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2. Die Vaterfiktion

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Der Vater-Brief

Während seines Kuraufenthalts in Schelesen im November 1919 schreibt Kafka einen Brief an seinen Vater, der ursprünglich tatsächlich als ein Brief geplant war, der seinen Adressaten erreichen sollte, dann aber zu einem autobiografischen Memorandum ausufert, in dem auf 103 Briefseiten (in der späteren maschinenschriftlichen Fassung sind es 45 Seiten) umfassend mit dem Vater und seinen Erziehungsmethoden abgerechnet wird. Der Brief, der dem Vater nie übergeben wird, beschreibt das vor allem durch Angst gekennzeichnete Verhältnis in einer verwickelten Mischung aus Anklage und Selbstanklage. Als unparteiische Beschreibung kann der Brief freilich nicht gelesen werden. Der Grund dafür ist nicht nur der, dass er aus der Sicht des Sohnes und somit subjektiv die Dinge reflektiert, sondern dass er literarisch ausgearbeitet ist und mit Mitteln der Übertreibung, Mystifikation und Metaphorisierung schwer erkennbar macht, was Erinnerung und was Dramatisierung ist.

Anlass des Briefes

Kafka schreibt den Brief, weil er seinem Vater eine Antwort auf die Frage schuldig ist, warum er vorgebe, sich vor ihm zu fürchten:

Liebster Vater,

Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelnheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte. (7, 10)

So beginnt der Brief, dessen offizieller Anlass die Begründung der besagten Furcht ist. Der nicht explizit gemachte Grund oder zumindest Hintergrund ist die Verlobung mit Julie Wohryzek, gegen die der Vater scharf polemisiert hat, um die Heirat mit einer Frau aus der sozialen Unterschicht zu verhindern. Als ob Kafka die Erstbeste genommen hätte, die sich mit einer attraktiven Bluse aufgedrängt hat, gibt er ihm den väterlichen Rat, sich wie ein erwachsener Mann zu benehmen und ins Bordell zu gehen, anstatt gleich ans Heiraten zu denken (vgl. 7, 57).

Der Kinderschreck

Kafka antwortet in dem Brief auf Vorwürfe, die ihm als Kind und auch später immer wieder gemacht wurden und kennzeichnet das Verhältnis als allumfassende Gegnerschaft, bei der der Vater ein monströser Tyrann ist, der den Sohn niederdrückt. Die Willkür, mit der er das Kind in der Nacht auf den Balkon herausgetragen hat, nur weil es um Wasser bat, ist charakteristisch für das Wesen des Vaters, wie es der Brief darstellt. Er missbraucht seine Macht, indem er dem Kind droht, es verspottet, ihm Befehle erteilt und Regeln aufstellt, die er selbst nicht einhält. Er bläut dem Sohn Tischmanieren ein, benimmt sich selbst aber wie ein gefräßiges Monster, das „alles schnell, heiß und in großen Bissen“ isst, Knochen zerbeißt, Essig schlürft, „mit einem von Sauce triefenden Messer“ Brot schneidet, krümelt, kleckert und mit dem Zahnstocher bei Tisch die Ohren reinigt (7, 19 f.). Wenn das Kind nach Hause kommt und begeistert erzählt, was es gemacht hat, antwortet der Vater abschätzig: „Kauf Dir was dafür!“ oder Ähnliches (7, 17). Er macht alles schlecht, was der Sohn gut findet, auch seine Freunde, ist selbstgerecht und prinzipiell anderer Meinung. Mit seinem Urteil vernichtet er alles, so dass das Kind das Selbstvertrauen verliert, ängstlich und störrisch wird und den Zorn und die Abneigung des Vaters um so mehr anstachelt. Das Bild vom Vater erscheint überzogen und stellenweise beinahe komisch, wenn es in körperlicher Plastizität ausgemalt wird: ein gewaltiger Riese und herrischer Kraftprotz mit jähzorniger „Donnerstimme“ (7, 21), der schreiend um den Tisch herumläuft und dem kleinen Franz droht, ihn wie einen Fisch zu zerreißen – auf der anderen Seite der eingeschüchterte, schwache Sohn an der Hand des Vaters: „ein kleines Gerippe“ (7, 16).

