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Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV)

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Nichtstun ist für Jakob kein Thema. Die politischen online Seiten hat er durchgesehen. Nichts von Belang für ihn.

Auf einer Seite der Sächsischen Zeitung bleibt er dann doch hängen.

Es geht um die ärztliche Versorgung in randständigen Regionen. Dort tun sich auch die Krankenhäuser schwer, Ärzte zu gewinnen. Bisher wurde allerdings noch kein Krankenhaus geschlossen, weil es keine Ärzte mehr hatte. Anders sieht es bei den Kassenärzten aus. Selbst in größeren Städten, wie Görlitz in Sachsen, mit immerhin 55 000 Einwohnern, schafft es die Kassenärztliche Vereinigung nicht, genügend Hausärzte zu platzieren. Görlitz, eine sehr schöne historische Stadt an der polnischen Grenze, mit überwiegend restaurierter Bausubstanz, hat zwar mehr Zuzug als Abgänge, muss aber kontinuierlich gegen den Bevölkerungsschwund ankämpfen. Weil Wohnen günstig ist, werden auch Senioren angeworben. Dass für diese eine ärztliche Betreuung essentiell ist, versteht sich von selbst. Dass dem nicht so ist, konnten die Zuzügler selbst erfahren und im Januar 2018 in der Sächsischen Zeitung lesen. (sz-online.de/nachrichten/verzweifelte-arzt-suche-3853500.html).

Eine große Familie, mit betagtem Haushaltsvorstand über achtzig, verließ nach 20 Jahren Frankfurt am Main und entschied sich für Görlitz. Zwölf Ärzte in Görlitz wurden kontaktiert. Diese wiesen die Familie mit dem Hinweis ab, sie könnten keine Patienten mehr aufnehmen. Es fand sich kein Hausarzt und auch kein Neurologe, den die Seniorin der Familie wegen spezieller Medikamente dringend benötigte. In ihrer Verzweiflung wandte sich die Tochter an das Gesundheitsamt. Das wollte ihr gern helfen, war aber weder zuständig noch befugt. Aber das Amt versuchte Hilfestellung zu geben und verwies auf die Service Nummer der KV, bei der die Patienten Arzttermine erhalten können. Vorausgesetzt man hat einen Hausarzt und im Fall der Familie, einen Überweisungsschein zum Neurologen. Die Familie hatte weder das eine noch das andere. Trotzdem versuchte sie es bei einem Neurologen. Leider nicht möglich, voll sei eben voll. Wenigstens hat sie das Rezept für die neurologischen Medikamente bekommen. So funktioniert die Ärztliche Selbstverwaltung in Ostsachsen. Überhaupt nicht.

Jakob bleibt am Thema „Kassenärztliche Vereinigungen“ hängen und surft weiter durch die verschiedensten Seiten.

Patienten, die gesetzlich versichert sind, werden von den sogenannten Kassenärzten behandelt. Da 90 % aller Patienten gesetzlich versichert sind, behandeln die Kassenärzte nahezu die gesamte Bevölkerung in Deutschland. Die 150 000 Kassenärzte, auch als Vertragsärzte bezeichnet, sind in 17 kassenärztlichen Vereinigungen (KV) organisiert. 16 Bundesländer, 17 kassenärztliche Vereinigungen, weil Nordrhein-Westfalen zwei hat. Die 17 regionalen Vereinigungen sind in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zusammengefasst. Zusammen mit dem obersten Gremium der Krankenkassen legt die KBV fest, wie viele Ärzte einer bestimmten Fachrichtung in einer definierten Region eine Praxis betreiben dürfen. Die beiden Institutionen legen auch gemeinsam fest, in welchem Rahmen die Honorare für die Kassenärzte verändert oder angepasst werden. Selbstverwaltung eben.

