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II. Die Kafka-Forschung

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Neue Kafka-Funde?

Die Beiträge zur Kafka-Forschung sind heute längst im fünfstelligen Bereich angelangt. Da mag die Frage aufkommen, ob es wirklich immer wieder neue Kafka-Funde gibt, die von den Forschern ausgegraben werden. Jüngst meinte der Brite James Hawes mit seinem 2008 erschienenen Buch Excavating Kafka eine skandalöse Entdeckung gemacht zu haben: Kafka habe von der Forschung unterschlagene Pornos in seinem Schrank verschlossen gehabt. Dabei handelte es sich in Wahrheit um Exemplare der expressionistischen Zeitschriften Der Amethyst und Die Opale, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Essayisten Franz Blei herausgegeben wurden und zur illustrativen Unterhaltung erotische Jugendstilzeichnungen enthielten. Diese Tatsache ist keine Neuigkeit, sondern bereits in den fünfziger Jahren bei Klaus Wagenbach nachzulesen (vgl. Wagenbach 1958, 132 f.). Jemand musste also Franz K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens zum „Porno-Ferkel“ erklärt. Die Vorankündigung von Hawes’ Buch hat in der Tat zu diffamierenden Schlagzeilen geführt. Daran ist zu erkennen, wie sehr der Mythos vom heiligen Asketen Kafka verbreitet ist. Da der Forschung hingegen seit langem Bordellbesuche Kafkas bekannt sind, würde es auch niemanden erregt haben, wenn er tatsächlich Pornozeitschriften abonniert hätte. Also: Nicht alles, was als wissenschaftliches Untersuchungsergebnis daherkommt, ist ein solches. Es gibt aber auch unfreiwillige Forschungsenten wie die Auskunft, Kafka habe Das Urteil „während einer nächtlichen Bahnfahrt in ekstatischer Umgebung“ geschrieben (Reiss 1952, 42). Hierbei handelt es sich um ein Missverständnis von Kafkas Tagebuchnotiz vom 23. September 1912. Darin berichtet er von seinem ununterbrochenen Schreibfluss: „Diese Geschichte ,das Urteil‘ habe ich in der Nacht vom 22 zum 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben.“ (10, 101)

Die unendliche Forschungsgeschichte

Was die Kafka-Forschung umtreibt und zu keinem Ende führt, ist weniger die Suche nach neuen Entdeckungen als vielmehr die Deutung dessen, was in den Texten vorzufinden ist: ein hermeneutischer Befund also. Die Interpretation von Kafkas Werken ist aber offenbar besonders schwierig, weil das Gleichnishafte zu mannigfachen Spekulationen verleitet, während das Fremdartige (zum Beispiel Tiercharaktere in einer realistischen Welt wie in der Verwandlung oder überraschend groteske Reaktionen wie in Gibs auf! oder Das Urteil) sich einer Deutung beinahe völlig zu entziehen scheint. Schwierigkeiten macht also einerseits die Vieldeutigkeit, andererseits die Undurchdringlichkeit. Und dies geschieht zumeist dergestalt, dass die anscheinend vom Text ausgehenden Offerten zu zahllosen Deutungsmöglichkeiten am Ende den Leser ratlos machen und den Sinn im Dunkeln lassen. Viele Texte laden zu einer allegorisierenden Deutung ein: So wird der Proceß beispielsweise von Max Brod als Allegorie der Schuld (vgl. Brod 1966, 253 f.) und von Elias Canetti als biografische Allegorie der Liebesbeziehung zu Felice Bauer (vgl. Canetti 1983) gelesen, während er heutzutage gern als Allegorie des Schreibprozesses interpretiert wird. (Die Selbstreflexion und Metaphorisierung des Schreibens ist beispielsweise bei Kremer (1998) und Schärf (2000) ein zentrales Thema.) Offenbar wollen die Texte im übertragenen Sinn gedeutet werden, ohne dass es ein Bedeutungsfeld gibt, in dem sie zu Hause sind. Aus diesem Grund sprach Theodor W. Adorno von einer „Parabolik, zu der der Schlüssel entwendet ward“ (Adorno 1976, 307).

Kafka und die Literaturtheorien

Weil Kafkas Texte zur Interpretation auffordern, je mehr sie sich derselben verweigern, sind sie ein beliebter Gegenstand der Literaturtheorie und Methodengeschichte. Denn dieses Phänomen wirft die grundsätzliche Frage auf, was literaturwissenschaftliche Interpretation eigentlich ist und leisten kann. Daher gibt es eine Reihe von Sammelbänden, in denen die verschiedenen gängigen Interpretationsmethoden (sozialgeschichtliche, psychoanalytische, poststrukturalistische, diskursanalytische, rezeptionsästhetische, dekonstruktivistische, gender-theoretische etc.) anhand von Kafka durchexerziert werden; so zum Beispiel der 1993 von Klaus-Michael Bogdal herausgegebene Band zu Kafkas Vor dem Gesetz oder der 2002 von Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus herausgegebene über Das Urteil.