Vor dem Gesetz

Die Gemeinheiten des Vaters, die zur Willkürherrschaft eines bösen Gottes stilisiert werden, haben anscheinend als Modell gedient für die Situation, die in der Parabel Vor dem Gesetz beschrieben wird: Der Mann vom Lande wartet sein Leben lang auf Einlass, der ihm vom mächtigen Türhüter nicht gewährt wird, obwohl der Eingang nur für ihn bestimmt ist. Kafka schildert sich im Vater-Brief analog als Sklave „unter Gesetzen, die nur für mich erfunden waren und denen ich überdies, ich wußte nicht warum, niemals völlig entsprechen konnte“ (7, 20).

Ein schrecklicher Prozess

Das Verhältnis zum Vater wird in einer Weise beschrieben, die immer wieder an den Proceß erinnert, vor allem durch das Schuldgefühl und die Androhung von Strafe. Zwar bleibt die körperliche Bestrafung aus, aber das wütende Bereitlegen der Hosenträger auf der Stuhllehne wird beschrieben als ein Miterleben aller „Vorbereitungen zum Gehenktwerden“ bis zur letzten Sekunde (7, 29). Überdies ist wörtlich von einem „schrecklichen Proceß“ die Rede, in dem der Vater unablässig Richter zu sein behaupte, während er in Wahrheit „verblendete Partei“ sei (7, 38 f.). Sogar eine bewusste und explizite Anspielung auf den Roman macht Kafka, indem er Josef K.s Furcht, von der Scham überlebt zu werden, mit der eigenen Situation vergleicht, die darin besteht, sein Selbstvertrauen gegen ein grenzenloses Schuldbewusstsein eingetauscht zu haben (vgl. 7, 41).

Entschuldigung

Das schlimme Porträt des Vaters und die Abwendung der Vorwürfe gegen den Sohn sind ihrerseits vorwurfsvoll, obgleich sie wie eine Entschuldigung klingen sollen: Immer wieder räumt Kafka ein, der Vater trage keine Schuld an dem Unfrieden und habe häufig in guter Absicht gehandelt. Es fällt schwer, das damit zusammenzubringen, dass der Vater ihm systematisch Knüppel zwischen die Füße geworfen hat. Vordergründig mag es eine captatio benevolentiae sein, durch die der Vater zum Verständnis und zum Frieden bewegt werden soll. Mehr noch ist es aber ein Ausdruck der als Schwäche getarnten Stärke – Schwäche, insofern der Brief als ein Akt der Unterwerfung und Verzweiflung erscheint, Stärke, insofern Kafka sich damit intellektuell und charakterlich über das Niveau des aggressiven Vaters erhebt.

Machtverhältnisse

Kafka relativiert das Schreckensbild vom Vater zwar an einigen Stellen, indem er zugesteht, dass er es aus der Perspektive des Kindes erstellt. Andererseits objektiviert sich die Vorstellung vom Tyrannen insofern, als der Vater sich im Umgang mit dem Personal und anderen Familienmitgliedern ähnlich grob und abschätzig gezeigt haben muss. Er soll die Angestellten viel beschimpft, schikaniert und sie „bezahlte Feinde“ (7, 32) genannt haben: Das Kind bekommt also einen unparteiischen Eindruck von der Ungerechtigkeit des Vaters, ohne sich selbst die Schuld geben zu müssen. Die Mutter wird als schützend, aber parteiisch dargestellt. Sie hat eine Zwischenstellung, ist aber ihrem Mann so treu ergeben, dass sie keine selbständige Position einnimmt; sie schützt die Kinder immerhin gelegentlich vor Wutausbrüchen, wobei auch der Schutz in mancher Hinsicht bloß Teil einer Inszenierung der Macht des Vaters ist. Die Schwestern haben es nicht alle gleich schwer mit dem Vater. Am besten entkommt Elli ihm, und zwar durch die Heirat, die Kafka selbst nie verwirklicht; schwerer hat es Ottla, die als jüngstes Kind „in fertige Machtverhältnisse“ (7, 37) hineingeboren wird, am meisten rebelliert und sich damit die Ablehnung des Vaters zuzieht.

Das Judentum des Vaters

Auch das Judentum schafft keine gemeinsame Basis für das Verhältnis, auch dort ist also keine „Rettung vor Dir“ (7, 42) zu finden, wie Kafka es beinahe gottesfürchtig ausdrückt. Gemeinsame Glaubensrituale hätten ja tatsächlich unterhalb der alltäglichen Machtkämpfe einen Tunnel bahnen können, einen Weg zueinander. Aber auch auf diesem Gebiet hat der Vater dem Sohn nichts zu sagen und nichts zu bieten, denn das Judentum ist nur eine weitere Fessel durch den äußeren Zwang der Tempelbesuche und Gebete. Gleichgültigkeit und Formalität kennzeichnen das Judentum des Vaters, so dass daraus kein Beispiel zu gewinnen ist, das sich nachzueifern lohnt. Der Glaube des Vaters sei eher der an eine bestimmte jüdische Gesellschaftsklasse gewesen, durch die er sich selbst bestätigt fühlt. Darin habe nicht genug Judentum gelegen, um es an das Kind weiterzugeben: „es vertropfte zur Gänze während Du es weitergabst“ (7, 44). Später findet Kafka eigene Zugänge zum Judentum, für die der Vater wiederum nur Verachtung übrig hat (vgl. 7, 46).