Laut Sozialgesetzbuch V haben die Kassenärzte den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Damit haben sie Pflichten. Eine Pflicht, die jeder kennt, ist die ambulante ärztliche Versorgung der Patienten. Nicht nur dann, wenn die Arztpraxen ihre Sprechstunden haben, sondern zu allen Zeiten. Diesen Sicherstellungsauftrag verteidigen die Funktionäre der kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und insbesondere ihr höchstes Gremium, die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) vehement. Ihr selbst ausgemachter Gegner sind die Krankenhäuser, denen sie permanent vorwerfen, sie würden ihnen die Patienten wegnehmen. Dabei übersehen sie geflissentlich, dass die Organisation ihrer Notdienststrukturen die Patienten geradezu in die Krankenhäuser treibt. Weil für Patienten nicht erkennbar ist, wo, wann und wie die Notfalleinrichtungen der Kassenärzte aufgesucht werden können. Das gilt nicht nur für große Städte, sondern besonders für ländliche Regionen. Bekanntlich nimmt die Dichte der Landarztpraxen permanent ab und den Patienten bleibt nur das Krankenhaus. Statt Einsicht haben die Funktionäre der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) nur laue Antworten. „Ich glaube nicht, dass wir einfach sagen können: Da, wo wir keine Ärzte in der Niederlassung haben, machen es halt die Krankenhäuser. Denn da, wo wir keine niedergelassenen Kollegen mehr haben, haben auch die Krankenhäuser erhebliche Schwierigkeiten, Ärzte für ihre Häuser zu bekommen.“ (Deutsches Ärzteblatt, DÄ, Jg. 111, 4/2014)

Die Vermittlung von Facharztterminen, hatte der Gesetzgeber den KV zur Pflicht gemacht. Terminservicestellen der KV sollten Patienten innerhalb eines Monats zum Facharzt vermitteln. Vorausgesetzt die Patienten sind im Besitz eines Überweisungsscheines vom Hausarzt. Wie das funktioniert, wollte die Patientenbeauftragte der Bundesregierung genau wissen und veranlasste im Dezember 2017 eine Stichproben Telefonaktion. Der Rundruf brachte gravierende Belege für das Scheitern des Auftrags ans Licht. Die Mitarbeiter der Patientenbeauftragten riefen bei allen 17 Terminstellen der KV an. 7 von ihnen waren zu Geschäftszeiten nicht erreichbar. Auch nach mehreren Anrufen nicht und immer in den ausgewiesenen Geschäftszeiten. Von Anfang an hatte die KBV die Anweisung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) heruntergeredet. Terminservicestellen würden nicht wirklich gebraucht. Dass sie wohl gebraucht werden, hatte das BMG von den Beschwerden der Patienten abgeleitet, die monatelang darauf gewartet hatten, einen Facharzttermin zu erhalten. Die Berliner KV reagierte beleidigt auf den Bericht der Patientenbeauftragten. „Wir hätten uns gefreut, wenn rechtzeitig vor der Veröffentlichung der Ergebnisse Kontakt mit uns aufgenommen worden wäre.“ (Der Tagesspiegel 6.1.2018)

Wozu, um den Service zu verbessern, oder um den Katalog der Ausflüchte zu erweitern?

So konzentrieren sich die kassenärztlichen Vereinigungen doch lieber auf das, was sie am liebsten machen und am besten können, nämlich Geld verteilen. Das macht am meisten Spaß, ist aber auch der gesetzliche Auftrag an die KV. Für die ambulante Versorgung der Kassenpatienten stellen die Krankenkassen einen bestimmten Geldbetrag zur Verfügung, die Gesamtvergütung. Auf Bundesebene verhandeln der Gesamtverband der Krankenkassen (GKV) und die kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) im ersten Schritt den Preis und die Menge der Arztleistungen, aus denen das Honorar gebildet wird. Dieses Geld geht an die 17 KV, die es an regionale Besonderheiten anpassen und dann weiter an ihre Vertragsärzte verteilen. Da der Aufwand in den verschiedenen Arztgruppen, Hausarzt, HNO-Arzt, Orthopäde, sich unterscheidet, muss das verfügbare Geld „gerecht“ aufgeteilt werden. Jeder Vertragsarzt muss bei der KV, quartalsweise, die Abrechnung von der Behandlung seiner Patienten einreichen. Vergütet wird seine Leistung anhand eines Kataloges, der sich Einheitlicher Bewertungsmaßstab (EBM) nennt. Die Honorierung erfolgt entlang einer Punktzahl und einem Euro-Wert.

