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Kapitel 3

R

oger Whitemoore hatte Kayleen Coleman in der vergangenen Ballsaison kennengelernt, und soweit es ihm sein Beruf erlaubte, die Verbindung zu ihr aufrecht erhalten. Er war leitender Mitarbeiter eines renommierten britischen Architekturbüros, das in zahlreiche ausländische Bauprojekte involviert war. Entsprechend selten verbrachte er seine wenigen freien Tage in London. Auch jetzt kam er gerade von einer Großbaustelle aus dem fernen Abu Dhabi zurück.

Sein erster Weg vom Flugplatz in ›Heathrow‹ führte ihn in der Regel direkt zu ihr, nachdem er sich zuvor per ›WhatsApp‹ anmeldete, um sie vorzuwarnen, wie er sich auszudrücken pflegte. Doch dieses Mal kreuzte er unangemeldet bei ihr auf.

Er ließ sein cremeweißes Jaguar Cabriolet vor dem Haus Nummer 7, ›Southwell Gardens‹, im Londoner Stadtteil ›Kensington‹, ausrollen, schnappte sich den Strauß gelber Teerosen, der auf dem schmalen Rücksitz lag, und eilte durch den Park zum Herrensitz im Tudorstil.

Whitemoore war ein breitschultriger, Fünfunddreißigjähriger, zu dessen zahlreichen Hobbys so ausgefallene Betätigungen wie Fallschirmspringen, Tiefseetauchen und Rallyefahren zählte. Er war der Typ des erfolgsverwöhnten, nüchternen Mannes, für den Hindernisse auf dem Weg nur einen zusätzlichen Ansporn bedeuteten. Als Architekt überließ er wenig dem Gefühl und fast alles dem Verstand.

Unter den Briten bedeutete er insofern eine Ausnahme, als dass er weder an irgendwelche Schlossgeister noch an das sagenumwobene Ungeheuer von ›Loch Ness‹ glaubte und all diese Dinge für wissenschaftlich erklärbar hielt.

Er wurde vom Butler in den Salon geführt, wo der inzwischen siebenundneunzigjährige Sir Winston über einer Partie Schach grübelte und seine Tochter, Lady Sarah Coleman, eine Patience legte.

Es war die Zeit kurz vor dem Mittagessen.

»Ah, wie nett von Ihnen, dass Sie uns wieder einmal besuchen, mein Junge«, rief ihm seine Lordschaft erfreut zu.

Unwillkürlich sandte Whitemoore ein stummes Gebet nach oben, der greise Knabe möge nicht wieder mit seinen endlosen, abenteuerlichen Geschichten über seine lang zurückliegende Militärzeit in Indien anfangen. »Meine Freude ist so groß, dass sie vom Kummer Tränen borgt, sich zu entladen«, zitierte er Shakespeare, gefolgt von der Frage: »Wo ist Kayleen? … Ich war in Abu Dhabi und habe ihr ein entzückendes Collier mitgebracht. Es dürfte ihr sicher gefallen.«

»Von wem sprechen Sie, Roger?«, erkundigte sich Lady Sarah. Sie blickte von ihren Karten auf, lächelte milde.

Lady Sarah war eine kurzbeinige, dickliche, kleine Frau mit rastlosen Vogelaugen und einer immerwährenden streitsüchtigen Kopfhaltung. Ihre Kleidung war aus schwarzer Seide, die sie seit dem Tod ihres Mannes vor neun Jahren als Zeichen ihrer Trauer nicht mehr abgelegt hatte. Auf ihrem Haar, dass noch immer frei von jeglichem Grau war, trug sie ein kleines weißes Spitzenhäubchen, und dies, in Verbindung mit ihrem Alter, ihrer ganzen Erscheinung und ihrem Gebaren – besonders der kleinen Hängebacken, in die ihre Wangen ausliefen, trugen dazu bei, ihr eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der alten Queen Victoria zu verleihen, dessen sie sich sehr wohl bewusst war und worauf sie sich insgeheim etwas einbildete.

Whitemoore schaute sie perplex an.

»Wer soll diese Kayleen denn sein, zum Donnerwetter?«, erkundigte sich seine Lordschaft. Er kniff ein Auge zu und starrte ihn fragend an. »Ist das Mädchen wenigstens hübsch?«

»Ich spreche von Ihrer Urenkelin, Sir Winston«, stellte Whitemoore klar, und sein Blick wanderte zwischen den beiden alten Leuten irritiert hin und her, während er zu ergründen suchte, was hier gerade vor sich ging.

