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Obwohl sich Helga Schmidter und Siggi Senkelbach wenig von der Teilnahme an dem Seminar für Kleinunternehmen versprachen, bestand Günther Schmidter darauf, dass sie alle drei dort mitmachten, um so der Trauerhilfe Abendfrieden einen entscheidenden Innovationsschub zu verpassen.

Außer den Schmidters und Siggi Senkelbach waren in dieser Veranstaltung keine weiteren Vertreter des Bestattungsgewerbes. Anscheinend war die Trauerhilfe Abendfrieden das einzige Bestattungsinstitut in der näheren Umgebung, das seinen Besitzer nicht reich und glücklich machte. Die übrigen Seminarteilnehmer waren meist Friseure, Kneipiers, Boutiquenbesitzer und Einzelhändler aus der Geschenkartikelbranche.

Der Seminarleiter, Herr Lampe, ein dynamisch auftretender junger Mann, hielt zu Beginn einen außerordentlich schwungvollen Vortrag über positives Denken. Sehr plastisch berichtete er davon, wie er in seinem Leben jede Niederlage als Chance begriffen habe und daraus immer wieder gestärkt hervorgegangen sei.

Seine raumgreifende Gestik, seine euphorische Intonation und sein nie enden wollendes Dauerlächeln erinnerten Günther Schmidter an eine Bestattung vor ca. vier Jahren, genauer gesagt an die damalige Trauerrede. Auf Wunsch der Angehörigen wurde diese von einem evangelikalen Prediger, der gerade seine Ausbildung in den USA absolviert hatte, gehalten. Die Predigt dieses Geistlichen glich einer öffentlichen Verkaufsveranstaltung in einer Fußgängerzone, wo in marktschreierischer Weise ein für jeden Haushalt absolut unverzichtbares praktisches Haushaltsgerät angepriesen wurde, dessen Kauf die garantierte Erlangung ewiger Glückseligkeit versprach.

Zusammengefasst lautete die Botschaft des Predigers, dass der Verstorbene seinen Tod doch auf jeden Fall als die Chance seines Lebens betrachten solle. Ob das der Leichnam genauso sah, blieb unklar. Sollte etwa der Tod seines Bestattungsinstituts für Günther Schmidter zu der Chance seines Lebens werden? Günther Schmidter war verwirrt. Der neben ihm sitzende Siggi Senkelbach schien Herrn Lampe dagegen offenbar gut zu verstehen, jedenfalls deutete sein zustimmender Gesichtsausdruck darauf hin. Wahrscheinlich erahnte Siggi Senkelbach eine tiefe Seelenverwandtschaft mit Herrn Lampe – hatten beide doch im Grunde die gleiche Botschaft für die geplagte Menschheit: Wird schon. Nur, dass Herr Lampe diesen knappen Hinweis zu einem gut einstündigen Vortrag ausgewalzt hatte. Angesichts dieses Ausbunds an guter Laune, Selbstvertrauen und Optimismus wurde Günther Schmidter richtig neidisch. Herr Lampe musste schon verdammt viele Niederlagen in Chancen verwandelt haben, so wie er hier auftrat. Vielleicht beflügelten ihn aber auch nur die saftigen Kursgebühren, die er vor Beginn seines Vortrags in bar eingesammelt hatte. Schmerzlich wurde Günther Schmidter bewusst, dass im Bestattungsgewerbe Vorkasse leider verpönt ist.