Ein fingierter Dialog

Am Ende des Briefes entwirft Kafka eine Antwort des Vaters, die wie eine Verteidigungsrede anmutet. Zum Beispiel die Heiratsabsicht und das ewige Scheitern sieht in den Augen des Vaters so aus, als habe der Sohn selbst Zweifel an der Entscheidung zur Ehe gehabt und den Vater nur benutzt, um eine billige Ausrede zu haben und nicht heiraten zu müssen. In Wahrheit habe er aber gar kein Verbot ausgesprochen (vgl. 7, 64 f.).

Durch den Platz, den Kafka der Perspektive des anderen einzuräumen scheint, unterstreicht er den Eindruck, dass ein gerichtsähnlicher Prozess zwischen den beiden schwebt. Der Prozess ist aber einseitig, denn im Leben hat der Vater die Macht und fällt die Urteile, während im Schreiben der Sohn sich zu verteidigen und über den Vater zu richten, also den Spieß umzudrehen versucht. Da es aber nicht wirklich zu einem Dialog kommt, bleibt die Antwort des Vaters fingiert, erscheint eher als Vorlage für den Sohn, sich erneut zu rechtfertigen, und der ganze Prozess erfährt hier nur eine schriftliche Verlängerung, so dass das Schreiben weder eine Flucht noch einen Machtwechsel realisiert.

Erinnern oder Erfinden

Auch wenn das Bild, das vom Vater entworfen wird, zuweilen überzogen, einseitig und stilisiert sein mag, so gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Kafka Tatsachen verfälscht. In einem Brief an Milena nennt er seinen Brief einen Advokatenbrief: „Morgen schicke ich Dir den Vater-Brief in die Wohnung, heb ihn bitte gut auf, ich könnte ihn vielleicht doch einmal dem Vater geben wollen. Laß ihn womöglich niemanden lesen. Und verstehe beim Lesen alle advokatorischen Kniffe, es ist ein Advokatenbrief.“ (MB, 85) Weder Milena noch der Vater haben den Brief erhalten, aber die Möglichkeit, ihn zu verschicken, hat Kafka offenkundig in Erwägung gezogen, und er hat ihn sogar für so wichtig befunden, dass er ihn mit der Schreibmaschine abtippte. Er relativiert zwar die Wahrhaftigkeit des Briefes, indem er juristische Tricks einräumt, aber damit sind nur die geschickte Argumentation und die rhetorische Aufarbeitung des Materials gemeint, das gleichwohl biografisch ist. Durch die kindliche Perspektive, die über weite Strecken eingenommen wird, ergibt sich ein monumentales Bild vom Vater, das zugleich erinnert und erfunden ist. Denn die Erinnerung an bestimmte Handlungen, Gesten und Worte des Vaters wird sprachlich mit Konnotationen versehen, durch die der Vater als strafender Gott, riesenhafte Körpermasse, unheimliche Macht, ungerechter Richter und Willkürherrscher erscheint. So gesehen ist der Vater ein Konstrukt kindlicher Angst und literarischer Sprachgestaltung.

Der ,ewige Sohn‘

Der Biograf Peter-André Alt geht sogar so weit, zu sagen, Kafka präge sein Leben durch die imaginären Welten seiner Poesie und entwerfe seine eigene Identität als die des Sohnes, „der seine Furcht vor dem Vater mit obsessiver Lust kultiviert, weil sie für ihn die Bedingung seiner Existenz bildet“ (Alt 2005, 15). Angst und Scheitern, Zögern und Unreife werden in dieser Konstellation zu literarischen Leitmotiven und Lebensrhythmen. Kafkas Texte spiegeln, so Alt, die Fiktion des ,ewigen Sohnes‘:

