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Ein kräftiger Wind blies Elda um die Ohren, als sie am Flughafen aus dem Auto stieg. 9.15 Uhr und vier Sekunden. Ihr Magen rebellierte schon seit dem frühen Morgen und ihre Hände waren feucht. So fühlte es sich also an, wenn man für ganze sieben Monate die Heimat verließ. Die Vorfreude darüber hatte sich bis auf den letzten Rest verflüchtigt, geblieben waren ein undefinierbares Unbehagen und der Wunsch, sich am liebsten zu entmaterialisieren.

Der Tag, nachdem Sam mit ihr Schluss gemacht hatte, war die reinste Katastrophe gewesen. Tränen und Wut und nochmals Tränen und Wut. Vielleicht nannte man das Liebeskummer, und wenn ja, fühlte er sich schrecklich an. Elda wollte nur noch eins: Sam abhaken, vergessen, ihn zur Nullnummer in ihrem Leben erklären, was ihr in Frankreich – so ihre Hoffnung – vielleicht am ehesten gelingen würde.

Zum Glück hatte sie vor ihrer Abreise noch so viel zu tun gehabt, dass ihr kaum Zeit geblieben war, sich im Selbstmitleid zu suhlen: die Verabschiedung von den Klassenkameraden und Verwandten, Geschenke für ihre Gastfamilie besorgen, ganz zu schweigen von dem Großprojekt namens Kofferpacken. Wie um Himmels willen packte man einen Koffer für sieben Monate?

9.16 Uhr und dreizehn Sekunden. Eldas Beine fühlten sich wie Kuchenteig an, als sie hinter ihren Eltern zum Terminal schlich. Erst nach und nach begriff sie das ganze Ausmaß ihres Vorhabens. Jetzt reiste sie also allein in ein Land, von dem sie nur ein paar läppische Dinge wusste. Dass man zum Frühstück Croissants in den Milchkaffee tunkte, dass man auch nachmittags Unterricht hatte und statt Guten Tag Bonjour sagte. Zudem flog sie zu völlig fremden Menschen, die für die nächsten sieben Monate ihre Familie sein würden und zumindest auf dem ersten Foto nicht besonders sympathisch gewirkt hatten. Ihr Gastbruder Etienne hatte lange, verfilzte Haare und guckte mürrisch in die Kamera, ihr Gastvater Stéphane grinste zwar von einem Ohr zum anderen, war jedoch so klapperdürr, dass man fürchten musste, er würde aus dem Foto fallen oder – noch schlimmer – von seiner riesigen, korpulenten Ehefrau Albertine erdrückt werden.

»Mrs Elda Stenzel. Hallo!?«

Die Frau hinter dem Schalter musste schon eine Ewigkeit vor Eldas Nase herumgewedelt haben, denn gleichzeitig rammte ihr jetzt auch noch ihre Mutter den Ellenbogen in die Seite.

»Fensterplatz?«

»Ja – nein – egal«, brachte Elda mühsam hervor.

»Du willst nicht am Fenster sitzen?«, schaltete sich ihr Vater ein.

»Weiß nicht …« Elda drehte sich zu ihm um, seine Glatze hatte mit einem Mal etwas Verschwommenes, als würde ein Heiligenschein um seinen Kopf schweben.

»Elda, du bist ja ganz blass!«, sagte ihre Mutter dicht an ihrem Ohr, dann verschwamm auch ihr Gesicht und Elda wurde es schwarz vor Augen.

Kurz darauf fand sie sich in der Horizontalen wieder, auf zwei Sitzen quer liegend, und ihre Mutter fächelte ihr mit einer Zeitschrift Luft zu.

»Kleines, was machst du bloß für Sachen!«

Ächzend richtete sich Elda auf. Erst hatte sie monatelang gebibbert und gezittert, ob man sie für das Austauschprogramm überhaupt für geeignet hielt, und nun, wo es tatsächlich ernst wurde, klappte sie einfach zusammen. An Sam lag das nicht, ganz bestimmt nicht. Eher an der Angst vor der eigenen Courage.

»Soll ich den Flug besser stornieren? Oder umbuchen?« Ihr Vater hatte Schweißperlen auf der Stirn.

»Nein, Papi. Ich fliege. Macht euch keine Sorgen. Ich schaff das schon.«

So hundertprozentig war sie zwar selbst nicht davon überzeugt, aber wenn sie nicht innerhalb der nächsten 15 Minuten durch die Kontrollschleuse und dann zu ihrem Gate ging, würde sie die Sache wohl ganz abblasen. Also stellte sie sich vor, dass sie bloß eine Rolle in einem Film spielte, und nahm ihrer Mutter selbstbewusst das Ticket aus der Hand, um diesmal ohne weiteren Zwischenfall einzuchecken. Fensterplatz Reihe 7, Gate 11, Boarding 11.15 Uhr.

Sie tauschte noch ein paar Floskeln mit ihren Eltern aus – ruf an, schreib mal, halt die Ohren steif – und dann war er da, der Moment des Abschieds. Elda hatte sich vorher x-mal ausgemalt, wie er wohl sein würde, aber jetzt war sie nicht mal besonders traurig. Besonders fröhlich allerdings auch nicht. Sie fühlte irgendwie gar nichts, als wäre sie tatsächlich nur eine Schauspielerin in einem Film. Ihre Mutter verdrückte eine Träne, ihr Vater konnte sich gerade noch zusammenreißen, sah aber auch so aus, als würde er später im Auto ein ganzes Paket Taschentücher verbrauchen. Mindestens.

