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Elitesoldat des Kaisers

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Während eines Waffenstillstandes im Krieg zwischen Frankreich und England, kurz bevor die Gefechte wieder aufloderten und sich die berühmten Siege Napoleons zu häufen begannen, meldete sich Tobias Braxhoofden freiwillig zur Armee: Ein gesunder Bursche, auf dessen Wangen noch kaum ein Barthaar spross. Er war gerade mal siebzehn Jahre alt und wurde, ehe er sich’s versah, vom Strudel der Weltgeschichte mitgerissen.

Hunderttausende Männer umkreisten sich im Herzen Europas. Wie in einem bizarren Tanz jagten sie sich oder versuchten, einander auszuweichen, bis ihr General das Zeichen zum unvermeidlichen Gefecht gab. Dann stießen sie in Schlachtordnung mit ihren Bajonetten und Pferden aufeinander. Das Klirren der Waffen wurde vom Kanonendonner übertönt.

Die Geschwindigkeit, mit der die Napoleonischen Regimenter manövrierten, war berüchtigt. Während der Feind in der üblichen Schrittfrequenz von 75 Schritten pro Minute marschierte, brachten es Napoleons Männer auf 120 oder sogar 150 Schritte pro Minute. Von Marschieren konnte hier keine Rede mehr sein, so eine Einheit zog wie eine Heuschreckenplage über die Landschaft. Um die Kolonnen noch schneller zum Schlachtfeld zu treiben, stellte Napoleon schon bald die Truppenverpflegung ein. Er setzte den preußischen Truppen, denen das Plündern strengsten verboten war, Mannschaften gegenüber, die ohne Proviant überleben mussten. Nach einer Weile erklärte er auch die Ausbildung der Rekruten für überflüssig. Dienstpflichtige Burschen, zum ersten Mal weg von Zuhause, hatten eine Woche lang Zeit, um sich mit Kleidung und Waffen zu versorgen, bevor sie ohne Umschweife an die Front abkommandiert wurden.

|35|Tobias Braxhoofden trat in den Dienst der Holländischen Armee, als es kein Geheimnis mehr war, dass die Niederlanden nicht neutral bleiben würden. War er übermütig oder einfach naiv? Wenige Jahre zuvor hatten die holländischen Patrioten im Geiste der Französischen Revolution und mit brüderlicher Unterstützung der französischen Truppen den Stadthalter aus Den Haag vertrieben. Doch die Franzosen blieben. Als »Bündnispartner« wurden die Niederländer rasend schnell in Napoleons Kriege verwickelt.

Jeder junge Mann in Tobias’ Alter musste das wissen. Dennoch meldete er sich freiwillig als Berufssoldat. 1803 wurde Folgendes in die Militärstammrolle eingetragen:

Name und Vorname: Tobias Braxhoofden

Sichtbare Merkmale: Schwarze Haare, braune Augen, schwarze

Augenbrauen, ziemlich große Nase und großer Mund, rundes

Kinn, rosige und glatte Haut

Körpergröße auf Strümpfen: 5 Fuß, 1 Zoll, 2 Linien

Geburtsort: Den Haag

Religion: Reformiert

Angemustert: 10. April 1803, für 7 Jahre und 6 Monate

Eingeteilt: Sechste Kompanie des Dritten Regimentes in Ligne

Ich sah vor mir einen gerade mal einen Meter sechzig großen Jungen, der ein Mann werden wollte und den Babyspeck noch im Gesicht hatte. Bei seiner Musterung hat mein Ahne vermutlich die Lippen entschlossen zu einem schmalen Strich zusammengepresst und mit ernstem Blick unter seinen dunklen Augenbrauen hervorgeschaut.

Tobias war der Vater von Cato Braxhoofden und der Großvater von Helena. Ich hatte seinen Namen in demselben Melderegister gefunden, in dem auch seine Tochter und seine Enkeltochter verzeichnet waren: im Melderegister von Veenhuizen. Es waren also drei aufeinanderfolgende Generationen meiner Vorfahren |36|in der Umerziehungsanstalt gewesen! Tobias, der 1785 in eine Handwerkerfamilie hineingeboren wurde, war der Erste.

Aus den wenigen Informationen, die ich finden konnte, ging hervor, dass er in der Nähe der Grote Kerk in Den Haag einen Steinwurf vom Binnenhof entfernt, aufgewachsen war. Als er zehn Jahre alt war, erkrankte seine Mutter an fiebrigem Katarrh. Kein Arzt wusste Abhilfe gegen die schädlichen Flüssigkeiten, die sich in ihrem Körper angesammelt hatten. Unter Fieber und heftigen Schmerzen fand sie den Tod.

