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4. Grenzen des Verstehens

a) Die Wut des Verstehens

Kritik an hermeneutischen Totalitätsansprüchen

Schleiermacher, der Wegbereiter der modernen Hermeneutik, wußte auch um ihre Gefährdungen. In der dritten seiner Reden über die Religion (1799) warnte er vor der „Wuth des Verstehens“, durch welche der Mensch daran gehindert werde, seine religiöse Anlage, von der Schleiermacher ausging, unverbildet entwickeln zu können (102: 120). Jochen Hörisch hat diese Redewendung aufgegriffen und zum Motto einer grundlegenden Kritik der Hermeneutik gemacht (30). Diese wendet sich gegen die Allmachtsphantasien einer Hermeneutik, die alle Wirklichkeit ihren universalen Auslegungsregeln glaubt unterwerfen zu können und einen Totalitätsanspruch der Verstehbarkeit erhebt, der seinem Wesen nach totalitär ist.

Hermeneutik ist, wie Marquard argumentiert, die Antwort auf die Erfahrung der Endlichkeit. Wo Hermeneutik aber nicht ihre eigene Endlichkeit, d. h. aber die Fragmenthaftigkeit und Vorläufigkeit des Verstehens ausblendet, macht sie sich anheischig eine Sinntotalität zu postulieren, die den Geltungsansprüchen metaphysischer Letztbegründungstheorien in nichts nachsteht, aus deren fundamentaler Krise die moderne Hermeneutik hervorgegangen ist. Auch kontextuelle Theologien sind, wie wir gesehen haben, nicht gegen die Wut des Verstehens gefeit.

Es gehört nicht nur zu den Alltagserfahrungen, daß unser Verstehen an Grenzen stoßen kann. Vielmehr muß der Versuch des Verstehenwollens sich selbst Grenzen setzen, soll nicht der Andere, soll nicht das Fremde seiner Eigenständigkeit und seines Eigensinns beraubt werden. Alle hermeneutischen Versuche der Aneignung des Fremden stehen in der beständigen Gefahr seiner Einverleibung und damit seiner Zerstörung.

Kontingenzerfahrung und Theodizeeproblem

Theologisch betrachtet meldet sich in den Erfahrungen von Kontingenz, des Sinnwidrigen und des Absurden das Theodizeeproblem. Die Wut des Verstehens ist der verzweifelte Versuch, diesem Problem zu entkommen. Die moderne Hermeneutik versucht die Theodizeefrage wenn schon nicht zu beantworten, so doch zu kompensieren. Darin besteht eine ihrer Zweideutigkeiten. Nach theologischer Auffassung verweist die Theodizeefrage auf den eschatologischen Horizont des christlichen Glaubens. Eschatologie als Lehre von der endgültigen Versöhnung verweist auf eine Vollendung, die der Mensch von sich aus nicht leisten kann, sondern einzig von Gott erhoffen darf. Sie unterzieht jedes Einheitsdenken, welches Identität als Leistung der menschlichen Vernunft, sei es der theoretischen oder der praktischen, auffaßt, einer radikalen Kritik. Theologische Hermeneutik ist daher eine Absage an den „Traum der totalen Vermittlung, an deren Ende sich die Reflexion wiederum mit der intellektuellen Anschauung gleichstellt in der Transparenz für sich selbst als ein absolutes Subjekt“ (203: 251). Es ist die Eschatologie, welche es der Hermeneutik ermöglicht, sich selbst zu relativieren (62: 136ff., 201ff.). Darin liegt ein wesentlicher Beitrag der Theologie zum hermeneutischen Diskurs.

