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Komplexe Zusammenhänge hatten Apostolos Karydakis noch nie interessiert. Er war ein Mann der einfachen Wahrheiten. Dieses ganze Gerede von Euro- und Wirtschaftskrise interessierte ihn nicht. Man brauchte doch nur durch die Stadt zu gehen oder Nachrichten zu schauen, dann wusste man, was das Problem war: Fremde kamen in Horden in sein Heimatland, bettelten, waren kriminell und kosteten den Steuerzahler ein Vermögen. Sie nahmen anständigen Griechen die Arbeitsplätze weg, belästigten ihre Frauen, heirateten sie womöglich noch.

Wegen all dieser Herumtreiber und Wegelagerer war er, Apostolos, in seinem eigenen Vaterland seit drei Jahren arbeitslos, bekam kaum Unterstützung, und seine Freundin hatte ihn für einen Rumänen verlassen. Einen Rumänen! Der Typ konnte nicht einmal anständig Griechisch; die beiden unterhielten sich auf Englisch, wie Apostolos einmal mitbekommen hatte, als er sie händchenhaltend in einem Straßencafé sitzen sah. Er selbst konnte nicht gut Englisch, und das war ihm auch egal. Dass er mit der griechischen Rechtschreibung ebenfalls auf Kriegsfuß stand, war auch nicht weiter schlimm – seine Freunde im Internet verstanden ihn, und er verstand sie.

Seine Erkenntnisse über die wahren Schuldigen der ganzen Misere waren Apostolos nämlich nicht selbst in den Sinn gekommen. Zwar hatte er schon lange ein dumpfes Gefühl der Ablehnung verspürt, wenn er Afrikaner, Araber, Bulgaren und andere Ausländer in der Stadt herumlungern sah, wie er sich auszudrücken pflegte, aber erst im Internet hatte er eine Gruppe gefunden, die seine Ansichten in Worte fassen konnte und teilte: die Goldene Morgenröte.

Jeden Freitagabend ging er zum Treffen seiner Ortsgruppe. Dort gab es echte Kameradschaft, von Griechen für Griechen, und außerdem reichlich Bier, Wein und Ouzo. Und wenn sie sich ordentlich Mut angetrunken hatten, gingen sie oft hinaus und sorgten für Ordnung in ihrem Viertel. Erst neulich hatten sie mit zwanzig Mann drei Afrikaner davongejagt, die auf einer Decke in der Fußgängerzone saßen und Modeschmuck verkauften. Den langsamsten von ihnen hatten sie auch ordentlich vermöbelt; Apostolos hatte ihm noch ein paarmal mit seinen schweren Lederstiefeln in die Rippen getreten, als er schon am Boden lag.

Dann waren sie weggerannt, denn die verdammten Bullen wussten es überhaupt nicht zu schätzen, dass die Morgenröte ihnen die Arbeit abnahm. Im Gegenteil: ein großer Teil der Parteiführung saß im Gefängnis! Politische Gefangene, pflegte sein Ortsgruppenleiter Theodoros Michailow zu sagen. Schläger, Diebe und Betrüger, höhnte die verlogene Systempresse.

Es war 18:30 Uhr. Er verließ sein kleines Zimmer in der WG, die er mit zwei Parteikameraden bewohnte, und wollte auch die Wohnung verlassen, um zum Treffen zu gehen. Aber Takis, einer der beiden Mitbewohner, musste ihn gehört haben und rief nach ihm. Takis war ein immer korrekt gekleideter Jurastudent, der sich stets eine Glatze rasierte und zu einer Studentengruppe der Morgenröte gehörte. Unwillig änderte Apostolos die Richtung und ging in die Küche.