Gesamtdarstellungen

Obwohl Kafkas Werk einen fragmentarischen Charakter hat und sich eindeutigen Interpretationen verweigert, hat es in der Forschung immer wieder Darstellungen gegeben, in denen unter einem bestimmten thematischen oder formalen Aspekt das gesamte Textkorpus untersucht worden ist. Der erste Deutungsrahmen ist von Max Brod vorgegeben worden und enthält theologische Leitgedanken wie Schuld, Sühne, Gnade und Gericht Gottes. Durch seine eigenmächtige editorische Arbeit, seine Nachworte zum Proceß (1925) und zum Schloß (1926) sowie seine Kafka-Biografie von 1937 ist ein einflussreiches Kafka-Bild entstanden, das durch seinen geheimnisvollen und mystisch-religiösen Charakter für das Klischee vom, Kafkaesken‘ mitverantwortlich ist.

Emrich

Wilhelm Emrich hat 1958 ein umfangreiches Buch über Kafka geschrieben, in dem er die formalanalytische Deutung der fragmentarischen Struktur über die bis dahin verbreiteten symbolischen Deutungen in der Nachfolge Max Brods stellt. Dichtung sei weder allegorisch noch symbolisch, sondern gleichnishaft in einem völlig neuartigen Sinn (vgl. Emrich 1958, 81). Dieses Neue versucht er allerdings im Rückgriff auf Bestimmungen zu erfassen, vermittels derer Kafkas Werk durch die Hintertür zu einem Sinnbild existenzialistischer Grundgedanken gemacht wird: Demnach beschrieben die Texte Erfahrungen der Endlichkeit menschlicher Existenz im Streben nach universellem Wissen. Friedrich Beißner richtete sich bereits Anfang der fünfziger Jahre gegen metaphysisch aufgeladene Deutungen und forderte verfahrensanalytische Zugangsweisen, etwa die Untersuchung der Erzählperspektive, die er aufgrund der personalen Beschränktheit „einsinnig“ nannte (Beißner 1952, 28). (Damit ist gemeint, dass beispielsweise im Roman Der Verschollene das Geschehen ausschließlich aus Sicht Karl Roßmanns dargestellt wird; es gibt keinen allwissenden Erzähler, sondern nur eine beschränkte Perspektive, selbst dann, wenn es sich nicht um einen Ich-Erzähler handelt, sondern in der dritten Person erzählt wird, was bei Kafka ja zumeist der Fall ist.)

Politzer

Heinz Politzers Kafka-Buch von 1965 sucht ebenfalls einen programmatischen Zugang über die Sprache und den Stil, um weltanschauliche Deutungen zu vermeiden. Er führt die Beliebigkeit der Interpretationen, die mehr über den Charakter der Deuter als über den Text aussagten, auf die paradoxe und parabolisch vieldeutige Struktur der Texte zurück (Politzer 1965, 43). Allerdings greift er bei der Deutung der einzelnen Erzählungen auf Interpretationsmuster zurück, die er zuvor für fragwürdig erklärt hat. Denn nicht nur theologische und philosophische Deutungen enthalten Weltanschauliches, sondern auch psychologische und soziologische Zugänge. Auch der biografistische Ansatz, etwa die Deutung des Proceß-Romans im Kontext der gescheiterten Liebesbeziehung zu Felice, operiert ja nicht nur mit empirischen Tatsachen, sondern mit der ungesicherten Übertragung des Romangeschehens auf die reale Ver- und Entlobungsgeschichte.

Sokel

Walter H. Sokel nimmt in seiner Monografie von 1964 die Biografie Kafkas zum Ausgangspunkt der Deutungen. Dabei bezieht er sich allerdings weniger auf das äußere Geschehen als vielmehr auf die innere Biografie, so wie sie sich in Tagebüchern und Briefen äußert. Und dies versteht er wiederum nicht als Bekenntnisliteratur, sondern als „Projektion seines inneren Lebens […] in traumhafter Verfremdung und gleichnishafter Verwandlung“. Damit überschreite er den Bereich des Privaten und erlange „gerade durch seine rigorose Subjektivität universelle Bedeutung“ (Sokel 1964, 9). Durch diese traumartige Verfremdungstechnik zeichne sich Kafka als Autor des Expressionismus aus.

Binder

Eine Übersicht der Kafka-Forschung einschließlich der hier skizzierten Gesamtdarstellungen von Emrich, Politzer und Sokel findet sich auch in dem 1979 von Hartmut Binder herausgegebenen Kafka-Handbuch, das seit langem vergriffen ist. Binder hat eine ganze Reihe von Publikationen zu Kafka verfasst; das Handbuch ist eine umfassende Sammlung von Informationen und Kommentaren zu Kafkas Leben und Schaffen, an der verschiedene Forscher beteiligt sind. Es eignet sich aufgrund der Detailliertheit des Inhaltsverzeichnisses, das sich (beide Bände zusammen genommen) über vierzehn Seiten erstreckt, sehr gut zum Durchstöbern. Anders als die zuvor genannten einheitlichen Darstellungen, die eine bestimmte Deutungslinie für das Gesamtwerk verfolgen, ist das Handbuch ein heterogenes Nachschlagewerk, das reichlich Materialien und Interpretationen zu allen Texten bereitstellt. Es ist seitdem natürlich unüberschaubar vieles zu Kafka erschienen.

