Читать книгу Panoptikum des Grauens - Thomas Riedel, Susann Smith - Страница 5

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»Es leuchtet! seht! – Nun läßt sich wirklich hoffen,

dass, wenn wir aus viel hundert Stoffen

durch Mischung – denn auf Mischung kommt es an –

Den Menschenstoff gemächlich componiren,

in einen Kolben verlutiren

und ihn gehörig cohobiren,

so ist das Werk im Stillen abgethan.«

Johann Wolfgang. v.Goethe,

Faust II, 2.Akt, Laboratorium,1832


Kapitel 1

E

s war eine sternenklare Oktobernacht. Unruhig wälzte sich Kayleen Coleman in ihrem Bett hin und her. Eine unerklärliche, beklemmende Unruhe hatte sie erfasst und machte ihr das Atmen schwer. Wieder und wieder wälzte sie sich herum, im ständigen Kampf mit ihrem Kopfkissen. Doch kaum schien es richtig zu liegen, änderte sie erneut ihre Position. Sie lag auf dem Rücken, als sie schweißgebadet erwachte und sich plötzlich senkrecht aufsetzte.

Abgespannt schob sie ihre schlanken Beine über die Bettkante. Sie blieb kurz sitzen, erhob sich, schritt mit traumwandlerischer Sicherheit zum Fenster hinüber, zog die Gardine zur Seite und betrachtete den fast schwarzen Himmel. Rechts oben erkannte sie den Abendstern, die Venus, links davon die ersten echten Sterne, die sich zum großen Wagen formierten. Für sie war es die schönste aller Sternenkonstellationen. Sie erkannte ›Mizar‹, den mittleren von drei Sternen, die zusammen die Deichsel bildeten, und der in Wirklichkeit ein Doppelstern war. Regelmäßig gönnte sie sich den Spaß ihre Sehkraft zu testen, indem sie prüfte, ob sie ›Mizars‹ blassen Zwilling ›Alkor‹ noch mit bloßem Auge erkennen konnte. Aber heute wollte ihr das nicht gelingen. Da war etwas, das sie ablenkte.

Unbewusst starrte sie auf den Balkon der Villa, die neben der ihres Vaters im ›Westend‹ lag, der bevorzugten Wohnlage der höheren Gesellschaftsschicht. Über ein Jahr hatte die Nachbarvilla leer gestanden und erst vor kurzem einen neuen Mieter gefunden.

Natürlich wurde schnell die Gerüchteküche bemüht. Hinter vorgehaltener Hand wussten alle etwas über den Neuen zu berichten, aber letztlich hatte natürlich niemand einen blassen Schlimmer. Eines aber hatten alle Gerüchte gemeinsam, nämlich, dass es sich bei dem Mieter um einen jungen Inder handeln sollte. Genaues hatte jedoch bislang keiner herausgefunden, da der neue Nachbar seinen Einzug nahezu heimlich vollzogen hatte und sich seitdem im Haus verschanzte, als sei er vor irgendetwas auf der Flucht. Letztlich war auch nicht gesichert, ob es sich bei dem geheimnisvollen Mann aus dem fernen Orient tatsächlich um einen Inder handelte – schließlich konnte er auch aus Pakistan oder einem anderen Land dieser Region kommen. Nachschub bekam die Gerüchteküche mit jedem Tag, da der Mann weder irgendwelche Post erhielt, noch sich selbst bei den Nachbarn vorstellte, wie es in diesem noblen Viertel ungeschriebenes Gesetz war.

Wenn überhaupt jemand das Haus verließ, dann war es ein Mann aus Tibet, der als Diener fungierte. Er war offensichtlich nur der tibeto-birmanische Sprache mächtig und konnte neugierige Fragen weder verstehen noch beantworten. Bei seinen Einkäufen musste er sich deshalb mit Händen und Füßen verständlich machen.