Da es bei der Abrechnung der erbrachten Leistungen Mengenbegrenzungen gibt, kann dem Arzt nicht jede erbrachte Leistung zum Katalogwert (EBM) erstattet werden. Das regt die Fantasie mancher Ärzte an, kann aber auch zu Fehlern bei der „peinlich genauen Abrechnung“ führen, zu der sie verpflichtet sind. Was damit gemeint ist erklärt die Leiterin der Prüfgruppe Abrechnungsmanipulation bei der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH). „Der Klassiker sind nach wie vor Luftleistungen. Es wird eine Leistung abgerechnet, die nie erbracht wurde.“

Die Juristin, mit dem Schwerpunkt Kriminologie, kennt die Begehrlichkeiten im Gesundheitswesen und die Versuchungen, gegen die die Ärzte fortwährend ankämpfen müssen. „Um den Arzt herum sitzen die unterschiedlichen Leistungsanbieter und versuchen, möglichst viele Verordnungen zu ergattern.“ Und sie erklärt wie das abläuft. „Der HNO-Arzt erhält vom Hörgeräteakustiker Geld dafür, dass er seine Patienten dorthin schickt. Da werden Reisen bezahlt, Autos oder Flugstunden. Der Orthopäde wird am Umsatz eines Sanitätshauses beteiligt, das den Arzt beliefert. Der Onkologe erhält eine Umsatzbeteiligung, weil er das Rezept für die extrem teuren Chemotherapien direkt in eine bestimmte Apotheke gibt. Das ist alles verboten, sowohl nach dem Berufsrecht, als auch nach den Sozialgesetzen. Man muss es leider so sagen: Das deutsche Gesundheitswesen ist korrupt.“

(Berliner Zeitung, Nr. 207, 9/2016)

Jakob hat genug gelesen. Er geht zum Kühlschrank und holt eine Flasche Wasser. In mehreren Zügen hat er sie leergetrunken. Mein Gott, was habe ich mir da angetan! Wirtschaft ist so schön, aber Gesundheit, nein Krankheit, darum geht es doch, was für ein Thema. Wenn das alles stimmt, was er da gelesen hat, dann ist das eine riesige Baustelle. Vielleicht aber auch nicht. In der Wirtschaft geht es auch nicht anders zu. Sonst gäbe es nicht die zahlreichen Blätter, die Woche für Woche Neues aus der Wirtschaft zu vermelden haben. Was interessiert den Leser am meisten? Gute Zahlen, ja bestimmt. Aber auch Horrorzahlen, wenn sie einen nicht selbst betreffen. Und das Auf und Ab. Und die Enthüllungen, die Entlarvungen, die Machenschaften der Finanzinvestoren. Und schließlich die Schicksale der Verantwortlichen, die von „Heuschrecken“ gefressen werden. Was unterscheidet schon Wirtschaft von Gesundheitswirtschaft? Die Dimension, sonst nichts. 340 Milliarden Euro groß soll die Gesundheitswirtschaft sein. Größer als die Automobilwirtschaft, von der mehr Horror- als Erfolgsnachrichten kommen. Betrug ist allgegenwärtig. In der Automobilwirtschaft noch liebevoll als „schummeln“ bezeichnet. In der Gesundheitswirtschaft schon unverblümt als Korruption. Zumindest vom Chefermittler einer Krankenkasse.

Jakob ruft José an.

„Störe ich dich? Bist du in Familie?“

„Natalie ist mit den Kindern auf einem Geburtstag von Freunden. Kindergeburtstag, das kann dauern. Da ist die Meute unter sich und ich kann durchatmen. Du scheinst auch frei zu sein.“

„Isabell ist mit ihrer Freundin Lara auf einem Parcours mit dem Porsche. Ich wollte nicht mit. Will ich eigentlich nie. Die beiden sitzen im Auto und ich steh herum. Nicht sehr erquicklich.“

„Hast du Lust auf ein Glas Wein? Ich probiere gerade einen Wein aus der Region Bandol. Südfrankreich, die Gegend um Le Castellet. Sagt dir das etwas?“

„Nein, das sagt mir nichts.“

„Isabell kann damit bestimmt etwas anfangen. In Le Castellet liegt der Circuit Paul Ricard, eine Motorsport Rennstrecke.“

„Mitten in den Weinbergen? Wie das?“, fragt Jakob erstaunt.

„Die Weinberge waren bestimmt schon vorher da. Warum sie da eine Rennstrecke hin gebaut haben, weiß ich auch nicht.“

„Ich komme gern, bis gleich.“

Die Beiden begrüßen sich herzlich. José hat Erklärungsbedarf in Sachen Wein, eine seiner Leidenschaften.

