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Der Vertrag

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Für Johannes van den Bosch war die Versuchskolonie Frederiksoord erst der Anfang. Nachdem er sie nach sechs Wochen zum Erfolg katapultiert hatte, konzentrierte er sich auf deren Erweiterung. Er ließ Willemsoord und Wilhelminaoord aus dem Boden stampfen, die zusammen mit Frederiksoord, die »Freien Kolonien« bildeten. Danach baute er das alte Fort De Ommerschans zu einer »Strafkolonie« für widerspenstige Kolonisten um.

Es war sein Ziel, vierzigtausend Arme aufzunehmen. Das ganze Gebiet zwischen Steenwijk und Groningen sollte mit Armenkolonien übersät werden. Nur: Es war zu wenig Geld da. Die Mitgliederzahl der Gesellschaft für Wohltätigkeit war bei etwa zwanzigtausend stehen geblieben, und das reichte bei Weitem nicht aus, ein so großes Projekt zu finanzieren. Obendrein gab es zu wenig zukünftige Bewohner. Trotz der besseren Lebensumstände wollten die Städter, wie arm auch immer, nicht ins unwirtliche Drenthe auswandern.

»Wir waren noch nicht erfolgreich darin, eine geeignete Familie zu finden«, schrieb die Gemeinde Delft an die Gesellschaft für Wohltätigkeit. »Es ist schwieriger als erwartet, hier ansässige und ihrer Stadt zugetane Personen aus dem arbeitenden Stand aus Haus und Broterwerb wegzulocken. Leichtsinnige Abenteurer ohne sittliche Einstellung und ohne geschickte Hände würden jedoch das hehre Ziel in Gefahr bringen.« Delft war keine Ausnahme. In Maassluis, wo die schlechte Heringssaison so manche Familie an den Bettelstab brachte, suchte man nach neuen Gesetzen, um »Unwillige und Faule« samt ihren Familien, auch gegen deren Willen nach Veenhuizen verfrachten zu können.

Die Leute, die sich doch überzeugen ließen, sorgten trotzdem |57|für Kopfzerbrechen. Obwohl ihnen anständige Wohnungen und ein väterlicher Empfang zuteil wurden, ließen sie sich einfach nicht erziehen. Johannes van den Boschs positive Bilanz nach sechs Wochen war zu voreilig gezogen. Kaum zwei Jahre später stand in einem Protokoll der Gesellschaft für Wohltätigkeit:

Nur wenig erfolgreich waren wir jedoch darin, die Menschen zu mehr Reinlichkeit und der Sparsamkeit zu bringen; es ist auch nach wie vor schwierig, die Familien, deren Mitglieder es oft von Geburt an gewöhnt waren, in schmutzigen Löchern und Höhlen zu leben, zu Ordnung und Sauberkeit zu erziehen.

Manchmal kam es sogar zu Ausschreitungen. Eine Gruppe übermütiger Bewohner hatte es gewagt, den Direktor, einen Bruder des Generals, als »Blutsauger« und »Wucherer« zu beschimpfen. Zwei Familien wurde wegen ihres schlechten Benehmens sogar weggeschickt. Der Grund dieser Aufmüpfigkeit: Die meisten hatten genug davon, dass jede Minute ihres Lebens fremdbestimmt wurde. Das Reglement schrieb ihnen vor, wann sie arbeiten mussten, was sie aßen, wie sie ihre Kinder zu erziehen hatten. Die Frauen konnten ihre Pflichtuniform nicht ausstehen und ersetzten diese am Sonntag stets häufiger durch »allerlei Buntes«, was dem General ein Dorn im Auge war. Er betrachtete die »liederliche und verschwenderische Art der Frauen« als eine der Ursachen der Armut.

Um der ebenso vermaledeiten Trinksucht entgegenzutreten, wurde den Kolonisten der Lohn in besonderer Währung ausbezahlt, die nur in den (alkoholfreien) Kolonieläden angenommen wurde. Aber dieses Hindernis wussten sie durch Tauschhandel mit den umliegenden Dörfern zu umgehen.

Dass die strenge Bevormundung ein Grund für den Widerstand der Kolonisten sein könnte, ließ man außer Betracht, denn so weitreichend war die Kenntnis der Psychologie noch nicht. Also suchte man den Grund im schlechten Wesen der Kolonisten. General van den Bosch beklagte sich darüber, dass ihm die Gemeinden |58|die lästigsten Subjekte aufhalsten. Eine Gruppe von dreihundert Menschen aus dem Armenhaus in Dordrecht erwies sich als besonders unverschämt. Lauthals forderten sie ein Regenfass pro Haus und »ein Federbett«. Unter ihnen befanden sich ein Buchhalter, der »mit der Schaufel so viel anfangen konnte, wie ein Affe mit dem Gewehr«, ein Bäcker, der seine Bäckerei versoffen hat und ein Schneider, der zwar Französisch und Englisch sprach, aber sonst als die »personifizierte Faulheit« galt. Die Erwartung, dass solche Städter durch ihre Arbeit auf dem Feld die Kolonien mit Lebensmitteln versorgen könnten, erwies sich schnell als Illusion.

Manchmal wurde Johannes van den Bosch mutlos. Nach einem monatelangen Aufenthalt in Steenwijk, wo er persönlich um alles kümmerte, sehnte er sich danach, wieder einmal im Garten seiner Villa Waldlust in Den Haag zu arbeiten. Er liebte es, neue Pflanzen zu züchten, genauso wie damals in Niederländisch-Ostindien, aber dazu fehlte ihm die Zeit. Die finanzielle Lage der Gesellschaft für Wohltätigkeit zwang ihn dauernd dazu, seinen großen Plan zu revidieren, und sich ständig etwas Neues einfallen zu lassen.

