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Das Signalement1

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Vor uns steht eine kei­nes­wegs un­sym­pa­thi­sche Er­schei­nung. Äu­ßer­lich be­trach­tet: ein schlich­ter Mann aus dem Volk. Freund­lich bli­ckend und ge­fäl­lig, zu­vor­kom­mend; auf­fal­lend ge­pflegt, sau­ber und »tipp-topp«. Er ist gut mit­tel­groß, breit und wohl­ge­baut und hat ein zwar der­bes, gro­bes aber gleich­sam wie blank­ge­scheu­er­tes, kla­res und of­fe­nes Voll­mond­ge­sicht mit fri­schen Far­ben und klei­nen neu­gie­ri­gen und fröh­li­chen Tier­äug­lein. Sein Schä­del ist rund, zeigt brei­te flie­hen­de Stirn, schma­les Mit­tel­haupt und eine stei­le Li­nie des Hin­ter­haup­tes. Die Ohren sind nicht groß, lie­gen ein we­nig un­ter­halb der Au­gen­hö­he und ste­hen vom Kopf ab. Auch die Nase ist nicht groß und so we­nig auf­fal­lend wie das gan­ze Ant­litz. Im Pro­fil nicht un­edel, sieht sie doch von vorn be­trach­tet et­was knol­lig aus, ist an der Wur­zel breit und hat star­ke wit­tern­de Flü­gel. Der Mund ist klein, frech und dic­klip­pig. Die Zun­ge, in der Er­re­gung vor­schnel­lend und die Lip­pen net­zend, ist auf­fal­lend flei­schig; die Zäh­ne sind weiß, stark, scharf und ge­sund; das Kinn tritt ener­gisch vor. Die Ober­lip­pe schmückt ein klei­nes eng­li­sches Bärt­chen, die vol­len Wan­gen sind sau­ber ra­siert. Sein bräun­li­ches Haupt­haar, glatt an­lie­gend und links ge­schei­telt, ist nicht eben voll. Das zwi­schen braun und grau schil­lern­de Auge ist kalt und see­len­los; aber ge­ris­sen und ver­schla­gen und meis­tens in Be­we­gung. Der Blick ist su­chend nach au­ßen ge­kehrt; aber ver­glet­schert zu un­nah­ba­rer Ver­schlos­sen­heit, so­bald die hys­te­risch auf- und ab­flu­ten­de Stim­mung auf Pein­li­ches fest­ge­legt wird. Merk­wür­dig aber ist fol­gen­der Ge­gen­satz: Die­se Phy­sio­gno­mie2 ist auf­fal­lend ge­bun­den, un­ge­löst, und »wie ein­ge­spun­den im Fas­se ih­res Ich«. Zu­gleich aber gibt sich der Mann un­er­träg­lich ge­schwät­zig, mit­tei­lungs­be­dürf­tig und über­be­weg­lich. Er re­det fort­wäh­rend auf sein Ge­gen­über ein; da­bei fuch­telt er mit sei­nen wei­ßen weich­li­chen Hän­den und den lan­gen Fin­gern, an de­nen er in der Ner­vo­si­tät un­auf­hör­lich zerrt und zupft. An der lin­ken Hand fehlt ihm ein Fin­ger­glied. Er gibt an, dass es bei ei­ner Schlä­ge­rei ihm ab­ge­bis­sen wor­den sei. Auch sein Rumpf ist gut ent­wi­ckelt; der Na­cken ist stark und ge­mein; Brust und Rücken zei­gen wie das Ge­säß rund­li­che wei­bi­sche Fett­pols­ter. Der Leib ist zwar derb, aber hat et­was vom Wei­be. Das Ge­schlechts­glied ist stark; die Scham­be­haa­rung ver­läuft nicht im spit­zen Win­kel zum Na­bel, son­dern im fla­chen Bo­gen ober­halb des Scham­bei­nes. Die plum­pen Füße ha­ben fla­che Soh­len. Die Stim­me, brei­ig, schlei­mig und nah am Dis­kant, er­in­nert an das Or­gan al­ter Frau­en. Der gan­ze Ha­bi­tus ist »an­dro­gyn«. Man möch­te sa­gen: nicht männ­lich, nicht weib­lich, nicht kind­lich. Aber män­nisch, wei­bisch und kin­disch zu­gleich. Am auf­fallends­ten an dem Mann (lei­der von den Sach­ver­stän­di­gen nicht stu­diert und nicht ein­mal be­ach­tet) sind die vie­len Au­to­ma­tis­men und Ste­reo­ty­pi­en. (Als »Au­to­ma­tis­men« be­zeich­ne ich sol­che Aus­drucks­be­we­gun­gen, die un­will­kür­lich wie­der­keh­ren; als »Ste­reo­ty­pi­en« sol­che, die all­mäh­lich zu Ge­wohn­heit ge­wor­den sind.) Au­to­ma­tisch sind z. B. ge­wis­se Be­we­gun­gen: eine Art Ta­pe­rig­keit oder Tat­te­lig­keit des Gan­ges, so­dann (be­son­ders wenn man ihn lobt oder in Ver­le­gen­heit bringt) eine fast ko­ket­te Schwän­ze­lei mit Ge­säß und Un­ter­kör­per. Fer­ner: so­bald er müde wird, be­ginnt er au­to­ma­tisch mit der lin­ken Hand an eine