Nachdem der Vortrag beendet war, verteilte Herr Lampe Papier und Zeichenstifte und bat alle Kursteilnehmer, ihre geschäftlichen Träume ganz spontan und fantasievoll zu malen. „Entwickeln Sie Visionen, werden Sie zum Visionär“, war Herrn Lampes wenig konkreter Rat, als er sah, dass die meisten Teilnehmer zwar verträumt mit visionärem Blick zur Zimmerdecke schauten, dabei aber noch kreativ unentschlossen auf ihrem Buntstift kauten. Von Berufswegen zur Kreativität verdammt, fingen schon bald die Vertreter der Bastelbedarfsbranche als Erste an, entschlossen den Zeichenstift zu schwingen. Ihre zu Papier gebrachten Visionen erinnerten irgendwie an getöpferte Namenschilder für Eingangstüren. Neben viel putzigem ornamentalem Beiwerk brachten sie den Traum der Bastelbedarfseinzelhändler zum Ausdruck: heile Welt und genug Geld. Das Geldmotiv tauchte auch in den künstlerischen Machwerken fast aller anderen Kursteilnehmer auf, erfuhr jedoch bei den Friseuren und Boutiquenbesitzern eine leichte Steigerung ins Utopische: große Welt und sehr viel Geld. Die Kneipiers wiederum variierten das vorherrschende Leitmotiv mehr in Richtung Bodenständigkeit: genug Bier und keine Schulden. Herr Lampe ging durch die Reihen der frischgebackenen Visionäre, schaute sich die ästhetisch eher dürftigen aber mit viel persönlicher Hoffnung durchtränkten Kunstwerke an und nickte zufrieden. Offenbar hatte sein Einstiegsvortrag seine Wirkung nicht verfehlt, es gab keine Kreativitätsverweigerer und niemand stellte den Sinn dieser Malaktion in Frage. Die Geschäfte der Seminarteilnehmer schienen derart schlecht zu laufen, dass jeder bereit war, nach dem letzten rettenden Strohhalm respektive Zeichenstift zu greifen. Als Herr Lampe jedoch Günther Schmidters gemaltem Traum ansichtig wurde, zuckte er leicht zusammen und für einen winzigen Moment unterbrach er sein Dauerlächeln. Hatte dieser Teilnehmer denn überhaupt nichts von seinem Eröffnungsvortrag in sich aufgenommen? Günther Schmidters Zeichnung schien geradezu eine freche Negierung der Lampeschen Optimismusbotschaft! Das Zeichenpapier war randvoll mit schwarzen Kreuzen gefüllt. Günther Schmidter bemerkte Herrn Lampes kurze PositivDenk-Blockade, lächelte etwas verlegen und erläuterte: „Naja das ist halt so ein Wunschdenken von mir. Mit der Hälfte wäre ich eigentlich auch schon zufrieden.“ Offenbar braucht dieser Mann eher psychiatrische als unternehmerische Unterstützung, ging es Herrn Lampe durch den Kopf. Momentan war ihm nicht präsent, dass es sich bei Günther Schmidter um ein Mitglied der Bestatterzunft handelte. Irrigerweise ging er davon aus, dass Günther Schmidter Gastwirt sei. „Sie haben offenbar ein ambivalentes Verhältnis zu ihren Gästen. Ich finde das ganz toll, dass Sie das hier so offen ausdrücken können“, mutmaßte Herr Lampe vorsichtig. Die Bezeichnung Gäste bzw. Gast gefiel Günther Schmidter. Hatte was viel Verbindlicheres als der Tote oder der Leichnam oder der Verstorbene. Er nahm sich vor, seinen Sprachgebrauch dahin gehend zu optimieren. Herr Lampe schien einen guten Job zu machen! Nur mit dem Ausdruck ambivalent konnte Günther Schmidter nichts anfangen, wollte sich das aber nicht anmerken lassen. „Richtig, ich sag immer zu meinem Mitarbeiter“, Günther Schmidter deutete auf Siggi Senkelbach, „Hauptsache wir haben zu unseren Gästen ein ambivalentes Verhältnis.“ Siggi Senkelbach fühlte sich angesprochen, hatte jedoch nicht ansatzweise eine Ahnung, worüber sich sein Chef und Herr Lampe unterhielten. Deshalb gab er mit seinem bewährten unverbindlichen Lächeln seinen Standardspruch, „entweder et läuft oder et läuft nisch“ zum besten. Herr Lampe war ratlos. Ratlosigkeit war jedoch in seinem professionellen Verhaltensrepertoire nicht vorgesehen. Diesen Geisteszustand gestand er sich nur in Auseinandersetzungen mit seiner Lebensgefährtin Gabi zu, wenn diese ihn in ein Gespräch über ihre Visionen in Richtung Familiengründung verwickelte. Ratlosigkeit als Chance schoss es Herrn Lampe durch den Kopf. Mit diesem Gedanken konnte er aber spontan auch nicht viel anfangen – jedenfalls musste er sich diese Metapher für das nächste visionäre Gespräch mit Gabi merken, könnte Gabi evtl. von ihrem Familiengründungsgetue abbringen. Jetzt sagte Herr Lampe erstmal das, was jeder gut ausgebildete Berater sagt, wenn er überfordert ist: „Ich lass das jetzt einfach mal so im Raum stehen.“ Günther Schmidter und Siggi Senkelbach schauten sich im Seminarraum um, konnten aber nicht auf Anhieb erkennen, was der Seminarleiter wo stehen lassen wollte. Und so ließen auch sie erstmal alles dort stehen, wo es stand.

