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Einleitung

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Das Ich im europäischen Kontext hat Konjunktur – in Medien, Vortragsprogrammen und Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt – und nicht nur verspätete Post-moderne konstatieren seine angebliche Dekonstruktion. Das Attribut europäisch im Titel des Buches betrifft auch vom geografischen Europa entfernte Länder, in welche seiner Zeit Kolonialisten und Christen ihre kulturellen Wahrheiten1 exportiert haben; zunächst ging es um Gold und Gott, nach dem 17.und 18. Jahrhundert war dann auch vom Humanismus, Liberalismus und den Menschenrechten die Rede. Wenn indessen heutzutage westliche Diplomaten Autokraten in der Türkei, Afrika und Asien an westliche Werte wie Demokratie und Menschenrechte erinnern, ernten sie in der Regel gerade noch ein höflich ironisches Lächeln. Die Zeiten, in denen so genannte europäische Ich-Kultur kraft tatsächlicher wirtschaftlicher und imaginierter moralischer Überlegenheit außereuropäischen Wir-Kulturen ihre Werte predigen konnte, sind im Schwinden.

Von der angeblich postmodernen Dekonstruktion des Ichs ist im Buch kritisch die Rede, und die These ist, daß das Phänomen multiples oder instabiles Ich nachgerade zirka 800 Jahre alt ist und die Ambivalenz und Komplexität des angeblich modernen oder postmodernen Ichs bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts in einem literarischen Zeugnis deutlich wird: zu Beginn des Epos Parzival von Wolfram von Eschenbach, in dem für seine Epoche neuen Wort Zweifel und dem folgenden Elsterngleichnis, einer Metapher der moralischen Schwarz-Weiß-Ambivalenz des Menschen; siehe die Kapitel 2 und die folgenden des Buches.

Nach dem und im Untertitel des Buches hätte statt multiple Ichs auch Menschen ohne Eigenschaften in der Literatur stehen können. Die gedankliche Verbindung zu Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften liegt nahe, wobei wir das Wort Mann auch als Mensch im Sinne des englischen mankind lesen dürfen. Es sind die auch von Musil benannten so genannten Eigenschaften, die, wenn auch nur als Illusion, ein lebensfähiges Ich bilden und die, wenn auch mainstream-begrenzt, vielleicht noch eine gewisse Freiheit des Denkens gewähren. Ein Übermaß an Eigenschaften aber läßt den letzten freien Gedanken zur Überzeugung erstarren. Das Ich wird damit zum Gläubigen im Schutz (oder Gefängnis?) der (möglichst fensterlosen) festen Burg, die unser Gott ist, und von der Luthers Lied erzählt.2

Die vollkommene Eigenschaftslosigkeit würde indessen einer absoluten Freiheit des Denkens entsprechen, d.h. dem Nichts und damit auch dem physischen Tod. Das Kapitel 6.1. handelt Vom Ich-Verlust eines Mittlers – Pierre Mertens Les bons Offices, einem der wichtigsten frankophonen Romane des letzten Jahrhunderts. Die Hauptfigur trägt den vielsagenden Namen Paul Sanchotte, eine Verbindung von SANcho Pansa und Don QuiCHOTTE. Als Mittler zwischen zwei feindlichen Parteien arbeitet er jeweils empathisch mit einem anderen Ich. Als Familie und Haus als einzige ihn noch lebensfähig erhaltende Bindung verlorengehen, folgt seine Auflösung im Sand der Wüste, im Nichts.3

Auch Musils Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, weiß, daß er den Freiheiten eines Möglichkeitssinns doch ein Minimum an Wirklichkeitssinn hinzufügen muß, um lebensfähig zu bleiben; schon der Name Ulrich ist dazu ein Beginn, denn ein persönlicher Name ist eine wichtige Eigenschaft im Miteinander der Menschen; in den Kapiteln 2.3. und 2.4. ist davon die Rede.

