Читать книгу Die vergessene Welt - Simone Lilly - Страница 10

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 10.

Der Morgen graute, und etliche Männer waren bereits auf ihren Posten. Nur Leona und Christjan nicht. Sein Atem ging schwer, beinahe keuchend. Wie anstrengend musste es für ihn sein, jedes Mal einen neuen Atemzug zu tun? Er schlief, jedenfalls hielt er beide Augen müde geschlossen und man konnte nur matt erkennen, wie sich seine Pupillen unter den Lidern bewegten.

Leona hatte sich erhoben, war aufgestanden und getastete wie jeden Tag ihre kurzen Haare, natürlich hatte sie sie im Laufe der Zeit nachschneiden müssen. In all den Monaten, die verstrichen waren, hatte ihr jedoch etwas gefehlt, sie hatte ihrer Meinung nach nicht nur ihre Haare verloren, als Christjan sie ihr genommen hatte, sondern auch ihre Persönlichkeit. Ihr altes Leben. Schwerfällig griff sie sich an den prallen Bauch, als sie in die Knie ging, um Wasser zu holen, es ihm zu überreichen und ihm auf die Stirn zu legen. Als sie vorsichtig an ihn herantrat, wurde er wach und versuchte sie freundlich anzulächeln. Seine Lippen bebten und er drehte sich hastig von ihr fort. Noch ehe sie etwas tun konnte, rollte er sich über die Kante, an der sie zuvor gelegen hatte und erbrach sich über ihr. Mitfühlend holte sie ihn zu sich zurück, deckte ihn zu, obwohl es ihm zu heiß wurde, und legte ihm wie jede Stunde einen nassen Lappen auf die Haut. Sie brannte, war heiß wie Feuer, wie musste er sich fühlen? So als würde er von innen heraus verbrennen?

Da es anfing zu stinken, nahm Leona sich den Eimer mit dem restlichen Wasser zu Hand und ging zögernd zu der Stelle, an der Christjan sich erbrochen hatte. Noch bevor sie ihn angewidert darüber ausschütten konnte, erkannte sie Blut in dem seltsamen Gemisch. Ein Würge Reiz überkam sie und sie musste sich schnell davon abwenden. Was hatte das zu bedeuten? Wenn jemand Blut spie?

Ein weiterer Tag war vergangen. Unentwegt saß sie an seiner Seite, hielt seine Hand und befühlte seine Stirn. Immer wieder quoll Blut aus seinem Mund, wenn er husten musste, oder wenn er sich übergab. Inzwischen war er schon von der übrigen Mannschaft abgeschirmt worden, von ihr getrennt durch einen löchrigen Vorhang, kauerte er wie ein Häuflein Elend in seinem „Bett“. Angst sich anzustecken, hatte Leona nicht. Im Gegenteil, ihr schien es, als wäre sie es ihm schuldig, ihm nun beizustehen, so, als müsste sie es wieder gut machen, dass er ihr geholfen hatte, nicht entdeckt zu werden. Und das musste sie auch, das wollte sie.

Betend führte sie seine Finger zu ihrem Mund und küsste sie flüchtig. „Wird wieder gut. Du wirst gesund.“

Christjan konnte sie bestimmt schon längst nicht mehr hören, sein Atem war flacher geworden, leiser, seine Augen waren stetig geschlossen und er hatte nie ein Wort gesprochen. Nur wenn er hustete, war es ein winziger Augenblick um Leona den Klang seiner Stimme erahnen zu lassen.

Obwohl er so teilnahmslos auf seinem Lager lag, wusste sie, dass er sie spürte, dass er wusste, wie sehr sie mit ihm litt, wie sie unermüdlich neben ihm saß und wie sie mit ihm redete. Auch wusste sie, dass er genau das brauchte.

Keiner der anderen Männer hatte ihn je besucht. Manchmal brachten sie Leona etwas zu Essen. Kümmerten sich jedoch herzlich wenig um ihren Kameraden. Bestimmt aus Angst, selbst so zu verenden. Sie schauderte. Verenden. Nein, sie wollte nicht daran denken. Selbst wenn es schlimm um ihn stand, er würde es schaffen, würde heil nachhause zurückkehren, würde gesund werden. Jetzt musste er sich nur ausruhen, mit ihrer Hilfe.