Herr Lampe stellte sich nun im Seminarraum auf ein kleines Podest vor die Teilnehmer und erklärte die nächste Aufgabenstellung:

„Ich möchte Sie nun bitten, ein Rollenspiel vorzubereiten. Überlegen Sie sich bitte, wie Sie einen neuen Kunden oder Gast, der ihr Geschäft zum ersten Mal betritt, mit unkonventionellen Argumenten oder ungewöhnlichen Dienstleistungsangeboten überzeugen können.“

An den zweifelnden Blicken der Teilnehmer erkannte Herr Lampe, dass er die ihm anvertrauten Kleingewerbetreibenden nun offenbar an ihre kreative Grenze geführt hatte. Das war gut so, Grenzerfahrungen stärkten nach Herrn Lampes Meinung die visionären Potenziale. Außerdem gab ihm diese Situation wieder einmal die Möglichkeit unterstützend einzugreifen und seine kreativen Ressourcen unter Beweis zu stellen – die Teilnehmer sollten hier schließlich mit dem guten Gefühl sitzen, dass ihr Coach jeden Euro der stattlichen Kursgebühren wert war.

„Ich will Ihnen helfen und möchte Ihnen ein Beispiel geben“, Herr Lampe wandte sich an Frau Pehlworm, die Inhaberin eines Geschäfts für Bastelbedarf.

„Sie z. B. könnten einen Kunden durch eine ungewöhnliche neue Geschenkverpackung überzeugen. Fällt Ihnen da was ein?“

„Die meisten meiner Kunden kaufen bei mir kein Geschenk, sondern nur für sich selbst“, erwiderte Frau Pehlworm verunsichert.

Der Seminarleiter wurde leicht ungehalten. Diese übergewichtige Basteltante sollte ihm jetzt bloß nicht seinen Auftritt vermasseln.

„Nun seien Sie doch mal nicht so blockiert. Kommen Sie jetzt mal zu mir hoch und überzeugen Sie mich als Kunden durch eine originelle Verpackungsidee.“

Widerwillig und begleitet von einem leichten Schweißausbruch betrat Frau Pehlworm das Podest. Herr Lampe legte sofort rollenspielend los: „Guten Tag, ich suche ein Geschenk für eine Bekannte, etwas Originelles.“