Ist zwîvel herzen nachgebûr daz muoz der sêle werden sûr: Die aus beständigem Zweifel entstehende Freiheit des Denkens muß das Gemüt belasten. Die Anfangszeilen von Wolframs Epos erwähnen damit zugleich die Angst, welche mit einer weitgehenden Eigenschaftslosigkeit bzw. Freiheit des Denkens notwendig verbunden ist. Dies scheint uns das erste literarische Zeugnis jener Melancholie zu sein, welche in den folgenden Jahrhunderten alle wichtigen europäischen Dichter und Künstler und Denker notwendig begleiten wird, bis zur tristesse, dem ennui und spleen der Romantiker und heutigen Depressionen – mit allen wunderbaren und zugleich oft traurigen Folgen. Davon ist insbesondere im Kapitel 9.2. die Rede: Melancholie oder die gefährliche Einsamkeit des Denkens.

Das Ich und damit auch die oben erwähnten Ideen und Werte sind im Weltvergleich ein europäischer Sonderfall. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts mehren sich die Stimmen außereuropäischer Kritik an der Überheblichkeit des Westens, damit alle Welt missionieren zu wollen. Ein Beispiel neben vielen anderen ist der Philosoph und Bioethiker Godfrey Tangwa (Universität Yaounde, Kamerun): Es sei ein Merkmal der westlichen Ethik zu glauben, sagt er, sie funktioniere losgelöst von den Glaubenssätzen und Bräuchen ihrer Gesellschaft.4 „In Afrika stehe das Zusammengehörigkeitsgefühl im Zentrum – nicht wie im Westen das Individuum. Dem Westen klarzumachen, daß seine Ich-Kultur nicht wie ein Teekannenwärmer der Wir-Kultur übergestülpt werden kann, ist Tangwas wichtigste Mission. Er verlangt nur, daß der Westen nicht immer rede, sondern auch mal zuhöre und Afrika als ebenbürtigen Partner in bioethischen Fragen betrachte.“5 Die Kapitel 2.2. und 2.3. widmen sich den unterschiedlichen Bedingungen eines Ichs in der Ich- und in einer Wir-Kultur.

Wie und wann aber sind dieses seltsame Ich und seine europäische Kultur entstanden? Die katholische Kirche definiert das Ich im Zusammenhang mit der Idee des Individuums und seiner individuellen unsterblichen Seele; sie betreut, fördert und bewacht es insbesondere seit der 1215 durch Papst Innozenz III. als Dogma eingeführten individuellen Ohrenbeichte. Man hatte vor 1200 und um die Wende zum 13. Jahrhundert mit den anwachsenden Ketzerbewegungen schlechte Erfahrungen gemacht, und die in den ersten christlichen Jahrhunderten übliche kollektive Beichte war längst keine ausreichende Kontrolle mehr darüber, daß, warum und wie einzelne Schafe die Herde der Gläubigen und ihren Hirten verließen. Die kirchliche Ichpflege gibt es, wenn mittlerweile auch ohne Inquisition, bis in unsere Zeit – und dies auch mit begleitenden und säkularen Folgen.

Zu den säkularen Folgen gehört die Einführung der Zeit als Ordnungsfaktor, notwendig entstanden als Reaktion auf die teilweise chaotischen Veränderungen bisheriger politischer und sozialer Strukturen und in Verbindung mit dem seit der Gotik wichtigen eschatologischen Denken, in linearer Zielrichtung zur bevorstehenden Wiederkehr Christi und dem Jüngsten Gericht. In den westlichen Ländern ist die neue Zeitordnung dann auch eine notwendige Voraussetzung für Wissenschaft und Industrialisierung. Die spätere Ideologie des Fortschritts war eine säkulare Tochter eschatologischen Denkens, wohingegen in den Verhaltensweisen und Sprachen der so genannten Wir-Kulturen die Zeit differenzierende Vokabeln wie Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft oder Werte wie Pünktlichkeit, Eile und Fleiß Fremdworte waren und trotz Globalisierung meist bis heute blieben.6 Ein Europäer ohne Kenntnis und Empathie wird dies, den kulturellen Kontext Indiens oder Afrikas betreffend, meist abwertend verstehen.