„Die Weinregion Bandol, genannt nach der Ortschaft gleicher Bezeichnung, liegt zwischen Marseille und Toulon im Departement Var. Das Gebiet ist für französische Verhältnisse klein. Nur 1400 Hektar Anbaufläche. Aber großartige Weine. Der Boden und der Wind vom Mittelmeer, natürlich auch die Sonne, generieren einen phantastischen Wein. Ich habe einen Weißwein aufgemacht. Die Bandols haben immer noch die klassischen Korken. Ich liebe das. Probiere mal.“

„Ganz mein Geschmack. Ein bisschen erdig, sehr angenehm“, sagt Jakob. „Kannst du da mitgehen? Mit dem erdig. Gilt das auch für französische Weine? Das kenne ich bisher nur vom Frankenwein.“

„Da gehe ich mit. Zusätzlich hat er eine fruchtige Note und ist gleichzeitig trocken. Ein wunderbarer Wein.“

„Ich muss vorsichtig sein. An dem Bandol könnte ich mich festhalten.“

„Und sonst? Bis du noch dabei oder schon abgesprungen?“

„Noch dabei“, antwortet Jakob. „Dabei und überrascht. Weil Isabell on tour ist und ich keine Verpflichtungen habe, bin ich im Internet hängen geblieben. Dabei besonders lange auf den Seiten, die sich um die Kassenärztlichen Vereinigungen, die KV, drehen.“

„Die KV stehen derzeit ziemlich unter Beschuss. Wegen der ambulanten Behandlung der Patienten. Die kriegen das nicht auf die Reihe. Obwohl sie einen gesetzlichen Auftrag haben“, sagt José.

„Und im gleichen Atemzug behaupten, dass die Krankenhäuser ihnen die Patienten wegnehmen.“

„Die Patienten gehen von sich aus ins Krankenhaus, weil das immer geöffnet hat und immer jemand da ist. Und weil bekannt ist, wo sich das Krankenhaus befindet. Was man von den Notfallpraxen der KV nicht behaupten kann.“

José fährt fort: „Die KV bestimmt, wo ein Arzt seine Praxis eröffnen darf. Sie legt fest, in welcher Dichte die Praxen beieinander liegen dürfen und verteilt die einzelnen Fachrichtungen so, dass gemessen an der Bevölkerungsdichte, nicht zu viele von einer Fachrichtung auf engem Raum praktizieren.“

„Dann ist doch alles bestens geregelt“, antwortet Jakob.

„Soweit die Theorie. Realität ist, dass große Städte, vor allem die attraktiven Städte mit niedergelassenen Ärzten übersät sind. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. In weniger attraktiven Stadtteilen, mit hoher Arbeitslosigkeit und starkem sozialem Gefälle, ist die Arztdichte gering. Manche Fachrichtungen, wie Kinderärzte, sind dort rar vertreten. Und das, obwohl die Kinderdichte dort besonders hoch ist.“

„Das wundert mich nicht. Eine Praxis in attraktiver Großstadtlage wirft mehr ab.“

„Was dazu führt, dass es in den Stadtzentren fast nur noch Arztpraxen, aber kaum noch Kneipen gibt. Überdichte und unangemessene Verteilung, das ist die Realität in den Städten.“

„Du, als Gesundheitsökonom, musst es ja wissen“, pflichtet Jakob bei.

„Im Gegensatz dazu ist der Ärztemangel auf dem Land sprichwörtlich. Ganz viele denken darüber nach, wie man den Mangel beseitigen könnte. Politiker, Krankenkassenfunktionäre, Ärztefunktionäre. Dabei entstehen wundersame Ideen. Man sollte Ärzte aus den Stadtpraxen einmal pro Woche aufs Land schicken. Oder diese Idee. Landarztpraxen sollten in Regionen ohne Landarzt eine Filiale aufmachen. Oder diese. Man verpflichtet frisch gebackene Ärzte ohne weitere Qualifikation, also Abgänger von der Universität, für zwei Jahre aufs Land. Dann können sie mal ausprobieren, was sie an der Uniklinik gelernt haben. Die hartgesottene Landbevölkerung wird es schon überstehen.“

„Übertreibst du nicht?“, fragt Jakob.

„Keineswegs. Und hier die neueste Idee. Schlechten Abiturienten mit dem unstillbaren Wunsch, Medizin zu studieren, gibt man einen Studienplatz. Aber nur, wenn sie Landärzte werden. Das erinnert stark an Ablasshandel und an den Ablassprediger Johann Tetzel. Wahrscheinlich wurde diese Idee im Lutherjahr geboren.“

Jakob folgt den Äußerungen von José gebannt.

„Erstaunlicherweise fällt der Kassenärztlichen Bundesvereinigung am allerwenigsten ein. Hat sie nicht den Auftrag für die flächendeckende ambulante ärztliche Versorgung? Den hat sie und sie lässt ihn sich nicht nehmen.“

„Wenn sie ihren gesetzlichen Auftrag nicht ausführt, dann hat sie auch ihre Rechte und Ansprüche verwirkt. Das ist doch wohl logisch, oder?“, wirft Jakob ein.

