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2.4. Das Ich als Individuum oder die Einübung einer folgenreichen Illusion

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Die elementare biologische Selbsterhaltung des Menschen ist vermittelt durch diese merkwürdige Ausbildung einer Identität, die dadurch zustande kommt, daß man sich mit bestimmten Gruppennormen identifiziert.

Jürgen Habermas 63

„Ein von der Gesellschaft unabhängiges Ich gibt es nicht. Alle menschlichen Entscheidungen setzen sich mit Gesellschaftlichem auseinander.“64 Einschlägige neuere Untersuchungen zum Thema weisen zu Recht darauf hin, daß sie in der Vergangenheit und Gegenwart den jeweiligen sozialen, politischen und kulturellen Kontext berücksichtigen müssen.65 Am Anfang war das Wir und ist es wohl heute noch. Die mit den faschistischen und sozialistischen Ideologien verbundenen mörderischen kollektiven Neurosen des 20. Jahrhunderts fanden auch und gerade in jenem Europa statt, das auf seine Überzeugungen vom Wert des Individuums und der Menschenrechte so stolz ist. Und Bert Brecht bezeichnet in seinem 1941 entstandenen Theaterstück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ den Aufstieg des Polit-Gangsters Hitler-Ui ironisch als „aufhaltsam“ und weiß im Epilog für die Zukunft doch klarsichtig pessimistisch: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“66

Betrachtet man indessen die politischen Geschehnisse auch in den außereuropäischen so genannten Wir-Kulturen, ist das nicht wesentlich anders.67 Offenbar handelt es sich um ein allgemeines, zeitloses anthropologisches Phänomen; und europäische Überzeugungen vom Wert des Individuums und so genannten Menschenrechten werden in Krisenzeiten allenfalls von Minoritäten geteilt, die häufig dann als Dissidenten in Lagern verschwinden und riskieren, ihr sehr individuelles Leben zu verlieren. Und dennoch scheint es sie zu geben – die deutlichen Unterschiede zwischen Individual- und Kollektivgesellschaften; und die ersteren sind tatsächlich im Kontext einer christlichen europäischen Kultur entstanden, welche in ihren säkularen Folgen – Industrialisierung und Ökonomie – noch bis heute weite Teile der Welt beeinflußt.

Wort und Begriff „individuum“ findet man bereits in lateinischen Texten des frühen und späten Mittelalters, es bedeutet zunächst nichts Anderes als „unteilbar“ im Sinne des griechischen „atomos“; insofern ist auch jeder Mensch zunächst nur ein „Einzelding“, weit entfernt von einem personalen Ich, wie es Sigmund Freud im 19. und 20. Jahrhundert zu analysieren versucht. Vielfach hat man den Beginn einer Entwicklung zu einem seiner selbst bewußten Ich in den „Confessiones“ des Augustinus68 gesehen: Er war um das Jahr 500 Bischof im nordafrikanischen Hippo Regius. Seine Wendung nach innen, die Konzentration auf Schuld und Rechtfertigung, bedeuteten einen Bruch mit dem antiken Rezept praktischer Philosophie. Die harmonische Einpassung des Menschen in das Weltganze war von nun an schwieriger oder sogar unmöglich: Der einzelne war in seiner Heilssorge auf sich selbst verwiesen.69 Statt der für die antike Philosophie charakteristischen Art, von Gott in der dritten Person zu reden, kommt es nun zur ‚subjektiven‘, durch das Christentum bestimmten Wendung, die die Selbst- und Gotteserkenntnis aus der religiösen Lebensbeziehung von Ich und Du hervorgehen läßt.“70

Dennoch war Augustinus, was die Entwicklung einer europäischen Ich-Kultur betrifft, im wahren Sinne des Wortes nur ein Vorläufer. Es währte noch mehr als 600 Jahre, ehe seine Theologie des menschlichen Sündenfalls mit ihrer Wendung ins Innere in der europäischen Christenheit ihre ganze zivilisatorische Kraft entfaltete. Erst seit dem 11. und 12. Jahrhundert, als mit dem Beginn der Gotik Christus ikonographisch zum „crucifixus“ wurde, als der Gott der Christen im großen Schisma von Diesseits und Jenseits aus der Immanenz gleichsam in die Transzendenz vertrieben wurde, beginnt ein Prozeß zu wirken, in dem die zunächst vorwiegend äußerlichen Normen verinnerlicht wurden.

