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NERVÖSE BLASE (CHAPTER TWO)

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Mit angestrengtem Blick saß ich vorne neben meinem Vater im Auto. Er unterhielt sich gerade mit meiner Mutter und meinem Bruder, die beide auf der Rückbank saßen. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, sodass ich gar nicht wusste, worum es gerade ging. Ich wusste nur eines: Noch nie hatte ich eine Entscheidung in meinem Leben mehr bereut … In gut zweieinhalb Stunden sollte mein Flieger gehen. Ich war gut in der Zeit, doch es ging mir dreckig. So richtig dreckig. Ich hatte den Druck meines Lebens auf meiner Blase. Ingwertee - ein Liter. Schlechte Entscheidung. Diesen Liter hatte ich vor gut einer Stunde beim Mittagessen noch in mich reingekippt. Doch anders als ich wollte er nicht auf große Reise gehen. Panisch schaute ich aus dem Fenster und suchte nach diesem blauen P-Schild. Es wollte einfach nicht auftauchen. Tatsächlich passierten wir mehrere blaue Schilder abseits der Autobahn, doch keines deutete auf einen Parkplatz mit Pinkelmöglichkeit hin. Auf einem der Schilder stand bereits Flughafen Düsseldorf.

„Dirk, du musst abfahren“, navigierte meine Mutter von hinten meinen Vater. „Rechts, Dirk, rechts …“

„Jaaa …!“ Papa setzte den Blinker und bog auf die Spur, die am Autobahnkreuz Hahn von der A46 auf die A3 nach Oberhausen führt.

„Ich habe die Ausfahrt doch gesehen …!“

„Papa?“ Ich schaute ihn mit schmerzvollem Gesicht an.

„Alles gut?“, fragte er mich und klatschte mir dabei auf den linken Oberschenkel. „Freust du dich, dass es endlich losgeht?“

„Nein, ich meine ja. Ich meine nein, ich muss dringend pinkeln. Kannst du bei der nächsten Möglichkeit rausfahren? Und mir vielleicht nicht auf den Oberschenkel hauen.“ Ich hatte zwar eine Wechselunterhose im Handgepäck dabei, aber keine Wechseljeans. Er nickte und konzentrierte sich wieder auf die Straße.

„Wie lange fahren wir noch?“ Ich spürte, dass das Zusammenkneifen im Beinbereich nicht mehr lange gut gehen konnte.

„Noch fünfundzwanzig Minuten“, wiederholte ich mit aufgerissenen Augen. Das schaff ich nie. Krampfhaft versuchte ich mich an die Fahrt vor gut vier Wochen zu erinnern. Auch damals ging es zum Düsseldorfer Flughafen. Ich überlegte, ob es davor noch eine Ausfahrt oder einen Rastplatz gegeben hatte. Mit damals meinte ich Silvester. Damals war ich zum ersten Mal in meinem Leben geflogen. Nach Hamburg. Meine Familie und ich wollten dort Silvester feiern und das Musical König der Löwen besuchen. Wir hatten auf den letzten Drücker Tickets bekommen und da kam mir die Idee, dass ich doch einen Testflug machen könnte. Ein Testflug für meine Reise nach Afrika einen Monat später, um wenigstens einmal im Leben davor geflogen zu sein. Um ein Gefühl fürs Fliegen zu bekommen. So kam es dann, dass an jenem Dienstag meine Eltern mit dem Auto nach Hamburg fuhren, während ich um halb fünf morgens aus dem Bett kroch, um mit ordentlich Muffensausen den Testflug über ihren Köpfen in Angriff zu nehmen. Zu meiner Erleichterung klappte damals alles super, sodass ich mich nach der Landung in Hamburg fragte, warum ich mit meinem ersten Flug bis Anfang 20 gewartet hatte. Es war gar nicht so schlimm gewesen, wie ich es mir in Gedanken immer eingeredet hatte.

„Och nein Papa, da war doch eine Ausfahrt“, sagte ich enttäuscht, als wir an einer Ausfahrt vorbeifuhren. Das Parkplatzschild wurde im Seitenspiegel kleiner und kleiner, während die Gefahr eines Malheurs mit jedem Schlagloch größer und größer wurde.