Also machte sich Elda mit einem Ruck los, winkte ein letztes Mal und hastete dann, ihren kleinen orangefarbenen Rucksack über der Schulter, zum Sicherheitscheck. Ohne sich noch einmal umzudrehen. Erst als sie die Schleuse passiert hatte und zu ihrem Gate ging, fühlte sie diesen dicken Kloß im Hals. Bloß nicht heulen, impfte sie sich ein, doch je mehr sie dagegen ankämpfte, desto schwieriger war es, die Tränen zurückzuhalten. Vor lauter Scham tauchte sie im nächstbesten Klo unter. Erst die große weite Welt entdecken wollen und dann wie ein Baby losflennen! Eine Weile hockte sie auf dem Klodeckel und lauschte den Geräuschen in den Nachbarkabinen, zwischendurch schnäuzte sie sich immer wieder mit Klopapier.

Mit dem beruhigenden Gedanken, dass sie am Pariser Flughafen notfalls gleich wieder umkehren könne – im Zweifelsfall würde sie sich eben so lange auf einer der Toiletten herumdrücken, bis ihre Gasteltern gegangen waren –, verließ sie schließlich das WC. Eine Weile trödelte sie noch im Duty-free-Shop herum, studierte Parfummarken, schnupperte hier, schnupperte dort, dann marschierte sie erhobenen Kopfes zu ihrem Gate. Stolz und unberührbar zugleich, zumindest nahm sie sich vor, so zu wirken. Und nach und nach stellte sich auch etwas Vorfreude ein. Denn Elda liebte das Fliegen. Es gab nichts Schöneres, nichts, das mehr im Bauch kribbelte.

Der Flug Hamburg–Paris wurde pünktlich abgefertigt. Gleich beim ersten Aufruf huschte Elda in die Schlange und fühlte sich auf einmal ziemlich erwachsen. Das erste Mal ganz allem fliegen, und dann noch in ihr Lieblingsland. Etliche Franzosen waren unter den Reisenden, immer wieder drangen Wortfetzen in ihrer Sprache zu ihr herüber, doch sosehr Elda sich auch anstrengte, sie konnte kaum etwas verstehen. Mit Panik dachte sie daran, was sie erst in Frankreich erwarten würde. Sich trotz Einsen in der Schule nicht verständigen zu können, eine Ausländerin zu sein, auf deren sprachliche Fähigkeiten man vielleicht keine Rücksicht nahm, das stellte sie sich schrecklich vor.

Obwohl sich die Reisenden zügig durch die Schleuse bewegten, dauerte es noch eine ganze Weile, bis Elda endlich im Flugzeug war. Schnell, als würde das Flugzeug dadurch eher losfliegen, nahm sie ihren Fensterplatz ein. Nicht eine Sekunde wollte sie vom Start verpassen, von den kostbaren Minuten, in denen das Flugzeug abhob und in Schieflage in den Himmel katapultiert wurde.

»Vous parlez français?«

Ausgerechnet als die Turbinen aufheulten und das Flugzeug Gas gab, sprach sie der Mann neben ihr an. Schon die ganze Zeit hatte es Elda genervt, dass er wie selbstverständlich seinen Ellenbogen auf ihrer Armlehne platzierte und immer wieder zu ihr rüberschielte. Rotes Alkoholikergesicht und dazu noch Mundgeruch.

Elda murmelte nur etwas vor sich hin und blickte stur nach draußen. Aber der Mann redete einfach weiter auf sie ein und gab lauter schwierige, verschachtelte Sätze von sich, wobei immer wieder das Wort vomir fiel. Vomir hieß kotzen. Fand er etwa den Flug zum Kotzen? Oder die Fluglinie, die so enge Sitze baute, dass man sich ganz automatisch mit den Ellenbogen ins Gehege kam? Oder wollte der Mann sie netterweise schon mal darauf vorbereiten, dass er gleich nach einer der Spucktüten greifen würde?

Elda vermied es, zu ihrem Sitznachbarn hinüberzusehen. Dazu war der Blick auf die Stadt, der sich ihr gerade bot, viel zu atemberaubend, genauso wie das Gefühl von Freude und Euphorie, das sich mit jedem Kilometer, den das Flugzeug zurücklegte und sie damit auch von Sam wegbrachte, verstärkte. Wie damals, als sie per Post erfahren hatte, dass sich eine Gastfamilie in Paris bereit erklärt hatte sie aufzunehmen. Paris! Ein Sechser im Lotto war nichts dagegen! Nahezu alle Austauschschüler, mit denen sie auf dem Vorbereitungsseminar in Hamburg zusammengekommen war, hatte es aufs Dorf verschlagen, aufs langweilige platte Land, wo man schon froh sein konnte, wenn es überhaupt eine Patisserie gab. Paris – das klang in Eldas Ohren nach großer, bunter Zuckertüte, aus der man sich nach Belieben bedienen und die süßesten, cremigsten und buntesten Törtchen nur herauszufischen brauchte.

Küsse und Café au Lait

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