„Ja da könnte ich Ihnen z. B. ein Set Malen nach Zahlen empfehlen. Vielleicht das Einsteigerset Rembrandt oder das Set Picasso für Fortgeschrittene. Zum Picasso gibt’s noch einen Schwanz“, Frau Pehlworm verhaspelte sich, ihre Schweißflecken wuchsen, „ich meine natürlich einen Pinsel mit Schwanz, also einen Pinsel mit Haaren vom Marderschwanz dazu. Gratis.“ „Nein, nein so geht das nicht“, unterbrach Herr Lampe. „Sie müssen den Kunden erstmal durch eine innovative Dienstleistung verblüffen, danach können Sie ihm dann alles verkaufen. Also bitte zuerst die neuartige Verpackung!“ Angeregt durch die holprige Rollenspielvorführung dachte auch Günther Schmidter über eine neue Verpackungsidee nach. Gar nicht so einfach, Särge und Urnen gab es schon in allen möglichen Variationen, da noch etwas Neues zu finden war schwierig. Vielleicht ein stabiles Geschenkpapier? Evtl. je nach Jahreszeit mit unterschiedlichen Dekors: Sommerblumen, Osterhasen, Christbaumkugeln oder auch stimmungsvolle Winterlandschaften. So verpackt müsste sich der Leichnam doch ganz ansprechend aufbahren lassen – oder wie Helga Schmidter immer sagte: „Das Auge trauert mit.“ Wenn der Verstorbene vorher noch mit ein wenig Make-up aufgefrischt würde, käme auch eine Klarsichtfolie in Frage. Die Enden könnte man wie bei einem Blumenstrauß sehr ansprechend mit einer bunten Schleife zusammenbinden. Könnte als Posten Leichenpräsentverpackung im Katalog der Trauerhilfe Abendfrieden aufgeführt werden. Am liebsten würde er Herrn Lampe sofort seine bahnbrechende Verpackungsidee vorstellen, doch nun galt es zunächst, Frau Pehlworms Kreativschub zu lauschen. Auf dem Podest startete eine sichtlich verunsicherte Bastelbedarfsexpertin ihren zweiten Rollenspielversuch: „Ach ja, ein Geschenk für Ihre Bekannte, da haben wir so einiges.“ Der Seminarleiter schaute sie scharf an. „Da kann ich Ihnen gleich mal was zeigen und natürlich kann ich Ihnen das dann auch schön verpacken.“ „Ja, eine originelle Verpackung wäre natürlich toll“, Herr Lampe versuchte Frau Pehlworm zu unterstützen. Mittlerweile war sie jedoch derart blockiert, dass sie ihren Coach nur noch mit großen Augen anstarrte und an Hals und Dekolleté tiefrote Flecken produzierte, die auf Geschenkpapier ein aufregendes Muster abgegeben hätten, so aber nur peinlich wirkten. „Ja wir haben da so einige Verpackungen“, startete Frau Pehlworm einen neuen Anlauf, ihre Bluse wies im Achselbereich handtellergroße Schweißflecken auf, die sich dramatisch ausweiteten. „Was würden Sie mir denn da besonders empfehlen?“ Herr Lampe wurde wieder strenger. „Eine handgetöpferte Geschenktüte.“ In ihrer Verzweiflung fiel Frau Pehlworm nichts Besseres ein. Herr Lampe schaute sie ungläubig an, war letzten Endes aber froh, dass die Basteltante überhaupt irgendeine Idee zustande gebracht hatte und spulte ohne zu zögern wieder seine Positiv-Denken-Masche ab: „Ja Frau Pehlworm, ich denke das war doch schon mal ein super Anfang für ein gewinnbringendes Verkaufsgespräch. Ich muss sagen, Sie hatten das ganz toll drauf, mich als Kunden voll zu begeistern. Am liebsten hätte ich Ihnen Ihren Laden ratzeputz leer gekauft. Ich bitte um einen Applaus für Frau Pehlworm.“ Günther Schmidter konnte den Enthusiasmus des Seminarleiters nicht ganz nachvollziehen. Eine handgetöpferte Geschenktüte schien ihm als Verpackungsmaterial reichlich unpraktisch. Seine Vorbehalte gegenüber keramischen Verpackungen hatten einen ernsten Hintergrund: mindestens einmal pro Monat zerdepperte der reichlich ungeschickte Siggi Senkelbach eine Urne. Einmal sogar samt der ascheförmigen Überreste von Notar Rehbein. Trotz seiner Zweifel beteiligte er sich am allgemeinen Applaus für die erschöpfte Rollenspielerin. Deren nun komplett schweißdurchtränkte Bluse ging in einen transparenten Zustand über und konnte ihre üppigen Brüste deshalb nur noch unvollständig verbergen. Dieser Teil der Vorstellung gefiel Siggi Senkelbach. „Isch würd sagen, da täte ein handjetöpferter BH jetzt jute Dienste“, raunte er lachend in Günther Schmidters Richtung. „So, jetzt haben Sie alle mit eigenen Augen gesehen, wie einfach es ist, einen Kunden durch ein unkonventionelles Verkaufsargument oder ein ungewöhnliches Dienstleistungsangebot in seinen Bann zu ziehen“, Herr Lampe lief erneut zu Hochform