Ein paar Jahre später, in einem historisch betrachtet unglücklichen Moment, verpflichtete sich Tobias der Armee. Die Militärstammrolle gab anhand der aufgeführten Jahreszahlen und ein paar flüchtiger Notizen Auskunft über seine persönliche militärische Laufbahn. Mit etwas gutem Willen erkennt man darin den Lebenslauf, der ihn, wie auch immer, nach Veenhuizen führte.

1805 Embarque

1805 Österreich

1806, 1807, 1808 Contre les Pruisiens

1810 Garde Impérial

Nach der Einberufung bekam Tobias den Rang eines »Füsiliers«, eines gewöhnlichen Soldaten mit einem Gewehr. Kurz danach zog Napoleon seine holländischen Truppen zusammen, um in England einzufallen. Tobias ging auf der Insel Texel als einer von 9421 Mann an Bord der Flotte. Doch nach wochenlangem nervtötendem Warten war offensichtlich der richtige Zeitpunkt zur Überquerung des Kanals verpasst worden. Die Invasion Englands wurde abgeblasen, und die Truppen mussten stattdessen unverzüglich an den Rhein abmarschieren. Wenn sich Napoleon London schon nicht holen konnte, dann wenigstens Wien.

In der Feldschlacht gegen Österreich im Jahre 1805 konnte Tobias zum ersten Mal sein Können als Soldat unter Beweis stellen. Der französische Kaiser hatte eine beispiellos große, zweihunderttausend Mann starke Streitmacht zusammengezogen. |37|Die Soldaten konnten von Glück reden, dass sie durch wohlhabende Länder zogen, denn während eines solchen Feldzuges wurde kein Sold gezahlt. Die Soldaten beschrieben in ihren Briefen an die Familie, wie schwer es war, immerfort marschieren zu müssen. »Es galt nichts, ob Sonntag oder Werktag. Bei jedem Wetter«, schrieb ein Soldat mit Namen Engel Soeten. »Meine Füß’ haben mir große Schmerzen gemacht. Große Löcher darinnen vom ewigen Marschieren.«

Die Märsche durch den Schwarzwald forderten ihren Tribut. Viele Stiefel gingen kaputt, und es gab zu wenige Übermäntel. Die Männer waren schon erschöpft, bevor es zu den ersten Kampfhandlungen kam. Nachdem die Kolonnen die Donau überquert hatten, mussten sie feststellen, dass es auf der anderen Seite nichts Essbares gab. Die Soldaten, die bisher so diszipliniert marschiert waren, verwandelten sich in plündernde Horden.

»Ein Bauer attaquierte mich mit einem Beile und wollt’ mir ans Leder«, schrieb ein anderer Soldat, »denn ich hatt es auf zwei seiner fetten Gänse im Stall abgesehen. Wär mein Kamerad nit gewesen, hätt ich bei Gott das Gänsevieh teuer bezahlen gemusst.«

Zweifellos sah sich auch Tobias gezwungen, Bauernfamilien mit Gewalt von ihren Wintervorräten zu berauben. Das hatte nichts Heldenhaftes. Um die Moral der Soldaten zu heben, hatte ihnen Napoleon bei der Brücke bei Lech persönlich Mut zugesprochen. Sie standen im Schlamm, große Schneeflocken fielen, aber alle lauschten mit beinahe religiöser Andacht den Worten des großen Feldherrn. Der Feind befinde sich in einem jämmerlichen Zustand, und die unbesiegbaren Soldaten der Grande Armée werden ihn auf glorreiche Weise vernichten. Am Ende von Napoleons Rede, so steht es in den Annalen geschrieben, hätten die Soldaten gejubelt. Der Kaiser habe ihnen mit seinen schönen Worten die Kälte aus den Knochen getrieben. Die Grande Armée gewann am 20. Oktober 1805 die Schlacht bei Ulm und trug am 2. Dezember den großen Sieg bei Austerlitz davon.

»Ich fühlte mich dem Tod nie näher als an diesem Tage«, |38|schrieb ein Kavallerist. »Wohin man die Füß’ auch setzen wollte, lag schon ein toter Soldat oder ein toter Gaul.«

Tobias, der Soldat mit seinem Gewehr, befand sich mitten drin und behauptete sich. Der Leichengestank war bestialisch, er hing noch tagelang in der Luft. Darauf bekam er in der Militärstammrolle den Eintrag »un bon sujet«.