„Die Kassenarztfunktionäre haben ihre eigene Logik. Seit Jahren wettern sie gegen die ambulante Behandlung „ihrer Patienten“ durch die Krankenhäuser. Dafür ist ihnen jede Sprachregelung recht. Zweckentfremdete Gelder der Solidargemeinschaft würden in den Ambulanzen der Krankenhäuser hängen bleiben. Die Patienten hätten außerhalb der Krankenhäuser ambulant behandelt werden müssen. Das wäre auch viel billiger.“

„Ist das so?“, fragt Jakob.

„Die Krankenhäuser sagen, das stimmt nicht. Wir Krankenhäuser bekommen nur 30 Euro für eine Notfallbehandlung, 130 Euro wären angemessen, die sackt ihr Kassenärzte ein.“

„Die ambulante Behandlung der Patienten ist doch Sache der KV“, entgegnet Jakob.

„Wo und wie denn?“, erwidert José. „Wenn keine Praxis offen hat und wenn kein Notdienst organisiert ist, dann bleibt nur das Krankenhaus.“

„Vielleicht wissen die Notfallpatienten auch nicht, dass man zuerst zur KV gehen muss“, antwortet Jakob. Und er fährt mit zynischen Worten fort. „Wir wissen ja, dass die entscheidenden Dinge nicht auf dem Lehrplan der Schulen stehen. Die Schüler lernen nur unwichtiges Zeug. Wie man fürs Alter vorsorgt wird nicht gelehrt, in Aktien investieren auch nicht, IT kommt zu kurz und die ambulante Notfallbehandlung durch die KV steht auch nicht auf dem Lehrplan.“

Es entsteht eine Pause. So als sei das Thema ambulante Notfallbehandlung ein schwer zu verdauender Brocken. Nach dem Austausch von erfreulichen Begebenheiten aus dem privaten Bereich, greift Jakob das Thema wieder auf.

„Warum schaffen es die KV nicht, ihren Auftrag zur lückenlosen ambulanten Versorgung zu gewährleisten?“

„Weil die KV die Kassenärzte nicht auf eine vakante Position setzen kann. Nicht in ein unattraktives Stadtviertel, nicht in eine menschenarme Landschaft. Sie können die Kassenarzt Sitze, so heißt das, anbieten, aber keiner muss sie annehmen.“

„Passt irgendwie nicht“, erwidert Jakob. „Erklärt vor allem nicht, warum an manchen Orten viel zu viele Ärzte sind, die da auch bleiben wollen. Und die angeblich nur mit Hilfe von Privatpatienten wirtschaftlich überleben. Warum gehen die nicht in die Landarztpraxen? Die Fernsehserie mit dem Landarzt, den netten Arzthelferinnen und den glücklichen Patienten, hat wohl nicht weitergeholfen. Hat keinen Run der Jungärztinnen aufs Land ausgelöst.“

„Weil die Sache ganz einfach zu erklären ist“, fällt José ein. „Medizin wird an Universitäten gelehrt. Die sind ganz oft in Großstädten, oft in der Nähe von Großstädten oder in Ballungsräumen. Das Medizinstudentenleben geht über sechs Jahre. In der Zeit entstehen soziale Bindungen. Darauf folgt die Facharztausbildung. Die findet an Krankenhäusern statt. Weil sich die Studenten in der Zeit ihres Studiums irgendwie am Studienort eingerichtet und bereits Weiterbildungspläne geschmiedet haben, suchen sie sich ein Krankenhaus vor Ort, oder in der näheren Umgebung. Dort arbeiten sie mehrere Jahre auf ihren angestrebten Facharzt hin. Wenn sie den haben, fällt die Entscheidung. Bleibe ich im Krankenhaus oder gehe ich in die Praxis. Wer sich für die Praxis entscheidet hat auch vorgearbeitet. Er wird Partner in einer Praxis oder er übernimmt eine Praxis. Das jahrelange Leben an einer Universitätsstadt hat ihn angebunden. An die Stadt, die Umgebung, oder die Region. Er will bleiben, weil vieles so vertraut ist. Die Ausbildungsstädte, das Umfeld, die Freunde, die Kollegen. Jetzt dem Angebot der KV zu folgen und eine Praxis auf dem Land zu übernehmen, hieße mit vielem Vertrauten zu brechen. Dazu sind nur wenige bereit.“

„Das heißt, die KV haben de facto kapituliert, wollen es aber nicht eingestehen“, schlussfolgert Jakob.