Na toll, dachte ich und versuchte, an etwas anderes zu denken. Noch immer konnte ich nicht richtig glauben, dass es heute losging. Es war Mittwoch und ich hatte seit Montag Urlaub. Unbezahlten Urlaub für fast acht Wochen. Acht Wochen. Der Gedanke daran ließ den Druck in meiner Blase fast verschwinden. Acht Wochen kein Büro, keinen Anzug und keine Krawatte tragen. Keine nervigen, schlecht gelaunten Kunden, die die ganze Welt schlecht reden, in allem Probleme sehen und dich dafür verantwortlich machen, wenn etwas nicht funktioniert. Wieso gibt es auf dem Sparbuch keine Zinsen? Wieso kann ich nicht über mein Geld verfügen? Pfändung? Was ist das? Wieso seid ihr als Bank und Mitarbeiter so scheiße? Auf dieses ganze Rumgejammer und Beschweren hatte ich keine Lust mehr. Im September 2017, vor gut zweieinhalb Jahren, hatte ich meine Ausbildung als Bankkaufmann begonnen. Ein Bild von dem Tag, als ich mit 35 anderen Azubis in glattgebügelten Bankklamotten vor dem Bankgebäude auf einer Treppe stand, hängt noch immer bei meiner Oma in der Küche an der Wand. Stolz hatte sie es aus der Zeitung ausgeschnitten. Ich musste beim Gedanken ans Bild schmunzeln. Zum Glück stand ich damals beim Fotoshooting in der letzten Reihe. So konnte man die wenigen rosa Flecken auf dem weißen Hemd nicht sehen. Zum Glück. Vor Aufregung hatte ich mich nämlich am ersten Ausbildungstag auf der Hinfahrt im Auto übergeben und den Bananen-Haferflocken-Himbeer-Smoothie auf dem gesamten Beifahrersitz verteilt. Und wenige Sprenkel halt auf meinem Hemd. Danach ging es mir besser und dem Auto nach einer Sitzreinigung auch. Nur wenige wussten bisher von dieser Story. Während alle Azubis der Willkommensrede des Vorstandsvorsitzenden bei geschmierten Mettbrötchen lauschten, überlegte ich, wie viel die Sitzreinigung wohl kosten würde.

An jenem ersten Ausbildungstag war noch alles gut. Auch die Wochen und Monate danach. Ich machte meine ersten Erfahrungen am Schalter mit Kunden, zählte ihnen 50er- und 100er-Scheine vor, füllte Überweisungsbelege aus und eröffnete selbstständig Konten und Sparbücher. Es machte Spaß, jeden Morgen zur Arbeit zu fahren und acht Stunden im Büro zu verbringen. Ich war motiviert und tat alles, um Vorgesetzten und Paten zu gefallen, von ihnen ein gutes Feedback zu erhalten und meine Karriere in der Bank zu pushen. Ich hielt vertriebliche Vorträge vor meinem Lehrjahr zum Finanzkonzept und durfte als einer der Ersten einen Einsatz in einer internen Abteilung verbringen. Ein Zeichen dafür, dass man bisher während seiner Ausbildung gut performt hatte. Doch dann kam es zum Bruch:

Der zweite Tag im Electronic Banking sollte alles verändern. Meine ganze Sichtweise über mein Leben. Er bestand aus heftigen Bauchschmerzen, Magenkrämpfe und einer Notoperation am Abend im Krankenhaus. Schwere Blinddarm- und Bauchfellentzündung lautete die Diagnose der Ärzte. Gefolgt von bangen Minuten im weißen Nachthemd auf dem kalten Operationstisch und Gedanken darüber, was ich bisher in meinem Leben erreicht hatte. Was ich vorweisen konnte. Sie änderten mein Denken über Erfolg, Karriere und Geld. Über das Leben an sich, über meine Pläne und Ziele. Die Minuten im Krankenhaus vor der Operation machten mich traurig. Ich merkte, dass ich mein Glück in den letzten Jahren über Dinge, Ziele und Erfolge definiert hatte, die in diesem Moment nichts wert waren. Gar nichts. Sie waren gar nichts wert. Ich bereute, bisher nicht wirklich gelebt zu haben. Ich schwor mir, dass dieser Tag der Wendepunkt in meinem Leben sein sollte. Der Wendepunkt hin zu einem aufregenden, glücklichen und erfüllten Leben.

Noah schien es nicht zu bereuen, dass er mitgekommen war. Er war zum ersten Mal in seinem Leben an einem Flughafen und staunte nicht schlecht, als alle paar Sekunden ein Flugzeug über unser Auto flog und im wolkenbedeckten Düsseldorfer Nachthimmel verschwand. Es dämmerte bereits. Papa fuhr vorbei an mehreren Schranken und Schildern und parkte auf dem Drei-Minuten-Parkplatz vor der Abflughalle. Ich konnte es kaum erwarten, bis das Auto zum Stehen kam. Hektisch öffnete ich die Beifahrertür. Jetzt war Eile geboten. „Ich laufe schnell zur Toilette. Bin gleich wieder da!“

„Aber wir können hier doch nicht so lange parken und Stehenbleiben, Silas“, sagte meine Mutter, doch es war zu spät. Die Tür war noch gar nicht richtig ins Schloss gefallen, da war ich auch schon hinter der Drehtür verschwunden. Ihre Rufe und ihr Fensterklopfen kamen zu spät.