Erstaunlich aber ist, wenn auch nur auf den ersten Blick, ein durch die Jahrhunderte deutlicher paralleler Zweifel in der europäischen Literatur, Kunst, und Philosophie an der Stabilität und sogar am Vorhandensein eines individuellen Ichs; und dies ist ebenfalls nachweisbar seit dem Beginn der Gotik und in folgenden Jahrhunderten. Ein Beispiel neben vielen anderen, denen dieses Buch besondere Aufmerksamkeit widmet, ist eine Äußerung des Autors Martin Walser in der Festrede über Hölderlin und seine Krankheit (1970); er bestreitet, daß Hölderlin ein Ich habe – oder „nur soweit, als es ihm von außen versichert wurde. Er mußte sich in anderen erfahren. Das muß jeder. Das Individuum ist eine glänzende europäische Sackgasse.“7 Und, wie gesagt, Walser hatte mit dieser Meinung Nachfolger und Vorgänger, letzteres nicht nur im schottischen Aufklärer David Hume, der u.a. in seinem kritischen Essay Über die Unsterblichkeit der Seele (1777) wieder einmal die katholische Kirche herausfordert, welche prompt seine sämtlichen Schriften auf den Index setzt. Hierzu auch die auf Kapitel 2 folgenden Abschnitte.

Nicht umsonst bezeichnet sich bereits im 17. Jahrhundert der Romancier Christopher von Grimmelshausen als Apophtegmatiker, d.h. als einer, der (wie im 18. Jahrhundert Georg Lichtenberg) den Sinn in einzelnen Geschichten findet, die wie im Roman Simplicissimus beliebig kombinierbar sind. In lebenslangem Schreiben (wie nach ihm Marcel Proust und andere) verfaßt Grimmelshausen seine Simplicianischen Schriften und meidet darin, wie fast alle bedeutenden europäischen Romanciers, jene Linearität und Kausalität der Aussagen, welche die Dogmatik der katholischen Kirche seit dem großen Schisma unangreifbar zur Voraussetzung hat. Und Identität eines Autorenlebens entsteht dann erst in einem lebenslangen Schreiben als eine Art Selbsterschaffung (autopoiesis) in der Sprache, welche allein die Komplexität und das Chaos eines Lebens kommunizierbar formen kann; davon mehr im Kapitel 9.3.: Ein fiktives Ich – findet es Rettung in der Sprache der Dichtung?

Das Buch interessiert sich zum einen für das von der Kirche gepredigte und ein Ich stützende, seit der Gotik notwendige eschatologische d.h. lineare Denken in der Richtung eines Jüngsten Tages. Gemäß dieser Linearität wäre vielleicht eine zusammenhängende bis in unsere Gegenwart reichende Geschichte des europäischen Ichs zu erzählen, wenn nicht, wie gesagt, die große europäische Literatur der letzten acht Jahrhunderte ein ganz anderes, nennen wir es ketzerisches Bild der Materie abgäbe, so daß wir uns begnügen müssen, „mit dem Mittel der historischen Imagination Verbindungslinien auch zwischen weit auseinanderliegenden Ereignissen und Narrativen aufzudecken.“8 Und – methodisch interdisziplinär zu verfahren, d.h. Historiker, Soziologen, Psychologen, Neurologen, Philosophen, Literatur- und Sprachwissenschaftler nach ihrer Meinung zu befragen – am Ende des Buches vor allem auch Stimmen aus der zweiten Revolution der Naturwissenschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts; siehe die Kapitel zu 12. Neue Erkenntnisse der Naturwissenschaften.