„Exakt so sieht es aus. Weil das so ist, handeln die obersten Funktionäre der Kassenärzte wider allen Verstand. Das ständige Einfordern der ambulanten Behandlungskompetenz, ohne es zu können, wird langsam unerträglich. Gäbe es die Krankenhäuser nicht, müssten die KV sich längst auflösen.“

„Dann darf aber der Gesetzgeber nicht länger zusehen“, bemerkt Jakob. „Es kann doch nicht sein, dass ein Partner der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen seinen Part nicht erfüllt. Und dann, zu allem Überfluss auch noch den Kontrapart attackiert. Ich meine die Krankenhäuser, die ihm aus der Klemme helfen. In vielen Bereichen haben die Krankenhäuser längst die ambulante Behandlungskompetenz übernommen.“

„Die Hybris der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ist noch aus einem anderen Grund völlig überzogen. Ihr ausgemachter Widersacher, die Krankenhäuser, bilden die Ärzte in allen Fächern aus. Nur sie allein. Sie garantieren die stationäre Behandlung und springen in der ambulanten Behandlung ein. Die Krankenhäuser füllen, ganz ohne Auftrag, jede Behandlungslücke. Die Lücken an den Wochenenden, an den Feiertagen, und nachts.“

„Ich gehe noch einen Gedanken weiter“, antwortet Jakob. „Das ungelöste Problem der ambulanten Behandlung der Patienten bekommt die gemeinsame Selbstverwaltung nicht in den Griff. Sie erfüllt ihren Auftrag nicht. Die Akteure des Gesundheitswesens sollten Partner in der Sache sein. Tatsächlich sind sie Kontrahenten. Die KV bezichtigen die Krankenhäuser der unerlaubten ambulanten Behandlung. Die Krankenhäuser verweigern den Patienten die Behandlung nicht. Sie verhalten sich loyal…“

José unterbricht Jakob. „Und die Krankenkassen sehen dem Treiben zu. Weil die Behandlung im Krankenhaus kostengünstiger ist, wegen der Unterfinanzierung der Krankenhausambulanzen. Die KV Ärzte sind teurer und am Ende landen viele Patienten doch noch im Krankenhaus. Warum, weil die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der KV Ärzte begrenzt sind. In diesem Dickicht sollen sich die Patienten zurechtfinden. Die Spitze des Ganzen sind auch noch die Vorwürfe der Kassenarztfunktionäre. Die Patienten würden sich den einfachsten Weg suchen und dabei das System der KV missachten. Nein, sie suchen Hilfe in der Not. Die finden sie am leichtesten im Krankenhaus.“

Jakob ist sichtlich in Fahrt gekommen. „Das nicht loslassen wollen von dem unerfüllbaren Auftrag hat eine weitere Idee geboren. Ja nicht den Ball aus dem Spiel nehmen. Im Krankenhaus soll eine Art Sichtung der eintreffenden Patienten erfolgen. Du Patient, du gehst in die Notdienstpraxis der KV, gleich um die Ecke. Weil du ein einfacher Fall bist. Das lässt sich mit einem Rezept leicht lösen. Du aber, du bist komplizierter, benötigst eine apparative Untersuchung und mehr. Du verursachst Kosten, du gehörst in die Ambulanz des Krankenhauses. Diese Sichtung nehmen selbstverständlich die Kassenärzte vor. Die Idee hat allerdings einen Haken. Es werden viele KV Ärzte benötigt, auch an den Feiertagen und nachts. Die muss die KV erst einmal aufbieten. Und nicht jeder kennt sich mit jedem medizinischen Problem aus. Dann winkt er eben doch durch, ins Krankenhaus. So ist das, mit den Ideen. Festhalten an längst Überholtem löst keine Probleme.“

