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3.1.2 Das unbegreifliche Selbst

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Auch in der genetischen Beratung werden Menschen in zweibeinige Genträger umgedeutet. Frau M. erhält mit der Lektion über Biochemie und Moleküle zugleich eine Belehrung über sich selbst. Diese Belehrung ist noch viel wirkmächtiger als der Bekehrungsversuch von Jörg Schmidtke. Schmidtke hielt seinen Vortrag vor einem anonymen Publikum. Die genetische Beraterin spricht ihre Klientin dagegen persönlich an. Das, was sie erklärt, adressiert sie direkt an Frau M. mit dem Ziel, diese zu einer Entscheidung zu befähigen. Dabei fordert sie ihre Klientin auf, sich ganz konkret ihr eigenes Inneres als Sitz von Genveränderungen, Mutationen und Krankheitswahrscheinlichkeiten vorzustellen – und darauf ihre Entscheidungen zu gründen. Die Genetikerin verwandelt also nicht nur alle Menschen im Allgemeinen, sondern auch Frau M. im Besonderen in einen genetischen Fall. Was das für ein neues „Selbst“ ist, das die Genetikerin ihrer Klientin damit zuweist, und welche Ängste, Bedürfnisse und Illusionen sie weckt, das werde ich nun Schritt für Schritt anhand der Beratungssitzung untersuchen.

Zunächst beginnt die Genetikerin mit einer allgemeinen Lektion über das Innere des Zellkerns. Etwa 20 Minuten belehrt sie ihre Klientin über den Aufbau der DNA, über Gene, Chromosomen, mögliche Genmutationen und Mendelsche Vererbung. Die meiste Zeit doziert sie dabei über abstrakte Zusammenhänge, die sie hier und da durch Bilder und Analogien veranschaulicht. Sie schlägt einen dicken Ordner auf, in dem Schautafeln abgeheftet sind: schematische Schwarz-Weiß-Darstellungen von Chromosomen, der Doppelhelix und dem genetischen Code. Dann beginnt eine Standardlektion:

B: Das ist jetzt hier einfach mal schematisch dargestellt, so sieht das Chromosom aus. Das sind verschiedene Bänder und da sind so perlschnurartig die Gene aufgereiht, unterbrochen von Sequenzen, die nicht selber zu Genen und damit auch zu Proteinen, also Eiweiß-Molekülen führen, sondern einfach dazwischengeschaltet sind.

Nach eigenen Angaben ist Frau M. recht unbeleckt, was Genetik angeht. Die Ausführungen der Genetikerin frischen also nicht bestehendes Wissen auf, sondern sollen ihr etwas Neues beibringen. Wirklich verstehen kann Frau M. jedoch nichts. Sie wird hier in erster Linie mit unverständlichem Fachjargon konfrontiert. Die Genetikerin spricht von „Bändern“ und „Sequenzen“, ohne zu erklären, was sich ihre Klientin darunter vorstellen soll. Frau M. kann nicht wissen, dass es sich bei den „Bändern“ um das Ergebnis einer bestimmten Färbetechnik handelt, und dass mit „Sequenzen“ Abfolgen von Basen, also DNA-Abschnitte gemeint sind. Außerhalb ihres Ursprungskontextes lassen sich solche Fachbegriffe nicht erschließen.

Nachdem die Beraterin erklärt hat, dass auf den Chromosomen Gene „liegen“, geht sie ausführlich auf den genetischen Code und mögliche Mutationen ein. Wieder legt sie Frau M. eine Abbildung vor; diesmal ist dort ein Band aus den Buchstaben ATCG zu sehen. Die Genetikerin erklärt:

B: Also z. B. wenn dieses Thymin, was jetzt hier exemplarisch dargestellt ist, nicht da ein Thymin ist, sondern auch ein Cytosin oder so, oder wenn die Base einfach fehlt oder zusätzlich, was eingeschlossen ist, dann kommt es eben zu Fehlern in der Abfolge ähm, die ein verändertes Eiweißmolekül ähm, hervorrufen kann. Und das ist jetzt wieder hier dargestellt ((blättert)), dass man … (–) aus dem wird das dann abgelesen und in Proteine oder Eiweißmoleküle umgeschrieben.

F: Hm=hm.

B: Das ist das, was letztlich auf einem Gen, also auf so einem Punkt sozusagen resultiert. Und ähm, es kann aber auch durch diese Veränderungen, durch also Basenaustausche oder Einschlüsse oder Verluste dazu kommen, dass es zu ’nem Abbruch kommt und dass dieses Eiweißmolekül überhaupt nicht gebildet wird. Sodass dann auch die zugehörige Funktion im Körper versch… ähm verloren geht.

F: Hm=hm.

Frau M. blickt die Beraterin ratlos an. „Thymin“, „Base“, „Abfolge“, „Basenaustausche“, „abgelesen“, „umgeschrieben“ – an ihrem Gesichtsausdruck lässt sich ablesen, dass sie nicht viel damit anfangen kann. Selbst, wenn sie das ein oder andere Wort schon mal gehört haben sollte, wirklich sagen kann es ihr nichts. Die Fachbegriffe beziehen sich auf Zusammenhänge, die ihr fremd sind. Das wissenschaftliche Denkgebäude, das diesen Begriffen ihre Bedeutung gibt, ist ihr unbekannt. Die Genetikerin hingegen ist Mitglied der genetischen Denkgemeinschaft. Wörter wie „Base“ und „Thymin“ sind Fachausdrücke, deren Bedeutungen von Lehrsätzen, Forschungsmethoden sowie konzeptionellen und theoretischen Grundannahmen dieser Denkgemeinschaft bestimmt werden. Außerhalb dieses Zusammenhanges sind diese Begriffe jedoch bedeutungslos; Laien wie Frau M. kann nicht klar werden, was eine „Base“ oder ein „Basenaustausch“ sein soll. Darüber hinaus hört Frau M. auch ganz anders zu. Sie ist nicht aus wissenschaftlichem Interesse zur Beratung gekommen, sondern hat Sorge, dass sie an Krebs erkranken könnte. Sie möchte nichts über biochemische und molekulargenetische Modelle wissen, sondern erfahren, wie es um sie steht und was sie vorbeugend tun kann.

