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Die goldene Bucht

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Als Tobias aus Paris zurückkehrte, fand er die engen Gässlein rund um den Kirchplatz – die Papenstraat, die Oude Molenstraat, die Juffrouw Idastraat – unverändert vor. Im Gegensatz zu den imposanten Gebäuden und dem Flair der Lichterstadt mit ihren zierlichen Öllaternen, muss Den Haag ziemlich dörfisch ausgesehen haben, aber alles stand noch da, wo es früher gestanden hatte, und dieser Anblick gab ihm ein vertrautes Gefühl. Nur Tobias war nicht mehr der Gleiche. Er war jetzt sechsundzwanzig. Nach dem rauen Soldatenleben, das er seit seiner Jugend geführt hatte, musste er wieder lernen, als Bürger zu leben.

Zwischen seiner Entlassung aus dem Militär im Herbst 1811 und seiner Anmeldung in der Bettleranstalt Veenhuizen lagen siebzehn Jahre. Wenn es stimmte, was man sich in der Familie erzählte, dann musste Tobias in dieser Zeit zu einer angesehenen Persönlichkeit mit einem gewissen Reichtum aufgestiegen sein, bevor er auf die Stufe eines Veenhuizen-Anwärters zurückfiel.

Um mir ein Bild von der Kulisse zu schaffen, vor der sich die dramatischen Ereignisse abgespielt hatten, besuche ich die Wohnorte, an denen sich Tobias während dieser Jahre aufgehalten hat, zuerst in Den Haag, dann in Delft. Jede Fassade, jeden Pflasterstein, jede Kurve in der Straße schätze ich auf ihr Alter: Alles was nicht in Tobias’ Zeit passt, retuschiere ich aus meinem Bild weg. Wasser fließt durch das Spui, auf dem Binnenhof stehen Schildwachen – und keine Antiterroreinheiten. Die Grote Kerk, in der Tobias getauft wurde, kann man heute für Sportveranstaltungen oder Modeshows mieten. Diese Mitteilung, die einem Anschlag neben der Kirchentür zu entnehmen ist, klingt so absurd, dass sie mühelos durch meinen Zeitfilter dringt. Ich |51|male mir aus, dass der Kirchplatz der Ort gewesen war, wo Tobias seinem Schatz begegnete. Ihr Name war Christina, Christina Maria Koenen. Sie wohnte im selben Viertel wie er und der Kirchplatz lag genau in der Mitte zwischen ihrem und seinem Haus. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Nischen in der Kirchmauer ideal waren für heimliche Verabredungen und verstohlene Küsse.

Tobias’ Bürgerleben dauerte nicht länger als drei Jahre. In Den Haag versuchte er, als Schmied sein Geld zu verdienen, aber sein Name tauchte schon bald wieder in den Militärstammbüchern auf. In diesen Büchern lässt sich das Ende der napoleonischen Herrschaft deutlich erkennen: Nach 1813 wird statt Französisch wieder Niederländisch geschrieben. Aber das System, welches der Kaiser eingeführt hatte, blieb großteils intakt: Die Wehrpflicht auf der Grundlage des Melderegisters, die Losverfahren für junge Männer, die Tricks, mit denen sich die reichen jungen Männer freikaufen und einen Remplaçant, also einen Ersatzmann, ins Feld schickten. Tobias hatte seine Dienstpflicht schon mehr als erfüllt, er musste nicht mehr damit rechnen, aufgerufen zu werden. Aber als Christina ihr erstes Kind erwartete, entschied er sich erneut für die Sicherheit, die sein ehemaliger Beruf zu bieten hatte. Diesmal als Remplaçant.

Bei seiner Musterung wurde er – als alter Hase in seinem Fach – sofort zum Unteroffizier befördert und in die Festungsstadt Namur in die Südlichen Provinzen geschickt. Er erreichte, dass Christina, inzwischen seine Frau, mit ihm mitkommen durfte. Er wurde in einer jahrhundertealten Zitadelle stationiert, dem »Termitenhügel« mit seinem Netzwerk unterirdischer Gänge, wo Touristen heutzutage nicht mehr aus dem Staunen herauskommen. Im September des Jahres 1814 wurde dort ihr erstes Kind geboren: Cato Braxhoofden.