Der greise Mann wusste mit dieser Erklärung offenbar nichts anzufangen, während seine Tochter eine sehr naheliegende, aber falsche Möglichkeit andeutete, als sie mit dem Finger drohte und sagte: »Ein Gentleman trinkt nicht vor acht Uhr abends, Roger.«

Whitemoore schaute völlig verwirrt zwischen den beiden hin und her. Dann nahm er unaufgefordert Platz. »Sie wollen also allen Ernstes behaupten, Sie hätten keine Enkelin Kayleen, einundzwanzig Jahre alt, etwa fünfeinhalb Fuß groß, blond, blauäugig, mit einem winzigen Muttermal hinter dem rechten Ohr?«, fragte er Sir Winstons Tochter, davon ausgehend, dass sie die beiden alten Herrschaften einen absurden Scherz mit ihm erlaubten.

»Verstehst du das, Sarah?« Seine Lordschaft zwirbelte seinen eisgrauen Walrossbart. Er warf seiner Tochter einen fragenden Blick zu.

»Sicher«, erwiderte sie, allerdings nicht mehr ganz so gnädig. In ihrer Stimme schwang ein kriegerischer Ton mit. Sie beachtete Whitemoore kaum noch, sondern bedachte ihn lediglich noch mit einem beiläufigen Kopfnicken. »Entweder hat er seine zahllosen Amouren durcheinandergebracht, oder der ständige Klimawechsel bekommt ihm nicht.« Erst jetzt wandte sie sich wieder Whitemoore zu. »Roger, Sie müssen mir versprechen, dass Sie umgehend einen Arzt aufsuchen.« Sie klopfte auf dem Platz neben sich. »Und jetzt seien Sie brav, setzen Sie sich zu mir, und erzählen Sie von Ihrer letzten Reise. Sie können das so ausgezeichnet. Sie dürfen nur nicht wieder so einen ausgefallenen Spaß mit uns treiben.« Sie zwinkerte ihm wohlwollend zu. »In meinem Alter lasse ich mir keine Enkelin mehr unterschieben, die es nicht gibt, Roger.«

Entweder träume ich, oder ich bin in einem Irrenhaus gelandet, dachte Whitemoore, während Lady Sarah nach dem Butler klingelte, um ihm einen Tee anzubieten.

Als der der Bedienstete im Livree eintrat, schoss Whitemoore hoch, lief auf ihn zu und rief: »John, Sie kennen mich, und Sie kennen diese beiden Herrschaften ... Kennen Sie auch eine Miss Kayleen Coleman?«

John war ein hagerer Mann mit einem bleichen Gesicht und von unbestimmbarem Alter. Sein Haar lichtete sich bereits auf dem Hinterkopf. Er zögerte mit der Antwort. »Ich muss gestehen, … den Namen höre ich heute zum ersten Mal, Sir«, erklärte er mit würdevoller Steifheit.

Whitemoore war sich sicher, dass John sich niemals einen Spaß mit einem der Gäste des Hauses erlauben würde. Entsprechend verzweifelt fuhr er mit einer Hand durch sein kurz geschnittenes blondes Haar. Seine vom Aufenthalt in die Vereinigten Arabischen Emiraten war sichtlich eine Spur blasser geworden.

»Sie wollten doch mit dem Unsinn aufhören«, mischte sich Lady Sarah schneidend und vorwurfsvoll ein, nur um gleich darauf deutlich sanfter hinzuzufügen: »Nun setzen Sie sich endlich zu mir, und seien Sie endlich ein braver Junge, Roger.«

»Nun, dann helfen offensichtlich nur noch Beweise«, stöhnte Whitemoore verzweifelt. »Würden Sie mir bitte folgen?«

»Wozu? Und wohin überhaupt?«, erkundigte sich Sir Winston gereizt.

»Wir sollten ihm den Gefallen tun, Vater«, entschied Lady Sarah großmütig. »Der junge Mann regt sich sonst unnötig auf. Wir wollen doch nicht, dass er noch einen Herzanfall bekommt, nicht wahr?«

»Nein, natürlich nicht, mein Kind.«


Roger Whitemoore stürmte die Treppe in den ersten Stock der Villa hinauf, rannte den Korridor entlang und riss die Tür zu Kayleens Zimmer auf. Er sah auf den ersten Blick, dass sich hier nichts verändert hatte.

Nur ihr Schrank war leer. Da war nichts mehr, dass an Kayleen Coleman erinnerte. Es war, als habe sie nie existiert. Auch die zahlreichen Urkunden der Tennissiege, auf die sie immer so stolz gewesen war, hingen nicht mehr an der Wand.

