land doch selbst in diese Situation gebracht, in der es nur noch durch Finanzhilfen seines IWF und anderer Institutionen überleben konnte. Oder nicht?

Er war doch hierhin gekommen, um mitzuhelfen, eine Lösung für das Problem zu finden. Dass diese Lösung nicht ohne Opferbereitschaft der Schuldner – also Griechenlands und seiner Bevölkerung – funktionieren konnte, das war doch nun wirklich nicht seine Schuld. Er war ein fleißiger und korrekter Beamter, der stets seine Pflicht tat. Er hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen, oder?

Verwirrt nahm er einen weiteren Schluck Champagner, diesmal einen größeren. Er schmeckte immer noch nicht, aber Dustin trank den Rest im Glas in einem langen Zug aus.

„Du bist ein fleißiger und korrekter Beamter, der stets seine Pflicht tut“, begann Hades weiterzusprechen. Konnte der Kerl etwa Dustins Gedanken lesen? Er war sich nicht mehr sicher, was er glauben sollte. Er stand auf, ging mit zitternden Knien zum Schreibtisch und goss sich sein Glas noch einmal voll. „Sonst noch jemand?“, fragte er die beiden anderen.

„Sehr gern“, antwortete Hades und streckte ihm die Hand mit dem Glas entgegen. Dustin füllte auch sein Glas. Der Gott hob es prostend und nahm dann einen kleineren Schluck als zuvor.

„Danke, für mich nicht“, sagte Christos. „Ich muss morgen sehr früh aufstehen. Ich arbeite im Moment Doppelschichten. Meine Mutter ist sehr krank, und die Kosten für ihre experimentellen Medikamente werden nicht übernommen.“

„Siehst du, das meine ich“, rief Hades, mit der offenen Handfläche auf Christos weisend. „Er bedient Menschen wie dich von vorn bis hinten, und zum Dank lässt man seine Mutter an einer eigentlich harmlosen Krankheit verrecken. Eine Schande ist das.“ Er stellte sein Glas mit etwas zu viel Nachdruck auf den Schreibtisch zurück und bellte erneut: „Eine Schande!“

Dann wandte er sich an Christos: „Du brauchst diese entwürdigende Arbeit nicht mehr zu tun. Mein Neffe Asklepios wird sich deiner Mutter annehmen, und für dich werde ich selbst sorgen.“

Mit diesen Worten stand Hades auf, kam auf Dustin zu und legte auch ihm die Hände auf die Schläfen. Wieder flüsterte er etwas. Einen Moment lang hatte Dustin den Eindruck, einen grellen Blitz zu sehen und etwas zu hören, das wie Musik und doch viel größer und überwältigender klang. Kopfschmerzen, Übelkeit, Müdigkeit und schwere Gedanken fielen von ihm ab wie ein schmutziges Hemd, das man einfach ausziehen konnte. Er betrachtete den Gott mit überwältigtem Blick. Er wollte nur noch eins: Hades folgen, selbst wenn dieser ihn in seine Heimat, die Unterwelt, führen würde.

Göttersommer

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