Das Problem einer nur scheinbar linearen und kausal verbundenen Folge von Ereignissen betrifft indessen auch den Ablauf der europäischen politischen Geschichte, Religionsgeschichte, Kulturgeschichte und sät Zweifel in die Möglichkeiten objektiver sprachlicher Darstellung. Unser Kapitel 2.2. Von der europäischen Ich-Kultur und den Wir-Kulturen handelt davon und diskutiert als nachvollziehbar auch die Meinung des französischen Althistorikers Paul Veyne: „Europa ist nicht im Christentum angelegt, es ist nicht die Entwicklung eines Keims, sondern das Ergebnis einer Epigenese. Das Christentum übrigens ebenfalls. (…) Die Geschichte ist nicht finalistisch, außer in unseren rückwärtsgewandten Illusionen.“9 Und letztere vergleichen wir auch in den auf Kapitel 2 folgenden Abschnitten sowohl mit Parzivals nostalgischer Utopie im beginnenden 13. Jahrhundert als auch, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, mit den rückwärtsgewandten Illusionen einer Nation und einer Leitkultur.

Noch deutlicher aber fehlt die Linearität den Werken der europäischen Literatur- und Kunst. Erzählt werden kann in der Regel nur im Plural, d.h. in Geschichten, in oft austauschbarer zeitlicher Folge. Die so genannte Autobiografie in der klassisch populären Form meint oft irrtümlich, sie könne ein Leben objektiv berichten. Folgerichtig scheitert im beginnenden 19. Jahrhundert sogar jener Dichter und Romancier Jean-Paul, der so wunderbar mit multiplen und sich auflösenden Ichs zu spielen weiß, an dem immer wieder verschobenen und dann kurz vor seinem Tod doch noch unternommenen Versuch einer Selberlebensbeschreibung (1818/19), die zudem erst posthum als Buch erschien. Jede so genannte Autobiografie scheitert notwendig am Anspruch einer Objektivität, denn Erinnerung vollzieht sich immer nur stückweise und bildhaft und im Modus der Gegenwart; auch davon handelt das Buch, u.a. das Kapitel 10.5. Von der Kontinuität der Diskontinuität oder das realistische Chaos in Parallelgeschichten.

Tatsächlich entspricht dem chaotischen Verlauf und der Komplexität historischer Ereignisse oder eines nicht nur zeitgenössischen Lebens eher das, was der ungarische Autor Péter Nádas mit dem Titel seines Romans als Parallelgeschichten bezeichnet.Der Autor kommentiert die Struktur dieses 2005 in Ungarn und 2012 in deutscher Übersetzung erschienenen Buches, dem Chaos historischer und biologischer Abläufe gemäß, als Hypertext, gemäß verschränkten Zuständen der Quantentheorie. Hans Magnus Enzensberger charakterisiert diese in seinem Gedicht Identitätsnachweis als ein abwesend dasein. Eine Assoziation aus der bildenden Kunst wäre die Distanz zwischen dem Finger Gottes und dem Finger Adams in Michelangelos Creazione di Adamo in der Sixtinischen Kapelle: Eine Leere, die zugleich Fülle ist. Eine literarische Parallele wiederum ist Hilde Domins Nichtwort zwischen Wort und Wort, mit dem sie die Möglichkeit dichterischer Sprache beschreibt, aus der kreativen Leere eines zwischen Komplexes auszusagen, was für die Sprache als formender sozialer Kompromiß im Grunde nicht möglich ist. Die Kapitel dieses Buches, insbesondere 12., kommentieren diese und weitere Beispiele.

Die Entstehung des europäischen Ichs und seiner säkularen Illusionen und Folgen aber verortet es um das 10. bis 13. Jahrhundert und, wie schon angedeutet, im ersten literarischen Zeugnis, das uns in einer Art nostalgischer Utopie vom Gewesenen und Neuen Kunde gibt. Es ist, wie bereits erwähnt, Wolfram von Eschenbachs zwischen 1200 und 1210 entstandenes Epos Parzival. Darin findet der nach dem Zerbrechen der Artusrunde instabil gewordene Pseudoheld für sein inzwischen christlich geläutertes Ich am Ende die lange gesuchte Gralsgemeinschaft in der Gralsburg. Sie entspricht der viele Jahrhunderte später von Martin Luther im Lied besungenen festen Burg, die unser Gott sei.