auf. Siggi Senkelbach war immer noch von der transparenten Bluse gefangen und bezog deshalb Lampes Ausführungen auf Frau Pehlworms Blusennummer. Obwohl er eigentlich keinen Bezug zu kunsthandwerklichem Schaffen hatte, beschloss er, in den nächsten Tagen mal im Pehlwormschen Bastelgeschäft vorbeizuschauen und sich dort intensiv beraten zu lassen. Unsanft wurde Siggi Senkelbach aus seinen Träumen gerissen, der Seminarleiter klatschte aufmunternd in die Hände und motivierte zur Weiterarbeit: „Ich bin mir sicher, so wie Frau Pehlworm können Sie das alle. Entwickeln Sie jetzt also Ideen, in einer halben Stunde machen wir dann weiter mit den Rollenspielen.“ Günther Schmidter zog sich mit seiner Frau und Siggi Senkelbach an einen kleinen Ecktisch zurück, um zu beratschlagen, wie man das drohende Rollenspiel halbwegs passabel über die Bühne bringen könnte. Es ist eben schon verdammt schwer, sich originelle Verkaufsargumente oder innovative Dienstleistungen auszudenken, wenn man im Bestattungsgewerbe tätig ist. Die Idee mit dem Geschenkpapier fand Günther Schmidter zwar immer noch gut, aber irgendwie noch nicht ausgereift genug. Nach quälend langen Minuten des Nachdenkens entwickelte sich bei Helga Schmidter aus der Erinnerung an eine Typberatung ganz allmählich eine brauchbare Idee: wie viele Bestattergattinnen hatte sie stets das Bedürfnis, dem eher tristen Image, das ihrem Berufsstand anhaftete, einen Gegenpol durch besonders farbenfrohe Kleidung entgegen zu setzen. Um sich konfektionsmäßig noch vorteilhafter zu präsentieren, hatte sie unlängst eine Typberaterin aufgesucht. Nach eingehender Prüfung klassifizierte diese sie als Herbst- bis Wintertyp. Helga Schmidter war entsetzt. Da gab sie eine schöne Stange Geld aus, nur um sich von dieser dummen Kuh solche trüben Jahreszeiten andrehen zu lassen! Doch die Bestatterin war resolute Geschäftsfrau genug, um hier noch nachzuverhandeln und ein besseres Ergebnis rauszuschinden. Nach einigen sehr klaren Worten von Frau Schmidter räumte die Typberaterin ein, dass man bei ihr durchaus noch einen Frühlingstyp durchgehen lassen könnte. In Erinnerung an diese ebenso professionelle wie im Ergebnis erfreuliche Typberatung schlug Helga Schmidter nun vor: „Ich denke, eine Typberatung wäre was Originelles.“ Günther Schmidter und Siggi Senkelbach schauten sie verständnislos an. „Also ich stelle mir das so vor“, fuhr sie fort, „wir bieten für den Verstorbenen eine letzte jahreszeitliche Typberatung an und können dann dazu ein individuelles Sargmodell samt passender Decke, Kissen und Leichenhemd verkaufen.“ Günther Schmidter und Siggi Senkelbach schienen dieser Idee gegenüber immer noch etwas ratlos. Das hatte weniger mit dem Umstand zu tun, dass sie Bestatter waren, als vielmehr mit dem, dass sie Männer waren. Für einen Mann ist eine Typberatung etwas vollkommen Sinnloses – er weiß von sich selbst ohnehin, dass er ein sympathischer Typ ist und welchen Typ Frau er attraktiv findet, braucht ihm auch niemand zu sagen. Ein Mann findet eine Frau entweder sexuell anziehend oder nicht, mit diesem Jahreszeitentypgetue kann er nichts anfangen. Sollte man denn, nur weil man ein begeisterter Skifahrer ist, ein knackiges Sommertypmäuschen links liegen lassen? Oder durfte ein eingefleischter Mallorca-Fan ein winterliches Skihaserl, das sich in den Ballermann verirrt hatte, keines anzüglichen Blickes würdigen? Helga Schmidter redete weiter auf die Beiden ein, um sie von den Vorteilen ihrer innovativen Geschäftsidee zu begeistern. Allmählich konnte sich Günther Schmidter doch für den Vorschlag seiner Frau begeistern. Mochte dieser Jahreszeitentypenhokuspokus nach seiner Meinung auch der reine Humbug sein, überzeugten ihn aber letzten Endes doch die finanziellen Perspektiven, die sich hier auftaten. Es verstand sich von selbst, dass sich ein Frühlings-, Sommer- oder Herbstsarg als Sondermodell im hochpreisigen Premiumsegment vermarkten ließen – ganz zu schweigen von einem Wintertypmodell, das schon allein wegen einer extra dicken Polsterung einen saftigen Preisaufschlag rechtfertigte. Seine Berufserfahrung sagte Günther Schmidter, dass sich die meisten seiner Gäste wegen ihrer bleichen Erscheinung zweifelsfrei dem Wintertyp zuordnen ließen. Günther Schmidter träumte von rasant steigenden Umsatzzahlen.