Theologie beginnt nicht mit dem Sein Gottes, sondern mit seinem Strittigsein (164: 169ff.). Strittig ist Gottes Existenz ebenso wie seine Güte und seine Gerechtigkeit. Mit dem Strittigsein Gottes aber verbindet sich die Strittigkeit des Menschen und seiner Existenz. Nach christlichem Verständnis sind Gott und Mensch gemeinsam dem „Konflikt der Interpretationen“ (Ricœur) ausgesetzt. In diesem Sinne ist eine theologische Hermeneutik, welche die Theodizeefrage offenhält, statt sie durch ein Identitätsdenken stillzustellen, eine Konflikt- und Kontroverswissenschaft (62: 17). Das hermeneutische Machtstreben wird in ihr durch die Ohnmacht des Gekreuzigten konterkariert.

Das hermeneutische Problem der Macht

Schon Nietzsche erkannte das Machtförmige aller Hermeneutik, als er schrieb: „Der Wille zur Macht interpretirt“ (F. Nietzsche, KGW VIII, 1, Fragment 2 [148], 137). Hörisch knüpft daran an, wenn er erklärt, hinter den unterschiedlichen Interpretationen stünden „unterschiedliche Formen des Willens zur Macht. Die vereinheitlichende Wut des Verstehens will, indem sie Texte liebedienerisch-herrisch bis zur Unkenntlichkeit überschreibt und umschreibt, ein geistiges Zentrum errichten, das alle ,Großen dasselbe sagen‘ (Emil Staiger) und kleine Geister erst gar nicht mitreden läßt“ (30: 76f.). Mit imperialem Gestus nehme der Hermeneutiker vom Text Besitz; „wer interpretiert, will Herr über den interpretierten Text werden“ (30: 76).

Postmoderne Kritik, welche den Text vor den Bemächtigungsversuchen der modernen Hermeneutik zu schützen versucht, läßt nicht nur ein ethisches, sondern auch ein religiöses Motiv erkennen. Das ethische Motiv besagt, daß das Bemühen um Werktreue, der Versuch der Interpretation, dem Werk zu dienen, oder die Autonomie des Werkes zu achten, zu einer Praxis des guten Willens gehört (22: 10). Religiöse Motive aber werden erkennbar, sofern z. B. Texte der Dichtung unter Rückgriff auf die Kategorie des Erhabenen als Manifestation eines Heiligen und „Unberührbaren“ (Derrida) rekonstituiert werden. „Kundgaben aber“, so Hörisch, „sind vor Interpreten und vielen Übermittlern zu schützen“ (30: 24).

Erkennbar sind beide Motive der Christentumskritik Franz Overbecks. Für ihn besteht die Aufgabe des Exegeten, die neutestamentlichen Texte „gegen die Akte ungewaschener Subjektivität ihrer Ausleger zu schützen“ (95: 76). Die Wut des Verstehens sieht Overbeck freilich nicht nur in der kirchlichen Tradition allegorischer Schriftauslegung, sondern auch noch in der historisch-kritischen Exegese am Werke, welche sich wie die vorneuzeitliche Bibelauslegung nicht damit abfinden will, daß das wahre Christentum schon längst untergegangen ist. Overbeck bezeichnet die Schriften des Neuen Testaments als „Urliteratur“, die das Zeugnis einer mit dem Ausbleiben der Parusie Christi unwiderruflich vergangenen Urgeschichte sind. Mit der Kanonbildung habe die Kirche dem wahren Christentum den Totenschein ausgestellt (96: 29). Ein wirkliches Verstehen der neutestamentlichen Schriften sei gar nicht mehr möglich. Die sie kanonisierende Kirche aber bzw. „die Nachwelt hat darauf verzichtet, sie zu verstehen, und sich vorbehalten, sie auszulegen“ (95: 24). Für Overbeck repräsentieren die Schriften des Urchristentums letztlich den abwesenden Gott des christlichen Glaubens. Die Pietät gegenüber diesen Dokumenten des unwiderruflich verloren geglaubten Christentums ist ein letzter Akt der Frömmigkeit eines Mannes, der seinen Glauben verloren hat.

Einführung in die theologische Hermeneutik

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