»Das ist unser Gästezimmer«, meinte seine Lordschaft ruhig, nachdem er zu ihnen aufgeschlossen hatte. »Was ist damit?« Er zuckte fragend die Achseln. »Was sollte das schon beweisen?«

»John soll das Familienalbum bringen«, bat Whitemoore verstört. »Es muss doch irgendeine Spur von Ihrer Urenkelin geben, Sir Winston.«

»Jetzt hören Sie doch endlich damit auf, uns eine Enkelin aufschwatzen zu wollen«, protestierte Lady Sarah.

Whitemoore klingelte nach dem Hausangestellten.


Zehn Minuten später erschien der Butler mit dem gewünschten Album und legte es vor, ohne eine Miene zu verziehen.

Whitemoore schlug Seite auf Seite um, aber nirgends gab es eine Aufnahme von Kayleen. »Dieses Bild, dies und das hier ebenfalls, sind erst kürzlich durch Landschaftsaufnahmen ersetzt worden«, stieß der Architekt aufgebracht hervor. Er deutete auf die entsprechenden Stellen. »Ich kann Ihnen auch genau sagen, was sich vorher dort befunden hat.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle rechts oben. »Hier zum Beispiel konnte man Kayleen als Dreizehnjährige sehen mit ihrem ersten Pony. Und hier unten …«, er hatte eine Seite umgeschlagen, »Kayleen mit ihrem ›English Pointer‹.« Whitemoore stutzte. »Die Hündin! Natürlich!«, rief er. »Joyce lag vorhin neben der Küchentür.«

»Das ist doch nicht ungewöhnlich, Roger. Das tut er immer«, meinte Lady Sarah. Sie sah ihn ratlos an.

»Er gehört Kayleen.«

»Nein, er gehört mir«, bestritt Sir Winstons Tochter energisch.

Whitemoore war nahe daran, seine Hände um den faltigen Hals der Mittsiebzigerin zu legen und fest zuzudrücken. »Jetzt kommen Sie«, bat er, sich mühsam beherrschend. »Geben Sie mir noch eine Chance.«

»Roger«, sagte Sir Winston gelassen, »Sie wissen, ich habe eine Menge für Sie übrig. Aber Sie sollten meine Geduld nicht über Gebühr in Anspruch nehmen.«

»Nun las ihn doch, Vater«, tadelte ihn seine Tochter. »Du siehst doch, wie wichtig das alles für ihn ist und wie es ihn mitnimmt. Der Junge ist ja völlig durcheinander.« Beschwichtigend legte sie ihre Hand auf den Arm ihres Vaters.

Unterdessen stürmte Whitemoore bereits wieder in das Erdgeschoss und lockte die Hündin. »Na, komm schon! … Joyce! Na, altes Mädchen?«

Schweifwedelnd kam die ›English Pointer‹-Dame auf ihn zu und begrüßte ihn herzlich. Sie hatte ihn und Kayleen auf manch einem ausgedehntem Spaziergang begleitet und war von ihnen verwöhnt worden.

Seine Lordschaft betrachtete den jungen Architekten mit Misstrauen. »Wie wollen Sie mir eigentlich mit Hilfe eines Hundes beweisen, dass ich in eine Irrenanstalt gehöre? … Ich mag ja inzwischen geistig nicht mehr so leistungsfähig sein, und in meinem gesegneten Alter ist das sicher gestattet, junger Mann, aber ich bin keineswegs verwirrt«, bemerkte er spöttisch. »Wenn ich eine Urenkelin hätte, wäre ich der erste, der sich darüber freuen würde. Ich mag Kinder.«

Whitemoore wusste sich das rätselhafte Verhalten nicht zu erklären, aber ahnte, dass er ganz ungeheuren Sache auf der Spur war, und sein kriminalistischer Spürsinn fühlte sich herausgefordert. Auf diesem Gebiet war Whitemoore wohl auch ein wenig vorbelastet. Ein Onkel mütterlicherseits war Chef Inspector beim ›New Scotland Yard‹ und hatte ihm seit frühester Jugend als eine Art Superdetektiv imponiert. »Kayleen und ich haben mit Joyce oft stundenlang gespielt«, erläuterte er. »Einer von uns hat sich versteckt, und der andere musste ihn mit ihrer Hilfe aufspüren.«

»Wie interessant«, murmelte seine Lordschaft, wenig überzeugt, wechselte einen Blick geheimen Einverständnisses mit seiner Tochter und versenkte beide Hände in den Taschen seines Hausmantels.

