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Missgelaunt wie an jedem Morgen ging Günther Schmidter vor dem Frühstück zum Briefkasten, um die Tageszeitung zu holen. Während sich andere Zeitungsabonnenten mithilfe der Zeitung ihr Frühstück versüßen, war diese für Günther Schmidter jedoch stets ein Quell des Missbehagens.

Natürlich konnte auch er sich wie jeder durchschnittliche Zeitungsleser an Katastrophenberichten jedweder Art erfreuen, besonders wenn sie sich an seinem niederrheinischen Heimatort oder in der näheren Umgebung zugetragen hatten. Natürlich schmeckte der Frühstückskaffee nach dem Genuss einer solchen Meldung über eine Brandstiftung, ein handgreiflich ausgetragenes Ehedrama oder einen spektakulären Verkehrsunfall und der damit einhergehenden persönlichen Entrüstung noch etwas besser.

Jedoch hatte Günther Schmidter wie alle Angehörigen der Generation 50-plus die Angewohnheit, stets zuerst die Traueranzeigen zu lesen. Und während bei anderen Zeitungslesern Traueranzeigen die gleiche beruhigende Wirkung haben wie Berichte über Katastrophen, die einem selbst Gott sei Dank nicht zugestoßen sind, lösten Traueranzeigen bei Günther Schmidter seit gut zwei Jahren stets Unbehagen aus.

Jeder normale Mensch jenseits der 50 freut sich zu lesen, dass es mal wieder jemand anderen plötzlich und unerwartet erwischt hat, während man selbst noch putzmunter und mit gutem Appetit ins reichlich belegte Frühstücksbrötchen beißt. Dieser Lustgewinn stellte sich jedoch bei Günther Schmidter nicht mehr ein. Günther Schmidter war nämlich Bestatter. Nun sollte man eigentlich denken, dass gerade bei einem Bestatter eine Todesanzeige einen noch weit intensiveren Zustand der Verzückung als bei einem Normalsterblichen auslöst, denn Todesanzeigen sind für ihn doch immer auch Umsatzanzeigen. Bei Günther Schmidter lag der Fall jedoch anders. Vor ca. zwei Jahren hatte sich nämlich in unmittelbarer Nachbarschaft zu seinem Bestattungsinstitut, das den etwas angestaubten Namen Trauerhilfe Abendfrieden trug, ein Sargdiscounter angesiedelt. Dieser firmierte unter dem etwas reißerischen Firmennamen McGrave, betrieb ein ruinöses Preisdumping und trieb die Trauerhilfe Abendfrieden langsam aber sicher in den Insolvenztod. Anfangs hatte sich Günther Schmidter über den neuen Konkurrenten lustig gemacht. „In spätestens drei Monaten sind die wieder weg“, hatte er seiner Frau Helga prophezeit. Auch Siggi Senkelbach, Günther Schmidters einziger fest angestellter Mitarbeiter, sah die neue Konkurrenz sehr gelassen. „Wird schon“, war sein knapper Kommentar zu dieser Angelegenheit. Anzumerken ist hier, dass Siggi Senkelbach eigentlich immer größte Gelassenheit verbreitete und jedem Schicksalsschlag mit „wird schon“ seine Schärfe zu nehmen versuchte. Insofern war Siggi Senkelbach die ideale Bestatterpersönlichkeit, bei der Mehrzahl der Kunden der Trauerhilfe Abendfrieden kam diese Wird-Schon-Mentalität gut an. Ein weiteres Charaktermerkmal von Siggi Senkelbach bestand darin, schwierige Situationen möglichst wenig komplex zu beurteilen. Ob es sich um zwischenmenschlichen Zwist zwischen Günther Schmidter und seiner Frau Helga, berufliche Pannen oder die Angst von Hinterbliebenen vor Erbauseinandersetzungen mit der raffgierigen Verwandtschaft handelte – Siggi Senkelbach fasste seine Einschätzung der Lage stets in dem entkrampfenden Satz zusammen: „Entweder et läuft oder et läuft eben nisch“. Da Günther Schmidter ein eher grüblerischer Charakter zu eigen war, brachte ihn diese Sichtweise nicht selten zur Raserei.

Zunächst sah es so aus, dass Günther Schmidter und Siggi Senkelbach mit ihrer Einschätzung zur neuen Konkurrenz recht behalten sollten. Der Sargdiscount kam anfangs nicht richtig in Schwung. Viele Passanten, die der englischen Sprache nicht ganz mächtig waren, hielten McGrave für ein Schnellrestaurant mit einer etwas eigenwilligen Schaufensterdekoration (sollten die ausgestellten Särge und Urnen vor den gesundheitlichen Risiken von Fast Food warnen?) oder assoziierten mit McGrave ein Fitnessstudio für sehr betagte Mitbürger.

