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1.4 Funktionswandel des Nationalismus?

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Die hier skizzierte Typologie ist wertbeziehend, insofern sie die Grundtypen des Nationalismus aus der Präferenz für Werte wie Freiheit, Gleichheit und Ungleichheit ableitet. Sie ist hingegen nicht wertend in der in der Literatur häufig begegnenden Weise, die den Lesern eine Stellungnahme für oder gegen den Nationalismus aufdrängt oder zwischen „bösem“ und „gutem“ Nationalismus unterscheiden zu müssen meint. Das erstere trifft neben den Nationalisten auch auf deren Antipoden zu, die den Nationalismus als „die inhumane und antidemokratische Gefährdung jeder Nationalbewegung“ auffassen77; das letztere auf die in der älteren Forschung so beliebten Dichotomien, die einen „westlichen“ = „rationalen“ Nationalismus einem „östlichen“ = „romantischen“ Modell kontrastieren, das nur mit dem Darwinismus kombiniert werden muß, um in den „integralen Nationalismus“ und schließlich in den Faschismus umzuschlagen78. Auch die funktionalistische Deutung, die diese Dichotomie auf eine Zeitachse projiziert und einen Wandel vom linken zum rechten Nationalismus postuliert, offenbart ihren normativen Kern, wenn sie dies als „Umwandlung einer Befreiungs- in eine Ablenkungsideologie“ deutet und der einen „Emanzipation“, der anderen „Destruktion“ bescheinigt79.

Normative Denkmuster sind in den Sozial- und Geisteswissenschaften vermutlich deshalb so beliebt, weil sie Arbeit ersparen. Läßt man sich dagegen auf die Sache selbst ein, so erkennt man schnell, wie kurzschlüssig die vorgeschlagenen Unterscheidungen sind. Das „rationale“ und das „romantische“ Modell, wenn man diese Kategorien einmal ungeprüft übernimmt, lassen sich keineswegs in eine klare geopolitische Ordnung bringen, kommt doch, was dem letzteren zugeschrieben wird, auch in Westeuropa vor, etwa in Irland oder im Frankreich des 19. Jahrhunderts, während man Belege für das „rationale“ Modell auch im Osten finden kann, im tschechischen oder ungarischen Nationalismus, sogar in Preußen, in dem, was Matthew Levinger enlightened nationalism getauft hat80. Auch die Anordnung auf der Zeitachse überzeugt nicht, sind doch die Merkmale des rationalen Modells mühelos beim Liberalnationalismus des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts nachweisbar, wie umgekehrt Vorformen des integralen Nationalismus schon im jakobinischen Nationalismus identifizierbar sind81. „Partizipationsverheißung“ und „Gewaltbereitschaft“ lassen sich in der Tat nicht, wie Dieter Langewiesche eingewandt hat, auf verschiedene Phasen des Nationalismus verteilen, vielmehr gingen Demokratisierung und Aggression (und zwar nach außen wie innen), Weltverbrüderungsrhetorik und Xenophobie von Anfang an zusammen82.

Man muß aber noch einen Schritt weitergehen und schon das dichotome Schema zurückweisen, das Rationalität einseitig einem Modell zusprechen möchte und für den Gegenpol dann nur „Romantik“, also wohl: Gefühl, Irrationalität und dergleichen übrig läßt. Die Klarheit dieser Gegenüberstellung löst sich sofort auf, wenn man die entsprechenden Nationskonzepte näher prüft. Bei Sieyes, einem Kronzeugen des rationalen Modells, finden wir wohl einen ausgeprägten Rationalismus bei der Verfassungskonstruktion, doch beschränkt sich dieser auf die pouvoirs constitués; vom pouvoir constituant dagegen, der Nation als solcher, gilt dies nicht: als Bedingung der Möglichkeit aller Gesetzgebung steht er außerhalb und über der bloßen Legalität, ist er der Ursprung von allem, das Unbedingte schlechthin, auf das sich nicht zufällig ein Carl Schmitt später bezogen hat83. Der romantische Nationalismus wiederum hat so starke Bezüge zur Klassik und zur idealistischen Philosophie, daß es schon einer Verfälschung gleichkommt, ihn als Gegenpol zu einem rationalen Modell vorzustellen84.