Alt

Die aktuellste große Gesamtschau auf Kafka bildet das Buch von Peter-André Alt, das sich eine Biografie nennt, zugleich aber die wichtigsten Texte kommentiert. Das ist insofern konsequent, als es Alt gerade um die enge Verzahnung von Leben und Literatur geht. Im Unterschied zu der auf drei Bände angelegten Biografie von Reiner Stach, die in epischer Ausführlichkeit Kafkas Leben erzählt, nimmt Alt bestimmte Thesen wie die von Kafkas Rollenverständnis als ewigem Sohn oder die von der Nachahmung der eigenen Literatur in Kafkas Leben als Leitlinien für die Textinterpretation.

Einführungen

Es gibt außerdem viele Einführungen in Leben und Werk wie etwa die Rowohlt Bildmonografie von Klaus Wagenbach (2002). In jüngerer Zeit ist eine von Oliver Jahraus (2006) bei Reclam erschienen, deren Drehpunkte die Bedeutung des Schreibens für Kafka sowie die Machtkonstellationen in Leben und Werk sind. Die neueste Bildmonografie, die knapp und übersichtlich in Leben, Werk und Wirkung einführt, ist von Andreas B. Kilcher (Suhrkamp BasisBiographie 2008). Einzelne wegweisende Positionen der Forschung, die zentrale Aspekte von Kafkas Werk beleuchten, sind schließlich in dem 2006 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft von Claudia Liebrand herausgegebenen Band Franz Kafka. Neue Wege der Forschung zusammengestellt. Darin finden sich Beiträge von Adorno, Derrida, Kremer, Lehmann und anderen, die als repräsentativ für wesentliche Strömungen der Kafka-Forschung gelten.

Kafka-Ausgaben

Gemeinsam mit Heinz Politzer gab Max Brod die erste Kafka-Gesamtausgabe heraus. Die Gesammelten Schriften erschienen ab 1935 im Berliner Schocken Verlag. Im Gegenzug zu Brods Versuch, Kafka leserfreundlich und vollendet zu präsentieren, sind zwei kritische Ausgaben entstanden, die mit dem wissenschaftlichen Anspruch der Originaltreue die Handschrift des Autors zur Basis ihrer dokumentarischen Darbietung der Texte machen. Da ist zum einen die Kritische Ausgabe der Schriften, Tagebücher, Briefe, herausgegeben von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit, erschienen bei S. Fischer in Frankfurt am Main ab 1982. Sie ermöglichte erstmals einen möglichst authentischen Zugang zum gesamten überlieferten Textmaterial. Dabei lässt sich genau nachverfolgen, wie sich der Schreibprozess mit Streichungen, Einfügungen und Umstellungen entwickelt hat. Orthografie und Zeichensetzung wurden nicht berichtigt oder aktualisiert, sondern aus den Originalmanuskripten beibehalten. Die von Kafka zu Lebzeiten autorisierten Druckfassungen wurden auch nicht verändert. (Der in dieser Einführung zitierten Taschenbuchedition von Hans-Gerd Koch liegt die Kritische Ausgabe zugrunde.) Es gibt außerdem die Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle. Sie erscheint seit 1995 im Frankfurter Stroemfeld Verlag und bietet die Handschriften direkt fotografisch dar (auch auf CD-Rom) mit einer Umschrift als Entzifferungshilfe. Damit kann die Textgenese am besten nachvollzogen werden; dies geschieht allerdings auf Kosten des Werkcharakters und der Lesbarkeit.

Kafka im Internet

Wer „Kafka“ bei Google eingibt, erhält ungefähr 9. 780. 000 Suchergebnisse. Im Anhang dieses Buches werden einige Webseiten aufgelistet, die zum Recherchieren nützlich sein können. Der Fischer-Verlag beispielsweise informiert übersichtlich über Kafkas Leben und Werk. Bei Wikipedia findet sich ein umfangreicher Kommentar zu Kafkas Leben und Werk mit einer Auflistung von ausgewählter Forschungsliteratur, Verfilmungen und weiteren Web-Links. Zum 125. Geburtstag Kafkas würdigte die Frankfurter Allgemeine Zeitung Kafka in einem FAZ.NET-Spezial, einer Serie, in der unterschiedliche Autoren ihren Lieblingssatz Kafkas vorstellen und deuten. Seit 2008 gibt es auch eine Online-Zeitschrift der Deutschen Kafka-Gesellschaft, in der wissenschaftliche Beiträge zur Kafka-Forschung publiziert und in einem Forum diskutiert werden.

Deutsche Kafka-Gesellschaft

Die Deutsche Kafka-Gesellschaft ist erst 2005 in Bonn gegründet worden, organisiert regelmäßig Tagungen, Ausstellungen und andere Veranstaltungen, gibt eine Schriftenreihe und eine Online-Zeitschrift heraus und informiert über Neuerscheinungen und Webseiten zu Kafka. Sie ist im Internet zu finden unter www.kafka-gesellschaft.de.

Einführung in das Werk Franz Kafkas

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