Doch aller Anfangsschwierigkeiten zum Trotz florierte der Sargdiscount schon bald ganz ungemein. Pietät hin oder her, an dem Preisknaller McGrave-all-inclusive- Abschiedsspecial konnte kaum ein Hinterbliebener vorbei kommen. Angeboten wurde hier als Komplettpaket ein Sperrholzsarg in Mahagonioptik plus Leihdecke und -kissen, dazu eine visagistische Verjüngung des Verstorbenen um garantiert mindestens 20 Jahre, ein multireligiös ausgebildeter Trauerredner sowie wahlweise fünf verschiedene Musikstücke zur stimmungsvollen Untermalung der Trauerfeier, das alles für schlappe 399 Euro - einfach unschlagbar! Auf viele trauernde Angehörige wirkte diese enorme Preisersparnis wie Balsam auf die wunde Trauerseele. Mit dem guten Bewusstsein, ein tolles Schnäppchen gemacht zu haben, ging die Trauerarbeit eben etwas leichter von der Hand und der Tod erschien in einem milderen Licht. So musste Günther Schmidter bei seinem täglichen Studium der Traueranzeigen feststellen, dass zwar weiterhin erfreulich häufig gestorben wurde, jedoch die finalen Dienstleistungen mehr und mehr von McGrave übernommen wurden. Immer weniger schmerzgeplagte Hinterbliebene betraten sein Institut, um sich von ihm tröstende Unterstützung zu holen und einen Vertrag zu unterschreiben. Und wenn sich trotzdem mal ein Kunde in seinen Geschäftsräumen blicken ließ, so wünschte er meist eine wenig lukrative Urnenbestattung oder entschied sich für den Han-Shin17/9, einen Billigsarg aus China. Am liebsten hätte Günther Schmidter dann solch einem Kunden unter die Nase gerieben, dass Han-Shin auf Deutsch fröhliche Reise hieß. Da er aber nicht wusste, was mit dem Kürzel 17/9 gemeint war (vielleicht eine Straßenbahnlinie zum Pekinger Hauptfriedhof?) ließ er es bleiben und verkaufte zähneknirschend diesen fernöstlichen Schund. Er konnte sich schon gar nicht mehr erinnern, wann er zum letzten Mal das Sargmodell Heimkehr, einen wirklich repräsentativen Eichemassivsarg mit üppigen Bronzebeschlägen und hochwertiger Innenausstattung aus hautfreundlichen und antiallergischer Naturmaterialien, verkauft hatte. „Damit können Sie sich überall sehen lassen“, war Günther Schmidters Standardspruch, wenn er einen Kunden von den Vorzügen dieses Luxusmodells überzeugen wollte. Doch seit McGrave die Trauernden schamlos mit Supersonderangeboten drangsalierte, sich ihre mentale Ausnahmesituation zunutze machte, um sie skrupellosem Rabattterror auszusetzen, machte sich auch bei Günther Schmidters schwindender Kundschaft die Geiz-ist-geil-Mentaliät breit und der Heimkehr gammelte friedlich im Sarglager vor sich hin.

Zurückgekehrt vom Briefkasten setzte sich Günther Schmidter an den Frühstückstisch. Wie immer hatte ihm seine Frau Helga schon eine Tasse Kaffee eingeschenkt, die er wie immer zunächst unbeachtet stehen ließ, um sich erst der Lektüre der Traueranzeigen zu widmen.

„Nun leg doch erstmal die Zeitung weg und lass uns in Ruhe frühstücken“, nörgelte Helga wie an jedem Morgen.

Und wie an jedem Morgen schüttelte Günther Schmidter nur kurz den Kopf und erwiderte mürrisch:

„Erst die Anzeigen.“

Dann las er laut vor, wer alles gestorben war, wobei er die Verblichenen in zwei Kategorien einteilte: diejenigen, die zum Kundenkreis der Trauerhilfe Abendfrieden zählten und den Rest. Leider war die Leichenpopulation, die dem Rest zugerechnet werden musste, heute wie an jedem Morgen um das Mehrfache größer als die Schmidtersche Klientel. Günther Schmidters Laune erhielt einen zusätzlichen Dämpfer, als er las, dass Bäckermeister Piesenkötter, zu dessen treuen Stammkunden die Schmidters zählten, offenbar von der Konkurrenz zu Grabe getragen wurde. „Na dem werd ich was erzählen. Da kaufen wir jahrzehntelang seine zähen Brötchen und klebrigen Plunderteilchen und wenn er sich mal mit einem Gegengeschäft erkenntlich zeigen könnte, lässt er sich kackfrech von der Konkurrenz verscharren. Aber nicht mit mir! Ab heute wird bei dem nichts mehr gekauft – und das werd ich ihm bei nächster Gelegenheit auch mal mit ein paar ganz klaren Worten stecken!“ „Bei dem Piesenkötter können wir eh nichts mehr kaufen, weil er ja anscheinend tot ist“, erwiderte Helga Schmidter genervt. Wie immer in solchen Situationen geriet Günther Schmidter derart in Rage, dass ihm seine Frau nur mit Mühe klar machen konnte, dass es zur Eigenart des Versterbens gehört, dass der Verstorbene Standpauken, Drohungen und Beschimpfungen gegenüber kein offenes Ohr mehr hat, auch rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich ist und verbalen Attacken in der Regel mit stoischer Gelassenheit begegnet. Wütend über den mangelnden unternehmerischen Kampfgeist seiner Frau blätterte der Bestatter die Zeitung weiter durch. Auf der Seite mit den Geschäftsanzeigen erregte ein Inserat einer Unternehmensberatung seine Aufmerksamkeit. Angeboten wurde hier ein Seminar für kleinere Firmen aus Dienstleistung und Handel. Die teilnehmenden Kleinunternehmer sollten dort lernen, wie ihre vor sich hindümpelnden Unternehmen durch unkonventionelle Maßnahmen wieder zu voller Blüte gedeihen konnten und ihre Besitzer reich und glücklich machten. Günther Schmidter war von diesem Angebot spontan begeistert. Vielleicht könnte er hier Anregungen zur geschäftlichen Wiederbelebung der still dahinscheidenden Trauerhilfe Abendfrieden bekommen. Noch am gleichen Tag meldete er sich, seine Frau und Siggi Senkelbach für dieses Seminar an, das bereits in der nächsten Woche beginnen sollte.

Der Kenner stirbt im Frühling

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