Die Abflughalle war größer, als ich sie in Erinnerung hatte. Passagiere liefen kreuz und quer mit ihren Koffern durcheinander, schauten auf ihre Handys und starrten auf den großen Monitor an der Wand, der sämtliche Flugzeiten und Gates anzeigte. Immer wieder musste ich stehende Menschen umkurven, ehe ich neben einem Check-in-Schalter endlich eine Tür mit einem Toilettensymbol entdeckte.

Endlich, dachte ich und stolperte Richtung Tür. Gefühlt drei Kilo leichter öffnete ich sie nach ein paar Minuten wieder und trat mit erleichtertem Blick hervor. Ich war bereit. Meine Blase war bereit. Jetzt konnte es losgehen.

„Da bist du ja endlich“, sagte meine Mutter, als ich zurück beim Auto war. „Wir dachten schon, du kommst nicht mehr wieder.“ „Hat ein bisschen gedauert“, grinste ich. „Ist den alles in Ordnung bei dir?“, fragte sie besorgt. „Oder ist was mit deinem Magen?“ Prüfend schaute sie mich mit diesem einen Blick an, den jede Mutter draufhat. In der Regel konnte man ihr nichts vormachen. Aber diesmal gab es nichts zu verheimlichen.

„Alles gut, Mama. Wirklich! Mir geht es super.“ Ich ging zum Kofferraum und hievte meinen blauen Koffer auf den Boden. Er hatte schon so manche Reise miterlebt. Zerbeult und zerkratzt stand er auf dem Bürgersteig und wartete, wie es jetzt weitergehen sollte. Mein Vater reichte mir meinen beigen Rucksack, den meine Oma mir gestern für die Reise geschenkt hatte.

„Danke, Papa.“ Ich stülpte ihn auf meinen Rücken und legte das schwarz-grau-karierte Nackenkissen um den Hals. Es hatte eine Massagefunktion, doch die Batterie hatte ich aus Vorsicht zu Hause gelassen. Ich wollte nicht schon wieder aus der Sicherheitskontrolle gewunken werden und mir die Blöße geben. An Silvester hatte schon ein zusammengeknülltes Knoppers-Papier in meiner Jeans dafür ausgereicht. Diesmal hatte ich vorsorglich selbst die kleinste Fluse entfernt. „Hast du alles?“, fragte mich mein Vater. Ich nickte. Jetzt kam der Part, vor dem ich am meisten Respekt hatte. Goodbye zu sagen und von meiner Familie für die nächsten Wochen Abschied zu nehmen. Schon gestern hatte ich einen Kloß im Hals, als meine Oma mir mit Tränen in den Augen an der Tür zuwinkte. Ich musste schlucken, als ich meinen Vater anschaute. Ich nahm ihn in den Arm und versprach ihm wie schon damals vor der Blinddarm-OP, dass ich wiederkommen werde. Er klopfte mir auf die Schulter.

„Hab viel Spaß. Wir sind stolz auf dich!“ Ich ging weiter zu Mama, die neben ihm stand.

„Pass bitte auf dich auf …“

„Ich verspreche es dir, Mama.“ Ich drückte sie ganz fest an mich. So fest hatte ich meine Mama schon lange nicht mehr in den Arm genommen. Es fühlte sich gut an. So vertraut. Ich streichelte ihr mit meiner Hand über den Kopf.

„Melde dich und ruf mal an …“ Ich blickte zu Noah. Er schaute mich an und streckte die Arme zu mir aus. Ich bückte mich zu ihm und hob ihn hoch. „Mach es gut, Pupsi. Und ärgere Paula schön.“ Wie ein Affe klammerte er sich um meinen Hals. Ich küsste ihn auf die Stirn.

„Bring mir was mit“, sagte er, nachdem ich ihn auf dem Bürgersteig abgesetzt hatte. „Vielleicht einen Löwen. So einen kleinen, flauschigen, ja?“

„Ich schaue mal.“ Ich wuschelte ihm durch die Haare. „Bis in vier Wochen.“ Ich ging zu meinem Koffer, klappte den Griff aus und rollte ihn hinter mir her zur Abflughalle. Beim Eingang drehte ich mich noch mal zu meinen Eltern und meinem Bruder um. Sie waren wieder ins Auto gestiegen und winkten, als sie an mir vorbeifuhren. Ich schaute ihnen noch eine Weile nach, bis sie hinter einem Parkhaus nicht mehr zu sehen waren. Jetzt war ich auf mich allein gestellt. Der erste Schritt war gemacht. Das Abenteuer Afrika konnte beginnen …

Afrika - Leben, Lachen, frei sein

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