Ebensowenig zwingend erscheint die Koppelung der beiden Nationalismen mit bestimmten politischen Präferenzen. Das als rational apostrophierte Modell hat in der Französischen Revolution nacheinander zur Legitimation eines liberal-besitzindividualistischen, eines liberal-demokratischen und eines diktatorischen Regimes gedient; Merkmalen des romantischen Nationalismus begegnet man nicht nur bei Anhängern antiliberaler und autoritärer Regime wie Ernst Moritz Arndt oder Turnvater Jahn, sondern auch bei erklärten Demokraten wie Jules Michelet, Giuseppe Mazzini oder Johann Georg August Wirth, einem der Initiatoren des Hambacher Festes85. Sehr zu Recht konstatiert Thomas Nipperdey, „daß der romantische Nationalismus im 19.Jahrhundert grundsätzlich mit den drei großen politischen Tendenzen Demokratie, Liberalismus und Konservativismus vereinbar war und sich auch faktisch ständig verbunden hat. Die vor allem von Hans Kohn vorgetragene Dichotomie eines progressiv-demokratischen Nationalismus im Westen, eines illiberal-undemokratischen, autoritären im Osten ist falsch. Von der Idee des durch Sprache und Kultur konstituierten Volkes auszugehen, ist nicht undemokratischer als von Staatsbürgertum und voluntaristischer Volkssouveränität; Illiberalität ist im westeuropäischen Nationalismus nicht weniger häufig als im osteuropäischen“86.

Wenn dies so ist, dann empfiehlt es sich freilich, dem auch bei der Begriffsbildung Rechnung zu tragen. Anstatt mit einem rationalen und einem romantischen Modell des Nationalismus zu operieren, die aus unterschiedlichen Konzepten der Nation abgeleitet werden, sollte man den Nationalismus, wie dies schon Max Weber auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag 1912 angeregt hat, von der Seite des Zieles her definieren, und nicht „von der Seite der gemeinsamen Qualität her, welche die Gemeinschaft erzeugt“87. Für die letztere steht der Begriff des Nationalbewußtseins zur Verfügung, in dem sich nach der Terminologie Estels ein vorpolitisches, ethnisches Zusammengehörigkeitsgefühl und ein politischer Wille verbinden, in je unterschiedlichen Mischungsverhältnissen, die sowohl von der kulturellen Tradition als auch von den politischen Schicksalen eines Volkes bestimmt sind88.

Von Nationalismus dagegen sollte erst dann gesprochen werden, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind: eine gewisse Systematisierung – und das heißt immer auch: Rationalisierung – des Nationalbewußtseins, auch und gerade der auf Sprache und Kultur bezogenen, wenn man so will: „romantischen“ Komponenten; dessen „Schließung“ gegenüber externen, sowohl nationalen wie transnationalen Bewußtseinsformen; eine – ebenfalls im intellektuellen Feld zu vollbringende – Verbindung zwischen dem solchermaßen rationalisierten und partikularisierten Nationalbewußtsein und den als idées forces wirksamen politischen Leitpräferenzen und eine Übersetzung dieser Verbindungen in das politische Feld, das durch die Spannung zwischen Ideen und Interessen charakterisiert ist89. Ich ziehe es deshalb vor, statt von rationalem und romantischem Nationalismus von Liberal-, Links- und Rechtsnationalismus zu sprechen. Daß die beiden ersten einen gewissen zeitlichen Vorsprung vor dem dritten besitzen, dürfte einfach damit zusammenhängen, daß der Nationalismus zuerst von einer politischen Randstellung aus formuliert wird und deshalb unvermeidlich als „radikales Konzept, das gegen den Status quo gerichtet ist“, erscheint. Sobald dieser Status beseitigt und der Staat womöglich in einen Nationalstaat umgewandelt ist, „machen sich vielfältige politische Interessen und soziale Gruppen diese Idee zu eigen. Allein dadurch ließe sich erklären, warum Historiker häufig meinen, daß der Nationalismus im Laufe der Zeit konservativer werde“90. Tatsächlich wird er nicht konservativer, sondern nur komplexer, indem dem Liberal- und Linksnationalismus nunmehr auch ein Rechtsnationalismus an die Seite tritt. Sind wir damit, wie so viele meinen, an der Wurzel des Faschismus? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, was unter Faschismus verstanden wird.

Nationalismus und Faschismus

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