Als er zufällig las, welche Geldsumme die Regierung jährlich für die Betreuung der Waisen und verstoßenen Kinder aufbringen musste, kam er auf eine ausgefallene Idee. Wenn er nun dreißigtausend kinderreiche Familien finanziell dadurch entlastete, dass er aus jeder Familie zwei Kinder aufnähme, dann könnten diese sich vermutlich leichter über Wasser halten. Gemäß seiner einfachen Berechnung wäre mit dieser unorthodoxen Maßnahme innerhalb von zwölf Jahren die Armut aus den Niederlanden verbannt. Aber van den Bosch war nicht nur ein Träumer, sondern auch ein Pragmatiker. Um Anspruch auf das Regierungsbudget für die Waisen erheben zu können, musste er seinen früheren Vorbehalt gegen große Kinderheime aufgeben. Auch der ursprüngliche Plan, jeder Familie einen eigenen Bauernhof zuzuweisen, war ihm plötzlich viel zu teuer. Ein »Platz zum Schlafen und sich Aufwärmen« war für Bettler und Landstreicher eigentlich |59|gut genug. Weniger Komfort, dafür mehr Überwachung hieß das neue Motto. Im Jahr 1823 hatte der General die Regierung davon überzeugt, mit ihm einen Mammutvertrag über die Stiftung einer neuen »unfreien« Kolonie, weit weg von der bewohnten Welt, abzuschließen. Hiermit sollte der prekären Finanzlage der Gesellschaft für Wohltätigkeit ein Ende bereitet werden.

Der General übernahm, auf Staatskosten, in den nördlichen Provinzen die Fürsorge für alle Waisen, die älter als sechs Jahre waren. Ebenso für tausende Bedürftige, von denen viele nicht freiwillig, sondern unter Zwang verschickt wurden. Im Vertrag wurde sie wie folgt beschrieben:

4000 Waisen oder Findelkinder älter als sechs Jahre

500 Bettlerfamilien (insgesamt 2 500 Menschen),

und 1 500 Bettler

alle zu körperlicher Arbeit fähig.

Johannes van den Bosch kümmerte sich eigenhändig um den Entwurf der Bettleranstalten: Drei kasernenartige, von einem Wassergraben umgebene Gebäude, mit abgeschlossenem Innenhof. Die unfreie Kolonie wurde in der Gemeinde Norg gegründet, auf dreitausend Morgen Wald- und Heidegrund, in der Nähe von Veenhuizen. Der General war von der Rentabilität der neuen Kolonien überzeugt, die über tausend Waisen und ebenso viele Bettler aufnehmen konnte. Aber auch diesmal war er zu optimistisch gewesen. Schon kurz nach der Eröffnung der neuen Kolonie musste man feststellen, dass keiner freiwillig hierher kam.

Die Zwangsversetzung der Waisen nach Veenhuizen stieß auf großen Widerstand. Die Waisenhäuser im ganzen Land weigerten sich, ihre Pflegekinder wegzugeben. Die Behörden waren nicht damit einverstanden, dass die Kinder nicht in ihrer Heimatstadt aufwachsen durften, in der Nähe ihrer Familien. Es kam oft vor, dass Eltern ihre Kinder aus Armut ausgesetzt hatten, aber ihnen auf Abstand beim Heranwachsen zusahen, in der Hoffnung, |60|ihre Kinder in besseren Zeiten wieder zu sich nehmen zu können. Die Einwohner der Stadt protestierten energisch gegen die Zwangsverschickung dieser armen, wehrlosen Jungen und Mädchen in die ungastliche und trostlose Provinz.

Vor allem in Amsterdam, wo die Transporte aus dem Aalmoezeniers-Waisenhaus im Schutz der Nacht und unter Polizeibegleitung stattfinden mussten.

Bettler kamen auch keine mehr, obwohl diese zwangsverschickt werden konnten. Es zeigte sich, dass sie die einzig noch bestehende Bedingung für einen Einzug in Veenhuizen – die Arbeitsfähigkeit – meist nicht erfüllten. Um eine noch größere Verschuldung der Gesellschaft für Wohltätigkeit zu verhindern, ließ van den Bosch auch sein letztes Kriterium fallen: Von jetzt an war es auch armen Leuten, die nicht arbeiten konnten – Behinderten, »alten verbrauchten« und anderen Arbeitsunfähigen – erlaubt, in den Anstalten zu wohnen. Im Jahr 1826 schloss Johannes van den Bosch mit den Behörden in Den Haag einen neuen Vertrag, in dem festgelegt wurde, dass alle, außer Blinde und geistig Kranke, Anspruch auf eine Unterkunft in Veenhuizen hätten. Damit wurden die Kolonien zum Sammelbecken hoffnungsloser Fälle.

Zu guter Letzt, um jeden Platz in der Anstalt zu besetzen, und weil der Kriegsminister ohnehin nicht wusste, was er mit ihnen anfangen sollte, wurde dem Vertrag noch eine weitere Gruppe hinzugefügt: 178 invalide Soldaten mit ihren Familien, insgesamt 653 Personen, die in Veenhuizen die Bettler beaufsichtigen sollten.

Tobias Braxhoofden, »verwundet durch ein Bajonett«, und »verdickt« an der Stirn, fiel unter diese Kategorie: Er wurde für den Rest seines Lebens nach Drenthe versetzt.

Das Paradies der Armen

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