Offenbar ist der Beraterin diese Diskrepanz zwischen ihrem fachwissenschaftlichen Crash-Kurs und dem alltagsorientierten Verständnis ihrer Zuhörerin bewusst. Später entschuldigt sie sich dafür, dass sie ihre Klientin so „mit Informationen zugeballert“ hat, wie sie sagt. Kein einziges Mal hakt sie nach, ob Frau M. ihr folgen kann und etwas verstanden hat. Ganz so, als könne sie sowieso kein Verständnis erwarten, spult sie ihre Erklärungen herunter. Ihre Sätze sind dabei auffallend fragmentarisch und verkürzt. Einige Andeutungen erschließen sich nicht einmal Sachkundigen: Dass sie beispielsweise mit „Abbruch“ nicht einen Abbruch des DNA-Strangs oder des Eiweiß-Moleküls meint, sondern einen Abbruch der Transkription, kann ein Zuhörer mit genetischem Grundwissen noch erraten. Was sie jedoch damit meint, wenn sie sagt: „das ist das, was letztlich auf einem Gen, also auf so einem Punkt sozusagen resultiert“, bleibt auch genetisch eingeweihten Zuhörern verschlossen.

Die Genetikerin von Frau M. ist keinesfalls besonders unkonzentriert oder ungeschickt.61 Es kommt häufig vor, dass genetische Berater Fachwissen herunterleiern und in unverständliche, ja verwirrende Sätze packen. Im folgenden Ausschnitt klärt eine andere Genetikerin eine Schwangere darüber auf, welches Risiko ihr Kind in Bezug auf eine erbliche Erkrankung hat und welcher Gentest möglich wäre.

B: Da gibt’s Untersuchungsmöglichkeiten auf dieser Ebene der Erbträgersubstanz, der DNS nennen wir die, Desoxyribonukleinsäure, um Veränderungen in den Genen feststellen zu können heutzutage. Und die nennen wir molekulargenetische Untersuchungen, auf dieser Ebene der Erbträgersubstanz, sie wird aus dem Blut gewonnen und dann ähm wird ihr Aufbau untersucht. Das sind furchtbar komplizierte Verfahren und den Aufbau dieser Erbträgersubstanz, den kennt man in dem Sinne, dass ähm man weiß, dass sie nur aus vier Bausteinen vier Basen, sagen wir, aufgebaut ist, Adenin, Guanin, Cytosin und Thymidin, müssen Sie sich nicht merken, ((schreibt auf)) ich schreib dann abgekürzt, diese vier Bausteine auf, und die durch Wasserstoffbrücken immer AT, A mit T, G mit C verbunden sind und das sind 3 Milliarden solcher Basenpaare so ’ne Lei… wie ’ne Leiter so ’ne Doppelhelix sieht man auch oft abgebildet. Äh die, deren Reihenfolge die genetische Information praktisch verschlüsselt und alles, was in einem ist, wie das funktioniert.

Für eine uneingeweihte Zuhörerin ist es nicht möglich, irgendetwas nachzuvollziehen oder zu verstehen. Die Ausführungen sind gespickt mit Fachvokabular und verkappten Andeutungen. Mit der Bemerkung „müssen Sie sich nicht merken“ gibt die Genetikerin zu verstehen, dass sie von ihrer Klientin gar kein Verständnis erwartet. Im letzten Satz betont sie jedoch die Bedeutung jenes Wissens, das sie ihrer Klientin nur andeuten, aber nicht verständlich machen kann. All das, was sie aufgeführt hat, so behauptet sie, verschlüssele nichts weniger als „die genetische Information und alles, was in einem ist, wie das funktioniert“.

Wenn Klienten bei solchen Ausführungen auch nicht wirklich etwas verstehen können – die Gen-Lektion sagen ihnen dennoch etwas. Ihnen wird vorgeführt, dass Experten im Besitze bedeutsamen Wissens sind, das ihnen selbst unzugänglich bleiben wird.62 Die Genetiker breiten Fachwissen aus, das ihre Klienten zwar nicht begreifen können, aber für bedeutsames Wissen über sich selbst halten sollen. Krebs-Besorgte oder Schwangere sollen sich vorstellen, dass in ihnen so unbegreifliche Dinge wie „Basen“, „Abbrüche“, „Sequenzen“ und verloren gegangene Funktionen stecken. Von diesen Dingen, von denen nur ein Experte Kenntnis haben kann, soll ihr Schicksal abhängen. Will Frau M. etwas über sich selbst wissen, ist sie auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen – auf Informationen, die sie nicht überprüfen und beurteilen kann, sondern als autoritatives Wissen annehmen muss.63 Frau M. hat ein unfassbares Innenleben, ist also für sich selbst unverständlich. Sie hat gelernt, dass das, was sie persönlich ausmacht, jenseits ihres eigenen Horizontes liegt. Die Genetikerin führt Frau M. also vor allem vor Augen, wie unwissend und ohnmächtig sie ist – in Bezug auf sich selbst.

Die Entscheidungsfalle

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