Der Sohn, der nicht erwachsen wird, reflektiert seine psychische Selbstorganisation in Texten, die so unabschließbar sind wie sein eigenes biographisches Projekt. Der Ich-Entwurf des ,ewigen Sohnes‘ ist daher das Geheimnis der Künstlerpsychologie, die Kafkas Schreiben grundiert. Er führt, die Zufälle der äußeren Biographie wie Schwellen überschreitend, in jene Zone, die man die Dämonie des Lebens nennen mag: ins Arkanum der dunklen Verstrickungen, welche die dramatische Selbstinszenierung des Autors Kafka bestimmen. (Alt 2005, 15)

In diesem Selbstentwurf des eingeschüchterten Sohnes, der sich von der Macht des Vaters nicht befreien kann, liegt ein wesentlicher Grund für das Scheitern aller Heiratspläne, insofern ein Ehemann jemand ist, der selbstständig eine Familie gründet und einen vom Elternhaus unabhängigen Weg geht. Kafka wäre darin seinem Vater ebenbürtig geworden, und das Ungeheuer gebärende Machtgefüge wäre ruiniert gewesen.

Furcht und Macht

Furcht und Macht sind Schlüsselbegriffe im Vater-Brief und Leitmotive in den literarischen Texten Kafkas. Schon am Anfang des Briefes wird die Furcht thematisiert, die zugleich der Grund und das Hindernis des Schreibens ist. Eine offene, macht- und angstfreie Aussprache ist nie möglich gewesen und auch der Brief führt sie nicht herbei, denn er ist zwar mutig und freimütig, teilweise sogar hochmütig in der Offenheit seiner Kritik, aber er wird eben – wahrscheinlich aus Furcht – nicht abgeschickt. Kafkas Metaphorik stilisiert den Vater zu einem fernen Gott, dem sich zu öffnen gleichbedeutend ist mit einem Gang ins Gotteshaus: „offen gesprochen habe ich mit Dir niemals, in den Tempel bin ich nicht zu Dir gekommen“ (7, 10). Und obwohl der Brief sich wie ein nachgeholtes und durch die Entfernung der Schrift geschütztes Geständnis liest, heißt es mittendrin, der Sohn werde einiges verschweigen müssen, was ihm vor dem Vater und vor sich selbst einzugestehen noch zu schwer sei (vgl. 7, 40). Die Furcht macht unfrei, verschlägt ihm die Sprache, versperrt ihm den Weg und potenziert sich selbst ins Unendliche in dem Maße, in dem sie ihr Wovor, den schreckensvollen Vater, allererst konstituiert.

Väter und Söhne in den Fiktionen

Die Figur des drohenden und verurteilenden Vaters findet sich auch in Kafkas literarischen Texten sehr häufig und sehr drastisch. In der Verwandlung wird Gregor Samsa vom Vater mit Drohgebärden in sein Zimmer zurückgetrieben und mit Äpfeln beworfen, die in seinem Rückenpanzer stecken bleiben, faulen und zu Gregors Tod führen. Im Proceß und in Der Verschollene gibt es anstelle der Vaterfigur analoge männliche Figuren, die in ähnlicher Weise repressiv auf den Protagonisten einwirken. In der Erzählung Das Urteil, bei der die biografischen Züge am deutlichsten zu erkennen sind, wird der Sohn vom Vater verbal demontiert und zum Tode des Ertrinkens verurteilt. Anlass für den Streit ist der Heiratswunsch des Sohnes. Das Furchteinflößen, die Machtdemonstration und das Verurteilen stehen zumeist mehr im Vordergrund als das tatsächliche Strafen und die körperliche Gewalt. Ein weiteres Beispiel für einen Vater, der als Aggressor auftritt, findet sich in einem Erzählfragment aus dem Jahr 1911, das in diesem Zusammenhang als Grundsituation angesehen werden kann, die Kafka immer wieder variiert (siehe dazu Müller 2008, 39). Ein Student namens Oskar kehrt von einem Gang durch die Straßen nach Hause zurück:

Als er die Tür des elterlichen Wohnzimmers öffnete, sah er seinen Vater einen glattrasierten Mann mit schwerem Fleischgesicht der Tür zugekehrt an einem leeren Tische sitzen. ,Endlich‘ sagte dieser kaum daß Oskar den Fuß ins Zimmer gesetzt hatte bleib ich bitte Dich bei der Tür, ich habe eine solche Wut auf Dich, daß ich meiner nicht sicher bin. (9, 119)

Diese Skizze hat tatsächlich Ähnlichkeit mit dem Vater, wie er im Brief geschildert wird: die große Körpermasse, die einschüchternden Worte, der Eindruck, als bestünde der Sinn seiner Existenz in nichts anderem, als an einem leeren Tisch auf den Sohn zu warten, um ihm bei der Heimkehr die Hölle heiß zu machen.

