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2.3.2 Wirksamer als Zwang: Aufklärung und Verantwortung

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Repression und Bevormundung sind in demokratischen Gesellschaften nur begrenzt wirksam; sie stoßen immer auf Widerstand und Opposition. Viel effektiver als die Sozialdisziplinierung durch Zwang ist daher die Regierung durch Freiheit – governing through freedom, wie das liberale Regierungsprinzip auf einen Nenner gebracht wird. Menschen werden nicht zur Anpassung genötigt, sondern durch Anreize motiviert, sich freiwillig anzupassen.41 Diese Form der Machtausübung, die vor allem Michel Foucault eindrücklich beschrieben hat, ist viel unsichtbarer und geht viel tiefer als gewalttätige Herrschaft: Sie zielt nämlich nicht so sehr auf das Äußere, sondern vor allem auf das Innere. Sie steuert nicht nur das Handeln, sondern vor allem auch das Denken und Wollen.42

Bereits die ersten Eugeniker setzten nicht nur auf Zwangsmaßnahmen, sondern auch auf Aufklärung und gelenkte Freiwilligkeit. In den 1920er und 1930er Jahren beschworen Aufklärungsbroschüren, Zeitschriften, Museen und Ausstellungen die Macht der Vererbung. In den großen Gesundheitsausstellungen, wie z. B. der GeSoLei (Gesundheit, Soziale Fürsorge und Leibesübungen, 1926) oder den Hygieneausstellungen in Dresden (1911 und 1930) hatten vererbungswissenschaftliche Exponate ihren festen Platz. Das Millionenpublikum wurde dort nicht nur in die anatomische Sicht des Körpers, in die Verbesserung der eigenen Fitness und in die Bevölkerungsstatistik eingewiesen, sondern auch über die Macht der Erbanlagen und die Erfolge der Vererbungswissenschaft belehrt. Anhand von Stammbäumen sogenannter „asozialer Familien“ sollten sich die Besucher davon überzeugen, dass Diebstahl und Arbeitslosigkeit genetisch bedingt wären; und an Schauapparaten zur Mendelschen Vererbung konnten sie ausprobieren, nach welchen Gesetzmäßigkeiten solche Erbanlagen weitergegeben würden. Solche Popularisierungsveranstaltungen hatten allerdings ein völlig anderes Ziel als die heutige genetische Alphabetisierung. Bürger sollten keineswegs lernen, zu Experten ihrer selbst zu werden, um informierte und selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Im Gegenteil: Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden vor allem deshalb zur Schau gestellt, um Laien zu beeindrucken und die neue Expertenmacht in Verwaltung und Politik zu rechtfertigen. Die Ausstellungen dienten dazu, den „Graben zwischen Laien und Experten zu manifestieren und zu vertiefen“ (Nikolow und Schirrmacher 2007, 16).43 Genetische Aufklärung und Popularisierung hatte also eine andere soziale Funktion als heute: Es ging darum, Bürger auf eine genetisch begründete Gesellschaftsordnung einzustimmen; sie sollten von der Autorität der neuen Experten und der Notwendigkeit eugenischer Bevölkerungspolitik überzeugt werden.

Bereits in den 1930er Jahren erklärten die meisten Genetiker den wissenschaftlich unterfütterten Rassismus der ersten Eugenikbewegung sowie ihren allzu simplen Glauben an genetischen Determinismus für wissenschaftlich überholt. Ihre Vision, eine Gesellschaftsordnung zu schaffen, die auf den Erkenntnissen der Genetik aufbaut, gaben sie jedoch keinesfalls auf. Ende der 1930er Jahre trat der amerikanische Geschäftsmann und Philanthrop Frederick Osborne dazu an, das eugenische Projekt grundlegend zu reformieren. Er träumte von einer freiwilligen, aufgeklärten Eugenik ohne Zwangsmaßnahmen und rassistische Diskriminierung.44 Das Vorhaben, mithilfe der Genetik den Menschen zu verbessern, wollte er an die Grundsätze moderner demokratischer Gesellschaften anpassen. Bürger sollten nicht mehr überwältigt werden, sondern lernen, selbst eugenisch zu denken. Mithilfe wissenschaftlicher Aufklärung wollte er Eltern das Gefühl von Verantwortung für die genetische Ausstattung ihres Nachwuchses einimpfen (Weß 1989, 46 – 48). Bald darauf, im Jahre 1947, hob der Genetiker Sheldon Reed den Begriff „genetische Beratung“ („genetic counseling“) aus der Taufe (Reed 1974). Mit dieser Umbenennung hoffte er, die vererbungswissenschaftliche Beratung aus dem Zwielicht der Eugenik herauszuheben. Nicht mehr den nationalen Genpool wollte er verbessern, sondern die Gesundheit der Familie; nicht mehr vererbungswissenschaftliche Bevölkerungspolitik wollte er betreiben, sondern einzelne Paare motivieren, ihre Familienplanung im eigenen Interesse an Erbanlagen und Vererbungsgesetzen auszurichten. Ein gutes Vierteljahrhundert später geht er davon aus, dass diese begriffliche Herauslösung der vererbungswissenschaftlichen Konsultation aus dem Schatten der Eugenik der genetischen Beratung zu ihrer Karriere verhalf.45 In den USA gab es im Jahre 1951 erst zehn genetische Beratungsstellen, 1974 bereits 387.