Es war eine chaotische Zeit. Napoleon war aus seinem Exil geflohen und nochmals für hundert Tage Herrscher über Frankreich, bis er bei Waterloo endgültig besiegt wurde. Diese Schlacht war Tobias erspart geblieben. Im Stammbuch findet man den Vermerk, |52|dass seine Stirn »verdickt« gewesen sei. Was das auch immer heißen mag: Die Tatsache, dass dies vermeldet war, weist darauf hin, dass es ihn in der Ausübung seiner Tätigkeiten gehindert haben musste. Umso verwunderlicher ist es, dass er für immer bei der Armee blieb. Es steht jedenfalls geschrieben, dass er im Jahre 1821, nach mehreren Einsätzen als Remplaçant im Einsatz gewesen war, vom Militär »auf Lebenszeit angestellt« worden sei.

In Tobias’ Heimatkaserne im Den Haager Westeinde ist heute die Gemeentelijke Kredietbank untergebracht. Diese moderne Form der Armenkasse bietet »Finanzprodukte« zum Kauf an. Wer sich in Geldnot befindet, muss nicht um Almosen betteln, sondern kann an einem Schalter, an dem die Privatsphäre gewährleistet wird, einen Kredit beantragen. Nach der Renovierung des Gebäudes befindet sich nur noch der winzige Innenhof mehr oder weniger im ursprünglichen Zustand: Eine alte Mauer mit ein paar kleinen Fenstern. Dahinter hatte Tobias höchstwahrscheinlich geschlafen. Hier hatte er sich wohl mit siebzehn freiwillig gemeldet, hier war er mit siebenundvierzig stationiert. Letzteres fand ich in einem Buch der Niederländisch Reformierten Kirche, in dem die Teilnehmer einer Konfessionsfeier in der Grote Kerk verzeichnet waren.

Januar, 1823, Abendmahlfeier, aus Anlass des

Glaubensbekenntnisses des Tobias Braxhoofden,

Soldat aus der Kaserne am Westeinde.

Einen Augenblick lang dachte ich, dass mein Ahne als erwachsener Mann plötzlich zu einem tief (protestantischen) Glauben fand. Das würde erklären, warum Helenas Ehe mit einem Katholiken auf so viel Widerstand stieß. Aber beim Weiterlesen sah ich, dass an diesem Sonntag nicht weniger als einunddreißig »Soldaten aus der Kaserne Westeinde« das Glaubensbekenntnis abgelegten. Allem Anschein nach geschah dies auf höheren Befehl, dem die Soldaten, und mit ihnen Tobias, ohne Murren Folge leisteten.

|53|Mehr Spuren sind in Den Haag nicht zu finden. Tobias ließ sich im selben Jahr, in dem Johannes van den Bosch seine Versuchskolonien gründete, mit seiner Familie vorübergehend in Delft nieder. Gespannt mache ich mich auf die Suche nach ihrer neuen Wohnadresse. Ich glaube, dass das, was mich in Delft erwartet, wenig zum Bild eines Soldaten auf Lebenszeit passt. Ein Mitarbeiter des Gemeindearchivs in Delft hat mich während eines Telefongesprächs auf etwas Merkwürdiges aufmerksam gemacht.

Ich wollte von ihm wissen, ob die Wohnadresse Oude Delft 196 noch existiere. Der Mann am anderen Ende der Leitung unterdrückte ein Lachen. »Aber sicher«, antwortete er. »Und sie liegt ganz sicher nicht in einem Elendsviertel. Das war es auch früher nie gewesen.«

»Ach!«

Er machte eine effektvolle Pause. »Nein, da wohnten damals keine Gewerbebetreibenden. Sie können die Oude Delft am besten mit der Goldenen Bucht, dem prestigeträchtigsten Teil der Amsterdamer Herengracht, vergleichen. Hier wohnten die Patrizier und die Elite.«

Damals bestand Tobias Nachbarschaft aus Direktoren, der Niederländischen Ostindien-Kompanie, sowie aus Schatzmeistern und Chirurgen.

Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie verwundert ich war und legte auf. Wie konnte Tobias als Berufssoldat sich in so kurzer Zeit in einen derart angesehenen Kreis hocharbeiten? Die einzige sichere Information über die Familie Braxhoofden entstammte einer Sterbeurkunde.

Im Jahr 1819, den 29sten des Monats September, des Vormittags ist erschienen Jacoba Dortmond, alt sechzig Jahre, von Beruf Hebamme, die uns bestätigt hat, dass des Morgens um 4 Uhr in dem Haus Nr. 196 an der Ouden Delft, all hier ein totes Kind wurd geboren von weiblichem Geschlecht.

Die Mutter ist Christina Koenen, Hausfrau von Korporal Tobias Braxhoofden.

|54|Eine Totgeburt kam in allen Schichten vor, dagegen konnte man wenig tun. Die Hebamme half, so viel sie konnte, der Vater saß machtlos daneben beziehungsweise zog sich zurück, in der Hoffnung, dass es ein gutes Ende nehmen würde. Es war ja schon ein Glück, dass Christina nicht auch noch im Wochenbett gestorben war.

Aber wie kam es, dass ein Korporal an so einer vornehmen Adresse wohnte?

Die Oude Delft ist eine schmale Gracht, über die alle paar Meter eine Bogenbrücke führt. Die Häuser haben geräumige Zimmer und hohe Fenster, die Fassaden sind prächtig mit Ornamenten verziert. Der Kontrast zwischen den jungen, kümmerlichen Bäumen und den monumentalen Gebäuden sticht mir ins Auge. Standen hier damals, als die Kartoffelboote noch durch die Gracht fuhren, auch schon Bäume? Wenn ich mir die Autos wegdenke, sehe ich Tobias vor mir, wie er mit seinen Kindern spazieren geht und sie festhält, damit sie nicht ins Wasser fallen. Beim Überqueren der Straße mussten sie den Mietkutschen und Chaisen der Damen ausweichen, die unterwegs in die Salons waren, und auch den Herren mit ihren hohen Hüten, die beim Spazierengehen über ihre Geschäfte sprachen.

Ich verstehe langsam, warum man Veenhuizen Holländisch Sibirien nannte. Im Vergleich zu Delft muss das damalige Drenthe sehr einer endlosen, russischen Ebenen geglichen haben. Verließ wirklich jemand freiwillig die Stadt für so ein Niemandsland?

Eine elegante Brücke führt mich zu der Seite der Ouden Delft mit den geraden Hausnummern, und dann stehe ich plötzlich vor dem Haus meines Ahnen. Die Nummer 196 ist das allerkleinste Haus an der Gracht. Es sieht aus, als würde es, eingeklemmt zwischen zwei großen Herrenhäusern, die Luft anhalten. Es hat ein Erdgeschoss und eine Etage, der Dachboden ist zu klein, um darin wohnen zu können. Der Archivar erzählte mir, dass damals zwei Familien unter dieser Wohnadresse eingeschrieben standen: |55|Die Familie Braxhoofden bewohnte lediglich eines dieser (schmalen) Stockwerke.

Ich hätte enttäuscht sein können, war es aber nicht. Mit großen Schritten messe ich die Fassadenbreite: Nicht mal vier Meter. Kurz erwäge ich zu klingeln, lass es aber sein. Was soll ich sagen: Meine Familie hat hier vor zweihundert Jahren gewohnt? Es ist ein komisches Gefühl zu sehen, dass dieses Haus meiner Vorfahren so sehr dem Haus ähnelt, in dem ich selbst in Amsterdam wohne. Es hat dieselbe, mit Holz getäfelte Fassade, als wäre hier einmal ein Geschäft gewesen. Die gleichen Maße, die gleiche Aussicht: Links eine Brücke über die Gracht und rechts ein Baum, der seinen Schatten bis ins Zimmer wirft. Vor dem Haus, in dem Tobias und Christina gewohnt haben, steht genau wie bei mir zu Hause, ein Fahrrad mit Kindersitz.

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