Abrupt wurden seine Umsatzfantasien beendet, als Herr Lampe das Podest betrat, in die Hände klatschte und mit der ihm eigenen Dynamik nach einem Freiwilligen für die nächste Rollenspielvorführung suchte.

„Ich bin überzeugt, dass Sie alle ganz tolle Ideen entwickelt haben. Wer möchte denn jetzt als Erster mal seine Vision in einem Rollenspiel demonstrieren?“

In den Reihen der Seminarteilnehmer trat augenblicklich eine große Stille ein. Die meisten schauten angespannt auf ihre Schuhe oder an die Zimmerdecke. Unbefangene Zuschauer hätten das Ganze für eine Meditationsübung halten können. Alle mieden den Blickkontakt mit Herrn Lampe. Solche Momente betretenen Schweigens waren Günther Schmidter von Berufswegen wohl vertraut, intuitiv pflegte er dann ein unverbindlich dezentes, pietätsvolles Lächeln aufzusetzen.

Auch jetzt löste die Situation dieses Lächeln bei ihm reflexhaft aus. Das war ein Fehler. Mit geschultem Blick wurde Herr Lampe dieser leichten Unvorsichtigkeit sofort gewahr, interpretierte die aufgelockerte Mimik des Bestatters dreist als Zustimmung und bat ihn auf das Podest. Günther Schmidter blieb zunächst demonstrativ sitzen, aber Siggi Senkelbach dieser Idiot begann spontan zu klatschen, worauf sich sofort alle Kleinunternehmer erleichtert dem Applaus anschlossen. Ihm blieb nichts übrig, als zur Bühne zu gehen und Herrn Lampe als Rollenspieldepp zur Verfügung zu stehen.