„Apostolos“, meinte der, „bevor du gehst, eine Frage: wann wolltest du mir eigentlich deinen Mietanteil geben? Ich habe schon letzte Woche überwiesen.“

„Ach, verdammt noch mal, du weißt doch, dass es bei mir im Moment nicht gut läuft“, meinte Apostolos aufbrausend. „Ich zahle, sobald ich Kohle habe. Vertrau mir, Kameraden der Morgenröte lassen einander nicht im Stich!“

„Von deiner Kameradschaft kann ich mir aber auch kein Abendessen leisten“, erwiderte Takis. „Bis Montagabend hast du Zeit, aber dann will ich das Geld haben. Ist das klar? Wenn nicht, kannst du dir eine andere Bleibe suchen.“

„Ja, geht klar“, sagte Apostolos. „Tut mir leid. Ich muss jetzt los zum Ortsgruppentreffen.“

„Aber komm bloß nicht wieder um drei Uhr morgens grölend nach Hause geschwankt. Letzte Woche hat ein Nachbar die Bullen gerufen, weil du hier herumkrakeelt hast, und während du deinen Rausch ausgeschlafen hast, musste ich sie beruhigen. Übrigens hast du morgen Küchendienst, vergiss es nicht wieder!“

„Nein, natürlich nicht. Bis später.“

„Und sag dem verlausten Bulgaren, dass er mir auch noch einen Zehner schuldet!“, rief Takis ihm hinterher. Mit dem „verlausten Bulgaren“ war der Ortsgruppenleiter Michailow gemeint, dessen Vater aus Bulgarien stammte. Apostolos hielt ihn dennoch für den Inbegriff des Hellenentums.

Er antwortete Takis nicht mehr, sondern verließ die Wohnung und knallte die Tür zu und lief zwei Etagen hinunter. An einem Kiosk kaufte er sich eine kleine Flasche Ouzo, trank sie in einem Zug leer und warf sie in hohem Bogen auf die Straße. Ein Cabrio-Fahrer, der gerade an der Ampel wartete, brüllte: „Lass das gefälligst, du verdammter Penner!“

Apostolos wollte auf ihn zulaufen und ihm tüchtig eine reinhauen, aber in diesem Moment wurde die Ampel grün, und das Cabrio fuhr mit röhrendem Motor an. Was für ein Arschloch, dachte Apostolos. Bestimmt so ein verdammter Ausländer. Oder noch schlimmer: einer, der Ausländerinnen vögelt. Bei dem Gedanken spuckte er verächtlich auf den Boden.

Er bog um die Ecke und kam an der heruntergekommenen Kneipe an, in der die Morgenröte ihre Treffen abhielt. Er klopfte dreimal an die Tür, machte eine Pause, klopfte zweimal, und nach einer weiteren Pause wieder dreimal. Das Klopfzeichen wurde regelmäßig gewechselt, damit sich keine Außenstehenden bei den Treffen einschlichen.

Die Tür öffnete sich einen Spalt; deutscher Rechtsrock dröhnte in voller Lautstärke heraus. Manos, der Skinhead, guckte misstrauisch durch den Türspalt und sagte abfällig: „Das war das Klopfzeichen von letzter Woche, Dumpfbacke. Diese Woche haben wir zweimal, viermal, einmal.“

„’tschuldigung“, nuschelte Apostolos. Der Skin öffnete ihm die Tür ganz und ließ ihn vorbeigehen. Er ging schnurstracks zur Theke und sagte zu Sofia, die dahinter stand: „Hi, ich hätte gern ein Bier und einen Ouzo.“ Er musste beinahe schreien, um die laute Musik zu übertönen.

Bevor sie antworten konnte, kam Theodoros auf ihn zu. „Apostolos“, begrüßte ihn dieser. „Du hast schon zwei Monate keinen Mitgliedsbeitrag gezahlt. Langsam wird es Zeit.“ Er wandte sich zu Sofia um und sagte: „Heute Abend drücken wir noch mal ein Auge zu, gib ihm seine Getränke.“ Dann wieder zu Apostolos: „Aber nächste Woche hast du die vierzig Mäuse dabei, verstanden?“

Bedächtig nickte Apostolos. Sofia gab ihm eine Flasche Bier und ein Schnapsglas mit Ouzo. „Danke“, sagte er. „Und prost“.

In einer Ecke standen Zacharias, sein anderer Mitbewohner, und dessen Schwester Alexandra. Er stellte sich zu ihnen. „Na, gehen wir heute Abend auf Patrouille?“, fragte er.