Die erhofft feste Burg, welche ihm die sein neues Ich stützende Gemeinschaft der Gralsritter bieten soll, ist jedoch ihrerseits nur eine Metapher für die längst vergangene Einheit von Welt- und Gottesstaat, welche im Schisma von göttlicher und weltlicher Macht zerbrach. Unser Kapitel 2 über die Entstehung des europäischen Ichs berichtet davon. Und die folgenden unsere Gegenwart zu Beginn des 21. Jahrhunderts betreffenden Kapitel handeln von den durch Zukunftsängste verursachten und von Populisten geförderten neuen (und sehr alten) Sehnsüchten vieler Europäer nach den Mauern und fensterlosen festen Burgen von Nation, Leitkultur und sauberen Ethnien. Und den von der Mehrheitsmeinung abweichenden Dissidenten wie seinerzeit Sokrates wird dann ganz demokratisch von der Mehrheit wieder der Schierlingsbecher gereicht?

In der für Parzival nur als nostalgische Hoffnung festen Burg gibt es nämlich auch einige sein neues Ich gefährdende Fenster, durch die er den zwîvel entdecken kann und muß, mit dem sein Alter Ego, der Autor Wolfram, sein Epos beginnt: Ist zwivel herzen nachgebûr … Zweifel? Dies bedeutet doch zugleich eine neue Freiheit des Denkens, daß nämlich das, was anscheinend Faktum ist, vielleicht auch anders sein könnte. Es kann im Extrem zu einem Denken werden, das lebensnotwendige Bindungen löst und dann sogar in die Ein-samkeit des Nichts führt. Das Buch kommentiert dies an Beispielen aus der Literatur in den Kapiteln unter 9. Das Ich und die Versuchung und das Risiko der Freiheit.

Der am Ende des 12. Jahrhunderts für die Kirche und die Gläubigen längst schon sehr menschliche und individuelle Christus am Kreuz, welcher auch in den kirchlichen Darstellungen den der Natur immanenten Weltenherrscher (Pantokrator) im Goldgrund abgelöst hat, weiß um dieses Nichts, wenn er in seinen letzten Worten ausspricht, daß ihn das sein Ich bislang stabilisierende und im wahren und positiven Sinne des Wortes ihm eingebildete Du Gottes verlassen hat: Mein Gott, warum …

Angesichts der um die Wende zum 13. Jahrhundert vor allem in Mitteleuropa heillosen sozialen und politischen Zustände hatte die römische Kirche bis zu der Zeit Wolframs und Walthers von der Vogelweide schon zunehmend Probleme, den Gläubigen einen der Welt immanenten Gott zu vermitteln. Walther von der Vogelweide, ein Zeitgenosse Wolframs, klagt in seinem vielzitierten Reichston: untriuwe ist in der sâze, gewalt vert ûf der strâze. Gott muß daraufhin die Welt verlassen und sie dem eigentlichen Fürst dieser Welt, dem Teufel10 überlassen.

Mit dem Anlass des Schismas, der Trennung kirchlicher und weltlicher Gewalt, verabschiedet der Gott der Christen sich in ein fernes Jenseits alias Transzendenz, von dannen er zwar als Christus wiederkommen wird zu richten …, zunächst aber als unmittelbarer Gesprächspartner für Menschen, einschließlich dem cucifixus, nicht mehr zur Verfügung steht. Es sei denn – und davon spricht der Prolog dieses Buches – die Menschen bauen ihm ein Gotteshaus, das den Undefinierbaren so definiert und begrenzt, daß er mittels seines priesterlichen Stellvertreters auch ICH sagen und mit der Gemeinde reden kann.