Kleine Fluchtversuche im Schreiben

Teilweise aus der Abhängigkeit lösen konnte Kafka sich durch sein Schreiben, weil er damit ein Universum schaffte, das der Vater weder beherrschte noch kannte. Die Abneigung Hermann Kafkas gegen die Schriftstellertätigkeit des Sohnes verstärkte dessen Gefühl, hier einen eigenen Bereich erobert zu haben, der sich dem Vater entzog. Gleichwohl wird dieser Akt der Selbstbefreiung durch einen drastischen Vergleich relativiert: „Hier war ich tatsächlich ein Stück selbständig von Dir weggekommen, wenn es auch ein wenig an den Wurm erinnerte, der, hinten von einem Fuß niedergetreten, sich mit dem Vorderteil losreißt und zur Seite schleppt.“ (7, 47) Das Schreckbild vom niederstampfenden Vater im Verhältnis zu dem armen Wurm bleibt also erhalten, und der Preis der Freiheit ist sehr hoch, insofern ein Stück Leben auf der Strecke bleibt. Die Schriftstellerexistenz war eine Nische, in die Kafka sich vor der Herrschaft des Vaters retten konnte. Daher war ihm die Ablehnung sogar willkommen, denn sie bestätigte ihm, dass er damit etwas Eigenes errungen hatte: „Meine Eitelkeit, mein Ehrgeiz litten zwar unter Deiner für uns berühmt gewordenen Begrüßung meiner Bücher: ,Legs auf den Nachttisch!‘ (meistens spieltest Du ja Karten, wenn ein Buch kam), aber im Grunde war mir dabei doch wohl, […] weil jene Formel mir klang wie etwa: ,Jetzt bist Du frei!‘“ (7, 47) Wie es für Kafka charakteristisch ist, kann er diesen Befund der Freiheit nicht stehen lassen. Im nächsten Satz nimmt er ihn sogleich zurück: „Natürlich war es eine Täuschung, ich war nicht oder allergünstigsten Falles noch nicht frei.“ Die Begründung dafür ist überzogen, führt aber gerade deshalb sehr eindringlich das gefühlte Ausmaß der Abhängigkeit vom Vater vor Augen: „Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte. Es war ein absichtlich in die Länge gezogener Abschied von Dir, nur daß er zwar von Dir erzwungen war, aber in der von mir bestimmten Richtung verlief.“ (7, 47) Das Verhältnis zum Vater ist tatsächlich eine Deutungsfolie, die in mancher Hinsicht die Texte zu verstehen hilft, aber diese sind freilich viel zu aspektreich, mehrdeutig und rätselhaft, um sich in der Funktion zu erschöpfen, in diesem Sinne eine ausbuchstabierte Metapher zu sein.

Es sieht so aus, als ob der Vater Kafka mit seiner Abneigung gegenüber dem Schreiben geradezu zum Schreiben zwingt, da hierin die einzige Form der Selbstständigkeit für ihn besteht, eine Selbstständigkeit, die ihm auch die Ehe ermöglicht hätte, wenn das Gebiet nicht schon vom Vater besetzt wäre. Diese Sichtweise täuscht allerdings darüber hinweg, dass die Ehe von Kafka selbst nicht uneingeschränkt ersehnt wird, denn sie wird zugleich als Gefährdung des Schreibens angesehen:

Viel wichtiger aber ist dabei die Angst um mich. Das ist so zu verstehn: Ich habe schon angedeutet, daß ich im Schreiben und in dem, was damit zusammenhängt, kleine Selbständigkeitsversuche, Fluchtversuche mit allerkleinstem Erfolg gemacht, sie werden kaum weiterführen, vieles bestätigt mir das. Trotzdem ist es meine Pflicht oder vielmehr es besteht mein Leben darin, über ihnen zu wachen, keine Gefahr, die ich abwehren kann, ja keine Möglichkeit einer solchen Gefahr an sie herankommen zu lassen. Die Ehe ist die Möglichkeit einer solchen Gefahr, allerdings auch die Möglichkeit der größten Förderung, mir aber genügt, daß es die Möglichkeit einer Gefahr ist. Was würde ich dann anfangen, wenn es doch eine Gefahr wäre! Wie könnte ich in der Ehe weiterleben in dem vielleicht unbeweisbaren, aber jedenfalls unwiderleglichen Gefühl dieser Gefahr! Demgegenüber kann ich zwar schwanken, aber der schließliche Ausgang ist gewiß, ich muß verzichten. (7, 61 f.)

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