„Besser nicht“, antwortete Zacharias. „Die Bullen sind hier groß unterwegs, und ich habe keinen Bock, meine Bewährungsauflagen zu verletzen und in den Knast zu gehen.“

„Was wollen die denn hier?“, fragte Apostolos. „Sollen doch dankbar sein, dass wir uns um die Dreckskanaken kümmern!“ Er leerte sein Bier, kippte den Ouzo hinterher und machte sich auf den Rückweg zur Theke.

Apostolos wollte gerade wieder bestellen, als er sah, wie Manos die Tür erneut öffnete. Ein Mann und eine Frau kamen herein, er in einem eleganten dunkelgrauen Anzug und sie in einem teuren grünen Abendkleid. Der Skin wollte sie offensichtlich wieder wegschicken, aber da trat ihm die Frau plötzlich mit ihren hochhackigen Schuhen unters Kinn. Er flog in hohem Bogen von dem Barhocker, auf dem er gesessen hatte, und landete mit blutendem Kinn flach auf dem harten Steinboden.

Sofort wurde das Paar von mehreren Skinheads und Hooligans umringt, und alle versuchten, die beiden anzugreifen. Aber aus irgendeinem Grund prallten ihre Schläge und Tritte wenige Zentimeter von den Neuankömmlingen entfernt einfach ab.

Die beiden Gestalten gingen einfach zwischen den versammelten Schlägern durch, zwei oder drei von diesen stolperten dabei und fielen auf den Hosenboden. Der Mann schaltete die Stereoanlage aus, und die Frau begann zu sprechen.

„Das ist ja eine feine Versammlung hier“, meinte sie mit einem spöttischen Grinsen. „Die Elite Griechenlands, der Gipfel des Hellenentums, die letzte Verteidigungslinie des christlichen Abendlandes“.

Theodoros ging drohend auf sie zu und wollte etwas antworten, aber die Frau versetzte ihm eine donnernde Ohrfeige. Er ging zu Boden und spuckte etwas in seine Hand, das wie ein blutverschmierter Zahn aussah.

„Wolltest du etwas sagen, Sohn des Andrej Michailow?“, fragte die Frau mit unschuldiger Miene. „Das kannst du später gern tun, aber jetzt bin ich erst mal an der Reihe.“

Einer der Skinheads kam mit einem Baseballschläger angerannt, holte aus und wollte ihn der Frau über den Schädel ziehen. Diese fing ihn jedoch geschickt mit einer Hand, entwand ihn seiner riesigen Pranke und warf ihn mit Schwung durch das kleine Fenster hinter ihr, das klirrend zerbrach. Den Skinhead zog sie am Ohr zu einem der Stühle am Gruppentisch, schob ihm den Stuhl kräftig in die Kniekehlen und zwang ihn so zum Sitzen.

„Soll ich deinen Freunden erzählen, dass du Bilder von halbnackten Afrikanerinnen sammelst, weil du sie so unglaublich schön findest, Anastasios?“, Sie legte mit gespieltem Schock eine Hand auf ihren offenen Mund. „Oh nein, Verzeihung, jetzt habe ich es ja schon gesagt.“

Der Mann, der mit ihr gekommen war, schaltete sich ein: „Ihr werdet jetzt alle hübsch den Mund halten und Eris ausreden lassen! Der nächste, der stört, fliegt hinter dem Schläger her, ist das klar?“

Die versammelten Morgenröte-Anhänger murmelten etwas, einige nickten. Zwei oder drei versuchten, durch die Eingangstür zu entkommen, aber die Frau, die der Mann Eris genannt hatte, machte eine merkwürdige Geste mit einer Hand. Das Schloss der Tür klackte, und sie war verschlossen.