Pikanterweise ging Herr Lampe immer noch von der irrigen Annahme aus, dass Günther Schmidter dem Berufsstand der Gastwirte angehörte.

„Gut Herr Schmidter, dann lassen Sie uns direkt mal loslegen. Also ich komme jetzt als Gast bei Ihnen rein und Sie überzeugen mich mit einer ganz neuen Dienstleistung oder einem verblüffenden Verkaufsargument.“

Bevor Herr Lampe sein Rollenspiel starten konnte, unterbrach ihn Günther Schmidter: „Moment, eigentlich kommen unsere Gäste nicht selbst zu uns, sondern wir holen sie ab.“

Einen solch innovativen Service hätte Herr Lampe dem vermeintlichen Kneipier Schmidter nicht zugetraut.

„Alle Achtung, da sind sie mit ihrem Betrieb ja schon auf dem richtigen Weg. Aber nehmen wir für unsere kleine Simulation einfach mal an, ich wäre ein Gast, der selbst zu Ihnen kommt.“

Günther Schmidter fand dieses Rollenspielarrangement zwar reichlich unrealistisch, da er sein Bühnendebüt aber so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte, beschloss er, den Regieanweisungen des Seminarleiters einfach ohne Wenn und Aber zu folgen.

„Guten Tag, ich habe einen Riesendurst auf ein Bier, was können Sie mir denn Gutes anbieten“, startete Herr Lampe.