Angesichts der chaotischen Zeitläufte im Europa des 10. bis 13. Jahrhunderts war in der Tat Stabilität nur im Jenseits zu erhoffen, ein wesentlicher Grund der Vertreibung Gottes in die Transzendenz: Der nicht mehr „natürlich“ anwesende Gott mußte von nun an gesucht werden, „horizontal“ im Heiligen Land (Kreuzzüge) und in der Utopie des Heiligen Grals (Wolframs „Parzival“), „vertikal“ im Himmel (Bauweise der gotischen Kirchen). Die für das Frühmittelalter charakteristische „stabilitas loci“ wurde damit aufgehoben; die von nun an notwendige Suche nach Gott generierte die Begriffe von Weg und Ziel71; damit aber ging auch die erlebte Gegenwart verloren, vordem symbolisiert im kreisförmigen Tisch der Artuslegende – Zeitempfinden und Zeitdenken waren von nun an in eine Zukunft gerichtet, die realiter niemals zur Gegenwart werden konnte. Christliches Denken mündete so viele Jahrhunderte später in die Ideologie des Fortschritts, der säkularen Tochter christlicher Eschatologie.

„Erkenne dich selbst“ („Cognosce te ipsum“) ist der Titel eines der Hauptwerke des wichtigsten Philosophen des 12. Jahrhunderts, Petrus Abaelardus. Die Aufforderung wird zur Maxime der monastischen Reformbewegung des 12. Jahrhunderts; in einer dem frühmittelalterlichen Mönchstum unbekannten Weise wird hier eine tiefere Introspektion, eine vom Sündenbewußtsein geprägte Beschäftigung mit dem eigenen Ich gefordert und gefördert72: eine neue Einstellung, welche nicht nur die geistliche, sondern auch die weltliche Literatur der folgenden Jahrhunderte prägen wird.73

Das 12. Jahrhundert ist auch die Zeit der ersten großen Ketzerbewegungen. Durch die alle Katholiken verpflichtende Einführung der individuellen Beichte beim IV. Lateranum 1215 versucht die Kirche, auch anläßlich der bedenklichen Abwanderung ihrer Mitglieder zu verschiedenen ketzerischen Strömungen, das Denken der Gläubigen einer eingehenderen Kontrolle zu unterwerfen; und die anfängliche Kontrolle des äußeren normengerechten Verhaltens entwickelt sich bald zur Gewissenserforschung, zu der vom Hochmittalter an die „Heilige Inquisition“ mit den uns aus naher politischer Vergangenheit immer noch vertrauten Mitteln der Bespitzelung, Aufforderung zur Denunziation, Folter und Mord beflissen und „ad majorem Dei gloriam“ beiträgt.

Schon Kaiser Konstantin, welcher im 4. Jahrhundert das Christentum zur Staatsreligion erklärte, hatte mit schwerwiegenden Konsequenzen den absoluten Wahrheitsanspruch der Kirche verinnerlicht, politische Macht und Frömmigkeit sollten ineinander übergehen. „Jede Meinungsabweichung, jeden Widerstand gegen die Kirchenautorität wird der Herrscher jetzt als Häresie oder Schisma unterdrücken.“74 Bereits im Jahre 1022 hatte Papst Benedikt VIII. das Zölibat verkündet, das alle Priester zur Ehelosigkeit verpflichtete und Zuwiderhandlungen mit kirchenrechtlichen Strafen belegte. Und den Himmel mußte man sich auf Erden verdienen: u.a. durch sexuelle Enthaltsamkeit.

Schon Bischof Augustinus, der als Bekehrter seine Geliebte verstieß, um ihr Du durch Gott zu ersetzen, wurde durchaus zu dem, an den Nietzsche gedacht haben mußte, wenn er meinte, das Christentum habe dem Eros Gift zu trinken gegeben.75 Mit der Verkündigung des Zölibats war 600 Jahre später die Saat aufgegangen: die Vergiftung der Sexualität durch das Christentum. Jesus Christus, obwohl als sterblicher Mensch geboren und gestorben, durfte dann folgerichtig nur einer „unbefleckten“ Empfängnis seiner Mutter entstammen: Und in der Beichte erkundigten sich ehelose Priester gelegentlich detailgenau, ob, mit wem und wie ihr Beichtkind „Unzucht“ getrieben hatte.

Individualität, bzw. das Bewußtsein von der eigenen Person, ist wesentlich das Produkt einer sozialen Erziehung, wobei zunächst äußerliche gesellschaftliche Normen in einem längeren Prozeß verinnerlicht werden.76 „Die Beichte verlangte eine Schulung darin, sich mit sich selbst zu beschäftigen und darüber mit anderen zu sprechen“77. „Die Einübung in ein Selbstverständnis im Sinne personaler Kontinuität und der beständigen Zuweisung begangener Handlungen zum eigenen Ich war (…) auch eine Überprüfung der eigenen aktuellen und zukünftigen Handlungen daraufhin, ob sie den Forderungen der christlichen Moral, sprich des Gewissens, entsprächen“78. Nach wie vor war jedoch das in dieser Entwicklung entstehende europäische Ich eingebettet in ein Wir, zunächst das Wir der christlichen Gemeinde79, insbesondere in Notzeiten jedoch gegebenenfalls auch in ein „Herden“-Wir80, wenn es um Schuldzuweisungen an andersartige Minderheiten ging, z.B. den Juden, mit oftmals daraus folgenden blutigen Pogromen.

Das europäische Ich

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