„Wie gesagt“, fuhr Eris fort, „eine wunderbare Versammlung. Tapfere junge Männer und Frauen, die alles für ihr geliebtes Vaterland tun würden. Die ganz genau wissen, dass Griechenland den Griechen gehört und sonst niemandem, und dass ihr ohne Ausländer nicht die geringsten Probleme hättet. Ihr seid anständig, ehrlich und fleißig, und eure Ehre heißt Treue, oder wie ging dieser alte Nazispruch noch gleich?“

Sie zeigte auf Apostolos, der versuchte, sich auf seinem Stuhl hinter einigen Kameraden ganz klein zu machen. „Du zum Beispiel, Apostolos Karydakis, bist der fleißigste Arbeiter, den sich eine Firma nur wünschen kann, oder? Andere sagen jedoch, du seist regelmäßig schon mittags betrunken gewesen und nachmittags in irgendeiner Ecke der Werkstatt eingeschlafen.“

Sie sah sich weiter in der Runde um. „Zacharias Fanourakis!“, rief sie dann, auf Apostolos’ Mitbewohner zeigend. „Du verehrst Adolf Hitler und kannst Juden auf den Tod nicht ausstehen. Hast du das eigentlich vor oder nach deiner Bar Mitzwa gemerkt?

Manos Chatzidakis“, sagte sie dann zu dem Türsteher. „Wie geht es deiner Freundin Aisha? Ach stimmt, sie hat dich ja verlassen – und das nur, weil sie mit deinem Heroinkonsum nicht zurecht kam. Worauf du dir die Haare abrasiert und allen Arabern blutige Rache geschworen hast.

Und da haben wir auch Fanis Veropoulos“, fuhr sie fort, auf einen Mann mittleren Alters weisend, der eine Halbglatze, einen Hitlerschnurrbart und einen kleinen Spitzbart trug. „Du bist ein richtiger Mann, der ‚Schwuchteln’ hasst, oder? Die drogenabhängigen Jungs, die dich hinter dem Busbahnhof für einen Fünfer regelmäßig oral befriedigen, können das sicher bestätigen“.

Alle Angesprochenen liefen rot an und versuchten, sich so unauffällig wie möglich zu machen.

„Genug!“, donnerte Theodoros schließlich, ein blutbeflecktes Papiertaschentuch zwischen den Lippen. „Was soll das eigentlich? Warum kommen Sie hier herein und erzählen all diese Lügen?“

„Frag deine Kameraden, ob es Lügen sind“, sagte der fremde Mann. „Dass du der Sohn eines Bulgaren bist, ist doch immerhin allgemein bekannt. Und dass ihr Bulgaren nicht ausstehen könnt, auch“.

„Na schön, kommen wir zur Sache“, übernahm Eris. „Erlaubt, dass wir uns vorstellen. Mein Kollege hier ist Hermes, der Götterbote, der Schutzgott der Reisenden, der Diebe und der Händler. Ich heiße Eris, ich bin die Göttin des Chaos und der Zwietracht. Wir würden uns gern eurer einmaligen Talente bedienen, damit ihr einen kleinen Job für uns erledigt“.

„Das ist Gotteslästerung!“, schrie ein blasser junger Mann, der bisher stumm in der Ecke gesessen hatte. „Es gibt nur einen Gott, den christlichen, und diese ganzen heidnischen Märchen sind nichts als Aberglaube!“

„Dann erklär dir das hier mal mit Aberglauben“, sagte Hermes. Er hob die Hand und schleuderte aus der hohlen Handfläche einen grellen Lichtblitz auf den Jungen. Dieser schrie vor Schmerzen auf und ließ sich kleinlaut auf den erstbesten freien Stuhl sinken. „Wir können das hier zivilisiert zu Ende bringen oder auf eure Tour“, meinte der Gott.

„Ach, lass nur“, entgegnete Eris, „bringen wir es hinter uns“. Sie hob beide Arme. Ringe grünen Lichts gingen von ihrem Körper aus wie Wellen, wenn ein Stein ins Wasser geworfen wird. Alle, die davon erfasst wurden, schwiegen, erhoben sich und standen stumm und wartend da. Dann klatschte die Göttin zweimal in die Hände. Die Tür wurde entriegelt, und die gut 40 Versammelten marschierten im Gleichschritt hintereinander hinaus.

Göttersommer

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