Die Kapitel zu 11. haben den Titel Späte Erkenntnisse der Naturwissenschaften und erzählen von einem faszinierenden Faktum: Mit Max Plancks Quantentheorie und Werner Heisenbergs Unschärferelation werden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unsere europäischen Denkgewohnheiten – wir sind ja immer noch die geistigen Kinder von Descartes – gestört und angegriffen. Unser traditionelles Denken fußt auf dem Glauben an saubere Unterscheidungen, wie die von einer res extensa und einer res cogitans, zwischen Subjekt und Objekt, Geist/Seele und Materie, säkulare Folge einer jahrhundertelangen kirchlichen Verteidigung dieser Dichotomie und der Pflege des individuellen Ichs. Von der europäischen Literatur ist sie seit Jahrhunderten de facto bestritten, und nun endlich folgt ihr die Wissenschaft? Wie Heisenberg nachweist, kann ein Subjekt durch Beobachtung sein Objekt tatsächlich verändern? Dies betrifft ja auch die Sprache, die so genannten Dinge sind nur potential. Die Wirklichkeit ist eine Illusion, sagt Einstein.11

Und für den Europäer irritierend ist damit auch der Blick über kulturelle Grenzen, z.B. in die arabischen und chinesischen Kulturen. Man kann nicht direkt über Realität sprechen, weil Realität nicht existiert, sagt in schöner eindeutiger Mehrdeutigkeit der syrische Dichter Adonis in einem Gespräch mit seinem chinesischen Kollegen Yang Lian.12 „Die Wörter sind ihrem Wesen nach Metaphern (…) Die einzige so genannte Realität ist das Verhältnis zwischen dir und den Dingen. (…) Wenn sich die eigene Perspektive ändert, dann entstehen neue Realitäten.“13 Der Naturwissenschaftler Ernst Peter Fischer meinte dazu in einem Berliner Vortrag 2006, in dem er die Positionen der neuen Wissenschaft erläuterte, in welchen die traditionellen Dichotomien von Realität und Denken relativiert werden: Die Natur hat kein Aussehen; wir sehen nur die Bilder, die wir uns davon machen.14

Und einmal mehr verbinden sich die neuen Naturwissenschaften mit Descartes-fernen Traditionen holistischen Denkens europäischer Literatur und Kunst – was nun auch die in den Kapiteln 11.1., 11.2. und vorher mehrfach erwähnte kreative Leere betrifft, jenes zwischen Wort und Wort Hilde Domins, in welchem Lyrik nicht Aussagbares aussagen kann, und zugleich Hypertexte als Romane und Dichtung verschränkten Zuständen der Quantentheorie entsprechen. Es ist ein Bereich, in dem wir uns auch dem japanischen Zen und ihren Haikus nähern und sie mit einem Gedicht von Enzensberger vergleichen können. Vielleicht auch mit dem Opus eines vom Bürgertum lange Zeit ausschließlich als Klassiker verkannten Dichter namens Goethe? In seiner 1810 erstmals veröffentlichten Farbenlehre empfiehlt er, Wissenschaft als Kunst zu betrachten. So will auch dieses Buch zeigen, wie ein aus der christlichen Ichpflege seit der Gotik entstandener europäischer Sonderweg, d.h. auch die für die Neuzeit und Moderne charakteristische Trennung von Wort und Ding (Foucault)15, zeitlich parallel in europäischer Literatur und Kunst buchstäblich aufgehoben wird.

Der wissenschaftliche und technische Fortschritt zu Beginn des 3. Jahrtausends trägt natürlich auch bei zu zeitgenössischen Ängsten, welche zunächst mit den Verunsicherungen eines nicht mehr mit sich selbst identischen Ichs zu tun haben. Schon der 1917 von Sigmund Freud geäußerte und dann viel zitierte Satz, daß das Ich nicht Herr sei im eigenen Hause, wirkt, wie man gesagt hat, als narzistische Kränkung. Es folgen bis heute die bestätigenden Erkenntnisse der Neurologen, daß es keinen essentiellen Ich-Kern gebe, sondern ein Ich nur eine Du-Beziehung sein könne. Und Thomas Metzinger spricht in seinem 2009 erschienenen Buch Der Egotunnel16 von einem vom Gehirn jeweils erzeugten phänomenalen Selbstmodell (PSM), welches allein eine Beziehung zu sich selbst und Erlebnisse haben könne; siehe Kapitel 11.1.