In Deutschland haftete der Humangenetik lange der Ruch der Menschenverachtung an und es dauerte bis in die 1970er Jahre, bis sie sich öffentlich rehabilitieren konnte.46 Im Nationalsozialismus hatten Eugeniker, Mediziner, Politiker und Bürokraten das umgesetzt, was sich Genetiker zuvor an Labor- und Schreibtischen ausgedacht hatten. „In Deutschland wurden die Erkenntnisse, die Genetiker verschiedener Länder zuvor an der Fruchtfliege entwickelt hatten, erstmals nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch auf Menschen übertragen“ (Weß 1989, 35).

Gesellschaftsfähig wurde die Humangenetik erst wieder, als sie sich den Anstrich von Heilkunde geben konnte, indem sie sich an die Medizin angliederte. Voraussetzung für diese Angliederung war jedoch ein Umbruch in der Medizin selbst, der sich konzeptuell und praktisch vor allem in den 1950er und 1960er Jahren auswirkte: Die Medizin wandelte sich von einer Heilkunde, die einen Patienten und seine Krankheiten im Blick hat, zu einer Risikomedizin, die die Gesundheit der ganzen Bevölkerung überwacht. Prävention, also die Verhinderung von Krankheiten, stieg zur Leitidee auf. Die Epidemiologie, also die statistische Analyse von Krankheitshäufigkeiten und Risikofaktoren in Populationen, avancierte zur neuen Leitwissenschaft. Im Mittelpunkt der medizinischen Aufmerksamkeit standen nun nicht mehr Diagnose und Therapie von Krankheiten, sondern die Erfassung und das Management statistisch berechneter Risiken (Armstrong 1995). Deutschland führte in den 1960er Jahren die ersten Vorsorgeprogramme für die gesunde Bevölkerung ein, nämlich Krebs-Früherkennung und den sogenannten Mutterpass, der Frauen zur ärztlichen Schwangerenvorsorge anhalten sollte. Nach diesem Wandel im medizinischen Denken war es für die Humangenetik möglich, unter das Dach der Medizin zu schlüpfen. Zur risikoorientierten Prävention konnte auch eine Disziplin beitragen, die sich der Klassifikation und Diagnose von Unheilbarem widmet. Die Verhinderung nicht von Krankheiten, sondern von Kranken wurde fortan als medizinisches Teilgebiet wieder gesellschaftsfähig.

In den 1970er Jahren öffneten auch in Deutschland die ersten genetischen Beratungsstellen ihre Pforten. Ganz der Leitidee der Prävention verpflichtet, verstanden es Genetiker als ihre Aufgabe, Menschen, die sie als „anormal“, „behindert“ oder „krank“ klassifizierten, gar nicht erst auf die Welt kommen zu lassen. Schien ihnen das Risiko, das sie aus empirischen Häufigkeiten und Vererbungsregeln ableiteten, für den erhofften Nachwuchs zu groß, rieten sie Paaren von Eheschließung oder Zeugung ab. Sie hofften, auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Zum einen glaubten sie, Familien vor Unglück und Leid zu bewahren, und zum anderen begrüßten sie den eugenischen Nebeneffekt, den sie von dieser „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erwarteten.47

Die meisten Menschen hatten jedoch für eine solche entmutigende Zukunftsprognose keinen Bedarf. Nach Eröffnung der ersten Beratungsstellen in Marburg und Frankfurt a. M., beide staatlich finanzierte Modellprojekte, mussten die Humangenetiker kräftig die Werbetrommel rühren, um Klienten zu rekrutieren. Wer nicht gerade eine schwere Erbkrankheit in der Familie hatte, sah einfach keinen Anlass, einen Erbarzt zu konsultieren. Vorausschauendes Gesundheitsmanagement war den meisten Menschen noch fremd. Allen präventivmedizinischen Programmen fehlten die Kunden. „Eines der bisher nicht gelösten Probleme in der Präventivmedizin ist die ungenügende Inanspruchnahme solcher Möglichkeiten durch eine noch gesunde Population“, stellt die Humangenetikerin Ursel Theile daher 1977 fest (Theile 1977, IX). Wer nicht krank war, sah damals keinen Grund, einen Arzt aufzusuchen.

Die Entscheidungsfalle

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