„Die gemeinsame Selbstverwaltung im Gesundheitswesen ist eine Farce. Ein Kräftespiel. Wer bewegt die größten Hebel? Du hast völlig Recht, Jakob. In diesem Spiel werden die Patienten zum Vorteil der Player bedenkenlos benutzt. Hier noch so ein Beispiel. Ihre Machtposition spielen die Kassenarztfunktionäre, gegenüber den Krankenhäusern, ohne Skrupel aus. Zum Beispiel dadurch, dass sie bestimmen, ob Krankenhausärzte mit einer speziellen Qualifikation, Patienten ambulant behandeln dürfen. Dazu benötigen die Ärzte im Krankenhaus eine Ermächtigung. Die Ermächtigung erteilt ein Ausschuss, in dem Funktionäre der KV und der Krankenkassen vertreten sind. Den Antrag zur Ermächtigung stellt der Krankenhausarzt im Einvernehmen mit dem Geschäftsführer des Krankenhauses. Wo immer es irgendwie begründbar ist, wird der Antrag der Krankenhausärzte abgelehnt. Die Kassenärzte wollen auf Biegen und Brechen verhindern, dass in den Krankenhäusern besonders qualifizierte Ärzte Patienten anziehen. Ihrer Meinung nach könnten diese Patienten auch in einer KV Praxis neben dem Krankenhaus behandelt werden. Im Einzelfall kann das so aussehen. Ein Gefäßchirurg im Krankenhaus hat eine neue OP Methode erlernt und eingeführt. Er stellt den Antrag, Patienten mit Gefäßproblemen im Krankenhaus ambulant beraten zu dürfen. Weil im Umfeld des Krankenhauses ein oder zwei KV Ärzte schon seit Jahren eine Gefäßpraxis betreiben, wird der Antrag abgelehnt. Es könnte ja sein, dass in Zukunft alle Patienten mit Durchblutungsstörungen zu dem Krankenhausarzt gehen. Mit dieser Verhinderungspolitik werden den Patienten moderne Behandlungsmethoden vorenthalten. Um den Anschein der Objektivität vorzugaukeln, werden winzige Teilgenehmigungen gewährt. Das Diktat der KV besitzt ein hohes Maß an Verhinderungsmedizin.“

„Wissen das die Patienten?“

„Hast du es gewusst, Jakob?“

„Nein, ich nicht. Als Patient muss man sich schon sehr dumm vorkommen, wenn man in einer Notsituation gefragt wird, was man hier will.“

„Du hast Recht“, antwortet José. „Stell dir vor, du hast Bauchschmerzen, gehst ins Krankenhaus und wirst gefragt, was du hier willst. Du bist falsch, wird dir gesagt. Du musst zuerst in die Notfallpraxis der KV gehen.“

„Also gehst du in die kassenärztliche Notfallpraxis und die Fragerei geht von neuem los. Am Ende musst du wieder ins Krankenhaus, weil nur dort zusätzliche Untersuchungen möglich sind.“

„Das ist doch absurd, oder nicht?“, sagt José.

„Völlig absurd.“

Um einige Erkenntnisse reicher fährt Jakob in seine Wohnung und schaltet erst einmal ab. Später sieht er sich einen Film an und telefoniert mit Isabell. Die schwärmt, wie jedes Mal, von ihrer Tour mit Lara. Sie hätten die gestellten Aufgaben fast in der vorgegebenen Zeit erfüllt. Zwar nur fast, aber eben doch. Isabells Begeisterung, für Touren mit dem Porsche, kennt offensichtlich keine Grenzen.

Die folgenden Tage im Ministerium sind hart für Jakob. Das Team bereitet die letzten Details der Chinareise des Ministers vor. Die Assistenten der begleitenden CEOs kommen ins Ministerium und sprechen Vertragswerke ab. Es geht auf den diplomatischen Kanälen hin und her. Videokonferenzen mit der Botschaft in Peking, mit chinesischen Firmenrepräsentanten und Regierungsmitgliedern. Der hauseigene, chinesische Dolmetscher ist omnipräsent und sichtbar angespannt. Er protokolliert jedes Gespräch zweisprachig und überschlägt sich förmlich mit seinen Bedenken und Ratschlägen. Offensichtlich müssen die Beamten noch Einiges dazulernen, im Umgang mit den Chinesen. Zumindest ihr Dolmetscher sieht das so. Sie hätten die asiatische Mentalität immer noch nicht verstanden. Die asiatische schon, entgegnet Jakob. Nicht aber die chinesische.

Die Zeit, die er mit Isabell verbringen kann, ist knapp. Wenigstens schaffen es beide mal wieder zu einem gemeinsamen Abendessen. Isabell hatte ein chinesisches Lokal vorgeschlagen, was Jakob als schlechten Scherz abtut. Das Chinesische habe er im Überfluss, Italien läge ihm jetzt viel näher. Kein Problem für Isabell, die umgehend versichert, sowieso einer Empfehlung Folge leisten zu wollen. Schon beim Betreten des Italieners schlägt ihnen Sympathie entgegen. Das Interieur ist erfreulich schlicht gehalten. Die Speisekarte enthält Gängiges und extra Tagesangebote. Isabell entscheidet sich für Wildfang Garnelen, Jakob für Saltimbocca alla Romana. Pasta hatte er zuletzt bei Tom gehabt.