Entweder das ist so ne blöde Masche, um mich aus der Reserve zu locken oder der Kerl hat ne Schraube locker, schoss es Günther Schmidter durch den Kopf, egal, auf keinen Fall provozieren lassen, wollen doch mal sehen, wer hier der Verkaufsprofi ist! „Getränke gibt’s nur für die Hinterbliebenen, Ihnen könnte ich aber eine Typberatung anbieten.“ Herrn Lampe beschlich das dumme Gefühl, dass ihn dieser Schmidter erneut ratlos machen wollte. Wieso weigerte sich dieser durchgeknallte Gastwirt, seinen Gästen alkoholische Getränke zu verkaufen, faselte stattdessen von Hinterbliebenen? Sollte Schmidters Kneipe am Ende daran kranken, dass bei ihm nur Alkoholiker im Endstadium verkehrten, zu schwach um selbst auf eigenen Füßen zu ihm zu kommen und mit derart perforierten Magenwänden, dass jeder Tropfen Alkohol den sofortigen Exitus bedeuten würde? Herr Lampe verbot sich augenblicklich, weiter über Schmidters heruntergekommene Säuferspelunke nachzudenken, immerhin bot die Idee mit der Typberatung einen interessanten Ansatz. Andererseits konnte er sich eigentlich nicht vorstellen, dass diesem Geschäftsmodell, schwerst Alkoholkranken kurz vor ihrem Ableben noch eine Typberatung zu verkaufen, ein nennenswerter Erfolg beschieden sein könnte. „Aha, eine Typberatung können Sie mir anbieten, sehr interessant. Und was …, also was könnte ich mit dieser Typberatung dann sozusagen anfangen?“ „Wir könnten dann für Sie das passende Sargmodell plus Wäsche und Leichenhemd aussuchen.“ Allmählich wurde dem Seminarleiter klar, dass dieser Kneipier gar nicht so ein großer Volltrottel war, wie er zunächst annahm. Diese Geschäftsidee hatte tatsächlich was Geniales: man eröffnet eine Kneipe, karrt todkranke Alkoholiker ran, von denen kein großer Bierumsatz mehr zu erwarten ist und verkauft ihnen stattdessen mit dieser Typberatungsmasche ein komplettes Sarg-Set mit allem Drum und Dran. Vielleicht könnte man dann später in der Kneipe auch noch den Trauerkaffee anbieten – Herr Lampe hatte Blut geleckt. Dieses revolutionäre Konzept musste er selbst vermarkten! „Ich würde sagen, Sie sind der klassische Wintertyp, das sieht man auf den ersten Blick. Da würde ich Ihnen natürlich besonders unser Modell Wintertraum empfehlen, schön dick gepolstert, Decke und Kissen mit dem Dekors Jingle Bells und wahlweise zusätzlich eine Heizdecke“, Günther Schmidter lief zu Hochform auf. Seine Frau war begeistert, wie schnell er die Feinheiten der Typberatung verstanden hatte. Auch Herr Lampe war sehr angetan von Günther Schmidters Verkaufstalent. „Ja, ich denke, das war doch sehr überzeugend. Ich bitte um einen großen Applaus für Herrn Schmidter.“ Beseelt verließ der Bestatter das Podest. Helga Schmidter gab ihrem Mann voller Stolz einen Kuss auf die Wange – ein untrügliches Zeichen dafür, dass er Großes geleistet hatte, denn Küsse wurden in der Schmidterschen Ehe seit vielen Jahren nur noch zu besonderen Anlässen ausgetauscht. Siggi Senkelbach war auch sehr angetan von der Verkaufsvorführung seines Chefs. Da er jedoch über keine rasche Auffassungsgabe verfügte, grübelte er noch einige Zeit darüber nach, wieso ihm im Sarglager bisher noch nie das Modell Wintertraum aufgefallen war und wo sein Chef wohl die Heizdecken gelagert haben mochte. Nach Günther Schmidters Glanznummer folgten noch einige weitere Rollenspiele. Ein Friseur stellte seine Idee vor, beim Haareschneiden ähnlich wie ein Barkeeper, der die Flaschen und Mixbecher kunstvoll durch die Luft wirbelt, die Scheren, Bürsten und Rasiermesser in tollkühnen Salti Mortali über den Kopf seines Kunden fliegen zu lassen. Aus versicherungstechnischen Gründen stufte Herr Lampe dieses Dienstleistungsangebot als wenig Erfolg versprechend ein. Auch der Vorschlag eines schwulen Boutiquebesitzers, figurbetonte Designermode an adipös aus der Form geratene Kunden zu verkaufen und ihnen gleich dazu die vorher zwingend notwendige Fettabsaugung als Komplettpaket mit unterzujubeln, fand nicht die Zustimmung des Seminarleiters. Zwar legte der Modeeinzelhändler ein sehr gekonntes Rollenspiel hin. Als er sich jedoch an Herrn Lampes Problemzonen zu schaffen machte, indem er dessen Speckrollen im Hüftbereich zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte und ihn dann auch noch mit den Worten „oh, da sind wir aber ganz schön propper“ in den Hintern kniff, brach der Coach das Rollenspiel ab und riet dem Boutiquenbesitzer, sein Modegeschäft zu verkaufen und auf Masseur umzustellen. Zum Abschluss hielt Herr Lampe noch ein längeres Referat, in welchem er anhand von zahlreichen auf eine Leinwand projizierten Grafiken, Kurven und Tabellen die wesentlichen Faktoren für den wirtschaftlichen Erfolg eines Kleingewerbebetriebes sehr eindringlich und mit der ihm eigenen Dynamik erläuterte. Obwohl er viele englische Fachbegriffe in seinen Vortrag einflocht und sich so erneut als ausgebuffter Wirtschaftsprofi zu erkennen gab, war die Quintessenz seines Vortrags doch auch für jeden wenig vorgebildeten Kleingewerbler einfach nachzuvollziehen: viel Umsatz, billig einkaufen, teuer verkaufen und reichlich Gewinn machen. Das leuchtete ein. Günther Schmidter, Helga Schmidter und Siggi Senkelbach gingen zufrieden und angefüllt mit neuem Elan nach Hause.

Der Kenner stirbt im Frühling

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