Es war merkwürdig, dass historische Fakten, die ich sonst nur aus Geschichtsbüchern kannte, mir jetzt plötzlich auf dem Umweg über meine Vorfahren so nah kamen. Obwohl uns fünf Generationen voneinander trennten, hatte ich großen Respekt vor Tobias: Er hatte das alles leibhaftig miterlebt. Im Frühling des Jahres 1806 verlieh sein Regiment übrigens der Krönung des »Königs von Holland«, Napoleons Bruder Louis Napoleon, einigen Glanz. Bei Wintereinbruch zog er erneut in den Krieg, diesmal gegen die Preußen. In der Nähe einer strategisch wichtigen Festung bei Hameln an der Weser wurde Tobias in der Hitze des Gefechtes verwundet. »In Hameln am Kopf verwundet von einem Bajonett.« Das war alles, was darüber in der Militärstammrolle zu finden war.

Dann kamen noch die Siege bei Auerstädt und bei Jena (beide am 14. Oktober 1806), der triumphale Einzug in Berlin (gegen Ende des Monats, an Tobias’ einundzwanzigstem Geburtstag), die verheerende Niederlage gegen die Russischen Kosaken (Eylau, Februar 1807) und die Revanche (Friedland, 14. Juni 1807). Erst jetzt hatte Napoleon die Russen und die Preußen besiegt. Für eine Weile jedenfalls.

Das Kriegsgetümmel hatte im wahrsten Sinn des Wortes bei Tobias seine Spuren hinterlassen. »Erkennungszeichen: Eine Narbe auf der linken Gesäßbacke, einige Narben auf dem Rücken.«

Langsam wurde mir klar, warum man ihn »un bon sujet« nannte.

Er hatte sich voller Todesverachtung in den Kampf gestürzt. So jedenfalls stellte ich mir das vor.

In Tobias Lebenslauf gab es bis jetzt keinen einzigen Hinweis |39|auf sein späteres Leben als Bettler oder Landstreicher, oder etwas, das seinen Gang nach Veenhuizen erklärt hätte. Im Gegenteil. Einige Wochen vor Ablauf seines siebeneinhalbjährigen Vertrages wurde er sogar noch befördert.

Im Jahr 1810 hatte sich Napoleon Holland als französische Provinz einverleibt. Aus Paris kam sogleich der Befehl, ein Melderegister einzuführen, um den Nachschub neuer Wehrpflichtiger zu erleichtern. Gleichzeitig verordnete der Oberbefehlshaber die Neuordnung der holländischen Truppeneinheiten. Bei einer Truppeninspektion wählte ein von zwei Adjutanten flankierter französischer Marschall die besten Männer für die kaiserliche Garde aus.

»Garde Impérial, 1re bataillon, Régiment des Grenadiers à pied, compagnie d’élite.«

Am sechsundzwanzigsten Juli 1810 wurde Tobias zum Elitesoldaten des Kaisers befördert. Der Personenbeschreibung zufolge, die an diesem Tage zu Papier gebracht wurde, haben sich seine rosigen Wangen und sein rundes Kinn in ein langes, spitziges Gesicht verwandelt. Er war im Lauf der Jahre mager geworden und noch fünfzehn Zentimeter gewachsen.

Als erwachsener, vierundzwanzigjähriger Mann marschierte er in diesem Sommer nach Paris, um sich zur Entourage des Kaisers zu fügen. Nach einem dreiwöchigen Fußmarsch machten die Elitetruppen ihre Aufwartung im Machtzentrum von Europa und wurden dort mit Applaus und Bewunderung überschüttet. Der Oberst zu Pferd, Lambert de Stuers, schrieb darüber: »Wir waren die Ersten, die unter musikalischer Begleitung durch das Port St. Martin in die Stadt kamen, wonach wir unter Freudenrufen der Pariser Bevölkerung über die Boulevards paradierten.«

Napoleon stellte seine Mannschaften so oft er konnte zur Schau. Tobias und seine Kameraden nahmen während der Tauffeierlichkeit seines Sohnes Napoleon II an prächtigen Militärparaden teil, ebenso an Feierlichkeiten im Louvre und den Tuilerien. Das waren groß angelegte Spektakel, mit Hofdamen in berauschenden Festroben. Tobias konnte der Pariser Crème de la |40|Crème in die Augen schauen, auch wenn er die ganze Zeit strammstehen musste.

Die Zeit des relativen Friedens war lediglich die Ruhe vor dem Sturm. 1812 brach Napoleon zu seinem fatalen Marsch nach Moskau auf. Von den fünftausend Niederländern, die mit nach Russland zogen, kehrten nur wenige Hundert zurück. Tobias, der Glückspilz, beendete gerade noch rechtzeitig im Herbst des Jahres 1811 seine Militärzeit. Wäre er nur ein paar Monate länger geblieben, dann wäre er irgendwo, zwischen Paris und Moskau, tot im Schnee liegen geblieben, ohne auch nur einen einzigen Nachkommen zu hinterlassen.

Das Paradies der Armen

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