„Bist du weiterhin auf dem Gesundheitstrip?“, will Isabell wissen. „Ist der Weg gangbar?“

„Während du mit Lara unterwegs warst, habe ich mit José über die Kassenärztlichen Vereinigungen gesprochen. Das weißt du ja bereits. Die Hilflosigkeit der KV, die Rund-um-die-Uhr Betreuung von Notfall Patienten zu managen, ist eine Bankrotterklärung der Selbstverwaltung.“

„Das Thema ist allgegenwärtig. Wir haben es in der Redaktion auch auf dem Schirm. Im Augenblick sind andere Themen bei uns vorrangig.“

„Das sehe ich nicht so. Auf deiner Plattform würde die Notfallbehandlung der Patienten einen breiten Zuspruch finden. Es kann jeden von uns treffen, vergiss das nicht.“

„Soll das eine Anspielung auf meine Fahrten mit Lara sein? Einen Autounfall kannst du auch haben.“

„Keine Anspielung, ganz pauschal, es ist eine Situation, die nach Lösungen ruft.“

„Die du bereits hast“, antwortet Isabell mit neckischem Blick.

„Mich reizt die Lösung. Es klingt vielleicht komisch, aber ich denke, dass ich angebissen habe.“

„Da werden sich deine Freunde aber freuen.“

Als Staatssekretär im Ministerium, egal welchem, erhält man stapelweise Akten. Für andere produziert man selbst welche. Es ist eine besondere Kunst, sich durch die Papierberge durchzuarbeiten. Jeder hat sei eigenes System. Vollumfänglich lesen geht nur ausnahmsweise. Die verfügbare Zeit, das Interesse, die Dringlichkeit und vor allem die Verantwortung bestimmen die Intensität des Aktenstudiums. Welches auch noch belegt werden muss. Signiert mit der eigenen Unterschrift. Nur lesen und weitergeben reicht nicht. Dokumentieren und mit Bemerkungen versehen, ist obligat. Aus mehrerlei Gründen. Und dann noch die Mails. Eine Voraussichtung erledigen zwar die engsten Mitarbeiter, die Brisanz der Inhalte schätzen sie aber nicht immer richtig ein. Zu behaupten, man hätte die Mail nicht erhalten, ist kein Argument. Schon eher eine Steilvorlage für den politischen Gegner.

Jakob sichtet wie jeden Tag die umfangreichen Mails. Spam haben seine Mitarbeiter bereits aussortiert. Bei einer sind sie sich nicht sicher und bitten ausdrücklich um seine eigene Bewertung. Es ist eine Mail von Tom, mit zwei Anhängen. Jakob liest.

Hi Jakob, dein Nachmittag mit José war wohl erkenntnisreich. Wie ich höre, hast du bereits jetzt eigene Ideen zur ambulanten Notfallbehandlung. Du hast dich also reingefunden. Sei mir bitte jetzt nicht böse. Wir haben vereinbart, keine weiteren Papiere von Bernd. Nur einmal noch. Der Ball muss rollen. Bernd hat mir zwei Kurzfassungen geschickt. Zugegeben auf meine Bitte hin. Schlucks runter und lies es. L.G. Tom.“

Jakob hätte Tom an die Wand genagelt. Wäre er genau jetzt vor ihm gestanden. Tom ist bei allen für sein dynamisches Handeln bekannt. Aufschieben, unerledigt lassen, das ist ihm höchst zuwider. Diese Eigenschaft hat ihm zu seiner jetzigen Position verholfen. Zum ersten Mal empfindet Jakob einen bis dahin nicht gekannten Zug an Tom: Aufdringlichkeit. Unter Freunden hält man an Vereinbarungen fest. Keine weiteren Papiere lautet die Abmachung. Gespräche, Treffen, Verabredungen, das ja. Aber jetzt die Aufforderung, wieder zwei Anhänge zu lesen. Und dann noch etwas. Woher weiß Tom von dem Treffen mit José? Wer hat wen angerufen? Was geht hinter seinem Rücken vor? Jakob sieht erst einmal die anderen Mails durch. Dann ist die Neugier doch zu groß. Er öffnet den ersten Anhang und liest.

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