Zu dieser Nachtstunde zeigte sich der dunkelhäutige Mann ohne Scheu auf dem Balkon. Er hatte beide Hände über seiner Brust verschränkt und sah unverblümt zu ihr herüber. Seine Augen waren eiskalt. Ein unerklärliches phosphoreszierendes grünliches Leuchten umspielte die stumme Gestalt. Es war ein unheimliches Bild, das sich ihr bot. Selbst der hell strahlende Mond versteckte sich für einen Augenblick hinter die über den Himmel segelnden Wolkenfetzen.

Ohne darüber nachzudenken ergriff sie ihr kleines leistungsstarkes Fernglas, mit dem sie sonst die Sterne beobachtete und schaute hindurch.

Jetzt konnte sie ihn gestochen scharf erkennen. Er hatte ein jugendliches frisches Gesicht, auf dem ein ernster Zug lag. Seine Augen erschienen ihr besonders auffallend. Sie waren groß, dunkel und wirkten wie schwarze Diamanten, in denen ein fanatisches Feuer glühte. Einen unbeugsamen Willen und Machthunger glaubte sie in ihnen zu erkennen. Unweigerlich musste sie an Mahatma Gandhi denken, der einmal gesagt hatte, dass wahre Stärke nicht aus körperlicher Kraft erwächst, sondern vielmehr aus einem unbeugsamen Willen.

Sie erschrak ein wenig, als ihr Blick auf die Stirn des Fremdländers fiel. Es war ihr zunächst gar nicht aufgefallen, aber dort fand sich ein blutrotes kryptisches Zeichen, das plötzlich ein Eigenleben entwickelte und zu kreisen begann. Wie gebannt starrte sie es an, unfähig sich davon zu lösen. Sie spürte den Blick des Orientalen, der sie fixierte und nicht mehr losließ, spürte wie er in ihren Kopf eindrang – wie ein Hirnchirurg mit seinem Bohrer bei einer Trepanation – ihr Bewusstsein beeinflusste und ihr seinen Willen aufzwang.

Es war ein Befehl!

Sie hatte ihn verstanden und folgte ihm stumm.

Wie eine Marionette setzte sie sich unter seinem Einfluss in Bewegung. Mit schlafwandlerischer Leichtigkeit verließ sie ihr Zimmer, schritt die Treppe hinunter in die Eingangshalle, öffnete die Haustür und trat in den Vorgarten hinaus. Es war eine kühle Nacht, aber obwohl sie nur mit einem weitschwingenden, hauchzarten und fast durchsichtigen Negligé bekleidet war fror sie nicht. Ihre langen wilden blonden Korkenzieherlocken flatterten engelsgleich im leichten Wind. Sie folgte dem, von gepflegten Blumenbeeten gesäumten, nach rechts verlaufenden Kiesweg, dessen Steine unter ihren bloßen Füßen knirschten.

Sie hörte es ebenso wenig, wie den lauten Revierschrei eines Waldkauzmännchens aus der Ferne. Auch ihre großen, ausdrucksvollen Augen reagierten nicht, als sie das hölzerne Tor, in der mit Moos bewachsenen Mauer, geräuschlos öffnete. Mit ihren nackten Füßen schritt sie langsam die kalten und glatten Marmorstufen der großzügig angelegten Freitreppe des Nachbarhauses hinauf.

Mit einer tiefen Verbeugung empfing sie der Mann aus dem Hochland Zentralasiens, aber sie nahm es nicht wahr. Sie sah durch ihn hindurch, als sei er gar nicht existent. Unter der mentalen Kontrolle des Orientalen entging ihr auch der Krummdolch in dessen Gürtel. Mit einem hämischen, diabolischen Grinsen betrachtete er sie aus seinen dunklen mandelförmigen Augen.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit durchquerte sie die Vorhalle des Hauses, schritt über einen bunten indischen Teppich und wandte sich nach links, um die Galerie zu erreichen.

Gleich darauf stand sie, ohne anzuklopfen, im Zimmer des geheimnisvollen Mannes. Wortlos ließ sie sich in einen goldenen, reichlich bestickten Sessel fallen. Mit gespannter Aufmerksamkeit wartete sie, als willenlose Marionette, hoch aufgerichtet, auf seine neuen telepathischen Befehle.


Panoptikum des Grauens

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