Erschöpft wippte sie hin und her. Sie war müde, hatte keine Nacht mehr geschlafen aus Sorgen um ihn. Ihre Augen wurden trocken und begannen zu brennen und zu jucken. Ihre Augenlider wurden schwer und sanken immer mehr und mehr hinab. Bestimmt würde niemand etwas dagegen haben, würde sie einen kurzen Moment schlafen. Sache küsste sie seine warme Hand erneut, legte sie zusammen mit ihrer eigenen auf ihren Schoß und ließ sich vom erholsamen Schlaf übermannen.

Es war dunkel geworden, das fühlte sie. Wie lange hatte sie wohl geschlafen? Der Schlaf gab ihr neue Kraft. Sie hatte geträumt, von früheren Zeiten. Von ihrem Bruder, ihrem Vater und sogar von ihrer Mutter, ihrer richtigen Mutter. Obwohl sie sich kaum noch an sie erinnern konnte.

Um sich herum hörte sie, wie die Wellen der stürmischen See gegen den Schiffsbauch peitschten und das beruhigte sie. Mit ihrer Hand fühlte sie, die Christjans. Sie war warm, wohlig warm. So, als wäre das Fieber um einiges gesunken, so, als wäre seine Temperatur gesunken. Und das war sie, denn seine Hand war um einiges kälter als zuvor. Erfreut schlug sie die Augen auf und rutschte näher an ihn heran, um vielleicht nun mit ihm zu sprechen, um ihm neuen Mut zu geben, doch, im selben Moment stockte sie. Seine Augen waren geöffnet. Eigentlich Grund zur Freude, denn das hieß, dass es ihm besser ging. Ihre Mundwinkel zuckten vernehmlich und sie verdeckte sie rasch mit ihrer zitternden Hand. „Christjan?“, flüsterte sie und begann seinen Oberkörper zu rütteln.

In der Ferne hustete jemand. „Christjan?!“

Sie sprach lauter. „Christjan!“

Nun war es ein lauter Schrei, der einen Mann sogar neugierig hinter den Vorhang schielen ließ.

„Was ist passiert?“

„Hilf mir! Hilf mir!“

Auf ihren panischen Schrei hin, überwand er sich, zu dem Kranken zu gehen und befühlte, nach einigem Zögern, sein Handgelenk und somit seinen Puls.

„Was ist?“

„Warte.“

Ihre Stimme wurde lauter, warum tat er nichts? „Was ist los!“

Langsam ließ er seine Hand sinken und schüttelte wenig erschüttert den schweren Kopf. „Er ist tot. Am besten wir werfen ihn über Bord, damit wir uns nicht anstecken.“

Kaum hatte er es gesagt, warf er das Tuch auf dem Christjans Körper lag über ihn, und schulterte den Leichnam somit behändig.

„Nein, warte!“, versuchte Leona ihn davon abzuhalten. „Das kannst du nicht machen!“

Er hörte sie nicht, trug ihn die Treppen hinauf, warf dem Kapitän, als er oben an Deck gelangt war, einen alles erklärenden Blick zu, woraufhin dieser einverstanden nickte und schritt zur Reling.

„Warte!“

Sie konnte ihn nicht einholen, egal wie schnell sie zu laufen vermochte. Mussten sie sich nicht von ihm verabschieden? Hatte der Kapitän nicht eine Rede zu halten? Ihn würdevoll zu Grabe tragen?

Nichts geschah, zwar hatte Lith seinen Hut abgenommen und war beinahe neben sie getreten, auch einige andere Männer waren stehen geblieben und beäugten das Bündel traurig, doch wurde nichts dergleichen getan. Ganz anders, als Leona es von Beerdigungen kannte.

Sie musste weinen, sie wusste, dass sie einen Mann spielen musste, und dass diese nicht weinten, aber es kam so unverhofft über sie, dass sie nicht anders konnte. Dicke Tränen strömten ihr über die Wangen und vernebelten ihre Sicht. „Warte!“, schrie sie erneut und mit brüchiger Stimme. Doch dann, ging alles rasend schnell, der Mann machte ein kurzes, aber andächtiges Kreuzzeichen, blickte zum Himmel, murmelte etwas vor sich hin und warf Christjans Körper mit nur einem Stoß über das Holz. Mit einem lauten „Platsch“ wurde ihnen sein Aufprall verkündet.

Fassungslos war sie stehen geblieben und überlegte sich schon auf ihre Weise, wie sie ihn ihrerseits töten konnte, für das was er getan hatte.

Die vergessene Welt

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