»Hören mir jetzt gut zu«, beschwor Whitemoore die Hundedame und nahm den Kopf des Tieres zwischen beide Hände. »Geh‘ und such‘ Frauchen, Joyce … Such‘!«

Der Hündin stutzte, rannte dann los und kratzte an der Haupttür.

Whitemoore schaute Sir Winston triumphierend an.

Seine Lordschaft schickte einen verzweifelten Blick an die Zimmerdecke.

Whitemoore öffnete dem jaulenden Tier. Joyce schoss in den Park und er lief hinterdrein.

»Vermutlich hat sie draußen einen Knochen vergraben«, höhnte Lord Coleman, der mit seinem Gehstock unter der Tür stehengeblieben war.

Der ›English Pointer‹ rannte zielstrebig den Kiesweg hinunter. Gleich darauf kratzte die Hundedame an der Verbindungspforte zum Nachbargrundstück.

Als Whitemoore atemlos aufschloss, zögerte er für den Bruchteil einer Sekunde, ehe er entschlossen den Türgriff nach unten drückte.

Doch das Tor war versperrt.


Gespannt spähte Whitemoore durch das wuchernde Grün hinüber. Dabei bemerkte er den Fremden, der auf dem Balkon stand, den Rauch einer Zigarette aus einer elfenbeinernen Spitze inhalierte und ihn, wie ein lästiges Insekt, mit unverhohlenem Hohn betrachtete.

»Haben Sie den Schlüssel?«, rief Whitemoore ihm zu.

Der Orientale schüttelte stumm den Kopf.

»Kennen Sie eine gewisse Kayleen Coleman?«, setzte er verzweifelt nach.

»Ich kümmere mich nicht um meine Nachbarn«, antwortete Kianoush Shabistari gelassen. »Aber soviel ich weiß, gibt es in der Familie seiner Lordschaft niemand mit diesem Namen. Aber fragen Sie Sir Winston doch selbst.«

Wie betäubt wandte Whitemoore sich um, während die Hündin immer wieder kläffend an der verschlossenen Pforte emporsprang. »Komm‘, Joyce«, flüsterte er. »Uns beiden glaubt ja eh niemand.« Aber damit ließ sich die ›English Pointer‹-Dame nicht beruhigen, und er kniete nieder, um sie zu besänftigen. Und plötzlich stutzte er.

Im Gras lag ein dünnes Goldkettchen mit einem Anhänger, eine etwas kitschige türkische Arbeit, die aber mit einem wertvollen Rubinherz verziert war. Auf einer winzigen Goldplatte jedoch waren die Worte eingraviert: ›Kayleen. In Liebe – Roger‹.

»Da ist der Beweis!«, rief er erregt, während er mit seinem Fund zu seiner Lordschaft gerannt war.

Der greise Mann lächelte überheblich. »Da steht aber nichts davon, dass diese geheimnisvolle Kayleen meine Urenkelin ist«, stellte er klar.

Whitemoore warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wenn es nicht gerade Mittag wäre, genügte ein Anruf beim Standesamt«, knirschte er. »Das würde Sie doch überzeugen, nicht wahr?«

»Nur davon, dass auch britischen Behörden Fehler unterlaufen«, parierte Sir Winston ironisch, worauf seine Tochter lauthals auflachte.

Es war offensichtlich, dass die beiden Alten langsam des seltsamen Spieles überdrüssig wurden.

»Ich weiß, dass da irgendetwas nicht stimmt«, überlegte Whitemoore halblaut. »Ich ahne, dass Kayleen in Not ist.«

»Sie haben doch einen Onkel beim Yard, Roger«, schlug seine Lordschaft im Scherz vor. »Vielleicht können Sie den für Ihre Jagd nach dieser mysteriösen Kayleen einspannen.«

»Er hat gerade eine neue Abteilung ins Leben gerufen«, nickte Whitemoore. »Das ›B.O.O.R.‹, ›Bureau of Occultism Research‹, und befasst sich mit allen Kriminalfällen, die den Rahmen des Üblichen sprengen. Zwei seiner Leute, ein gewisser Chief Inspector Issac Blake und dessen Partner Inspector Cyril McGinnis, haben gerade einen erstaunlichen Fall gelöst, der in Durness, an der Nordküste Schottlands spielte, wie Sie den Zeitungen sicher entnommen haben werden, Sir.[1]«

»Ich erinnere mich an die Artikel«, stimmte Sir Winston zu.

»Kann ich von hier aus telefonieren«, fragte Whitemoore erschöpft. Er war mit seinem Latein am Ende.

Seine Lordschaft nickte. »Geheimnisvoll am lichten Tag, lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben. Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben«, brummte er leise vor sich hin.


Panoptikum des Grauens

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