be­stimm­te Stel­le des rech­ten Mit­tel­haup­tes zu grei­fen, als wenn sich dort ein kran­ker Fleck be­fän­de. Wenn er den Fa­den ver­liert (denn er muss wie Ster­nes Kor­po­ral Trim »alle Sa­chen ganz von vorn er­zäh­len«) macht er eine ty­pi­sche Leck­be­we­gung mit der flei­schi­gen Zun­ge. Ste­reo­typ ist an ihm je­nes ewi­ge Zer­ren an den Fin­gern, das Be­net­zen der Lip­pen, das Ein­knei­fen der Au­gen­li­der, so­bald er eine Ver­tei­di­gungs­hal­tung an­nimmt. Auch sind alle sei­ne Re­den über­voll von ste­reo­ty­pen Re­dens­ar­ten. (Nüch? nüch wahr? Och! Och ne! »Und so wei­ter, und so wei­ter!« Auch Un­sinn! … Er spricht üb­ri­gens auf­fal­lend han­no­ver­a­nisch.) Be­stimm­te Lieb­lings­vor­stel­lun­gen keh­ren im­mer wie­der. (Z. B., dass alle Jun­gen in ihn ver­liebt sei­en; dass nicht er hin­ter Kna­ben, son­dern dass die Kna­ben alle hin­ter ihm her sei­en; dass auch die Frau­en (die er im Üb­ri­gen tief ver­ach­tet und gleich­sam als Ne­ben­buh­le­rin­nen emp­fin­det) gern mit ihm »pous­sie­ren« möch­ten.) Ob­wohl er nicht den min­des­ten Sinn hat für frem­de Rech­te und über­haupt kei­ne so­zia­len (sym­pa­thi­schen, al­truis­ti­schen; aus Mit­leid flie­ßen­den) Ge­füh­le hegt, ist er doch durch­aus ge­sel­lig. Die bei­den tiefs­ten Ge­füh­le sei­ner Na­tur sind das Be­dürf­nis nach Wol­lust und das Be­dürf­nis nach Zärt­lich­keit. Und sie sind so an­ein­an­der­ge­fes­selt, wie im Ma­hab­ha­ra­ta der Men­schen­fres­ser Hi­dim­ba, der Dä­mon der Blut­gier, ge­bun­den ist an sei­ne Schwes­ter Hi­dim­ba, die Göt­tin der zärt­li­chen Schön­heit. Er möch­te ge­liebt, ja er möch­te ger­ne be­wun­dert sein und steckt voll von Be­ach­tungs- und Be­ein­träch­ti­gungs­ide­en, wo­bei er mault und schmollt wie ein dum­mes stör­ri­sches Kind, das sich im­mer be­nach­tei­ligt wähnt. – Er liebt weib­li­che Ar­bei­ten, backt, kocht und stopft St­rümp­fe, raucht aber da­bei schwe­re Zi­gar­ren. Im­mer­hin ge­hört er zum Ty­pus des »Weib­man­nes« (der so­ge­nann­ten Tan­te). Sei­ne Lieb­lings­genüs­se sind Boh­nen­kaf­fee, star­ke Zi­gar­ren und Harz­kä­se. Im All­ge­mei­nen er­scheint er wie ein gar nicht bös­ar­ti­ges, ganz im Au­gen­blick le­ben­des, völ­lig ei­gen­be­züg­li­ches und durch­aus trieb­haf­tes Tier; re­nom­mis­tisch, aber leicht lenk­bar. Jede Vor­stel­lung, die man ihm ein­gibt, hat die Stre­bung für sein Be­wusst­sein so­fort »Wirk­lich­keit« zu wer­den; eben dar­um ist er voll­kom­men au­ßer­stan­de, ab­strak­te, d.h. un­bild­li­che Vor­stel­lun­gen fest­zu­hal­ten. Man könn­te in die­ser Hin­sicht sa­gen, dass sein Ver­stand weit schlech­ter ent­wi­ckelt ist, als sei­ne Ver­nunft. Die­ser »Kurz­schluss« zwi­schen Vor­stel­lung und Wirk­lich­keit ist so un­mit­tel­bar, dass, wenn er z. B. vom Köp­fen (»Ge­köppt wer­den«) spricht, er bild­haft den Gang zum Scha­fott und das Fal­len des Fall­mes­sers dem Be­su­cher vor­ahmt; wenn er er­zählt, wie er die Lei­chen zer­stückel­te, so ahmt er mit den Hän­den die Schnit­te nach; stei­gert er sich in Sen­ti­men­ta­les hin­ein (»Ich will auf dem Kla­ges­markt hin­ge­rich­tet wer­den. Auf mei­nem Grab steht der Spruch: ›Hier ruht der Mas­sen­mör­der Haar­mann.‹ An mei­nem Ge­burts­tag kommt Hans und legt einen Kranz nie­der«), dann kom­men ihm so­gleich Trä­nen ins Auge; be­rich­tet er von Ge­schlecht­li­chem, dann greift er (selbst im Ge­richts­saal) au­to­ma­tisch in die Ge­schlechts­ge­gend. Er ist ein Stück Na­tur; ohne Lo­gik und ohne Moral. Aber auch ohne lo­gi­sche und mo­ra­li­sche Heu­che­lei.

1 Steck­brief <<<

2 Die äu­ße­re Er­schei­nung von Le­be­we­sen, ins­be­son­de­re des Men­schen und hier spe­zi­ell die für einen Men­schen cha­rak­te­ris­ti­schen Ge­sichts­zü­ge. <<<

Haarmann

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