Ist der uralte Gegensatz und das zeitliche Miteinander einer das Ich pflegenden festen Burg der Gläubigen und den Menschen ohne Eigenschaften der Literatur damit aufgehoben? Verbinden sich Geistes- und Naturwissenschaften im Reich der zerebralen Synapsen zu einer dritten Kultur? Ist, wie Thomas Assheuer vermutet, das abendländische Subjekt ein Leibeigener seines Hirns?17 Ist die oft noch zitierte Sage vom mündigen Staatsbürger ein Irrlicht des Denkens von Minderheiten unter den Wählern? Erfahrungen mit Plebisziten beweisen und bewiesen in allen Zeiten, daß Mehrheitsentscheidungen meist auf von Populisten geschürten Emotionen beruhen und dadurch ein probates Mittel sind, auch Demokratien und ihre checks and balances ganz demokratisch auszuhebeln, siehe auch dazu die Kapitel 11.2. und 12.1.

Der Schluß des Buches mit der Überschrift Das europäische Ich heute und morgen (12.1. bis 12.3.). handelt einmal von den angsteinflößenden Aussichten einer in China schon ziemlich entwickelten und in Europa sich abzeichnenden digitalen Totalüberwachung des Bürgers durch den Staat: Sind wir auch in Europa auf dem Weg in eine digitale Diktatur? Das multiple Ich, mit dem Autoren wie Christa Wolf und Wolfgang Hilbig noch Möglichkeiten eines Doppellebens in der DDR zwischen Anpassung nach außen und Freiheit nach innen beschreiben, würde dann kaum mehr möglich sein. Im letzten Kapitel (12.3.) reden wir aber von einem Dennoch – und wiederum aus der europäischen Literatur – einem wunderbaren Gedicht von Hilde Domin mit dem Titel „Nur eine Rose als Stütze“18, und eine gedankliche Verbindung hierzu ist, wie bereits erwähnt, Paul Celans „Niemandsrose“.19

Viele Überlegungen zum Thema sind aus gemeinsamer Lektüre und Gesprächen nicht nur mit meinen Studenten an den Universitäten in München (1991/92) und der Berliner Humboldt-Universität (2005–07) entstanden, sondern auch aus Diskussionen mit Freunden aus den außereuropäischen Kulturen, die ich im Rahmen meiner jahrzehntelangen Arbeit für Goethe-Institute in Nordafrika, Indien und Lateinamerika kennengelernt habe. Vor allem letzteren schulde ich Dank für so manche Erkenntnis, die im Umfeld scheinbarer Selbstverständlichkeiten des europäischen Kulturkreises gar nicht, oder nur viel schwieriger hätte gewonnen werden können. Besonders danke ich auch meinem Freund Michael Haerdter, der meine Arbeit interkulturell erfahren und philosophisch geschult in Gesprächen und Briefen oft hilfreich ergänzt hat, ebenso meinem Freund Horst Domdey, der als belesener Germanist mir mit guten Hinweisen so manche Lektüre ergänzte und mir mehr als einmal weiterführend widersprach. Dank gebührt auch dem Physiker Thomas Kluge, der mir die Nähe so genannter verschränkter Zustände der Quantentheorie zu einem Haiku des Zen erläuterte und damit den Hypertexten des europäischen Romans und der Dichtung eine faszinierende Perspektive eröffnete. Last but not least aber gilt der Dank meiner lieben Frau für ihre jahrelange Geduld und Ungeduld.

1 Ulrich Merkel: „Die Erfindung Amerikas durch Europa. Gedanken zur Problematik interkultureller Wahrnehmung in Geschichte, Fiktion, Aktualität.“ In: TRANVIA, Heft 69, Juni 2003, S. 48–54.

2 Martin Luther: „Ein feste Burg ist unser Gott …“ vor 1529. Für den Dichter und Melancholiker Gottfried Benn war die rettende feste Burg 1933, glücklicherweise nur für zwei Jahre, der NS-Massenwahn, in dem er Schutz suchend sein Ich zugleich stabilisieren und vergessen konnte.

3 Siehe auch Ulrich Merkel: „Vom Ich und vom Man oder Die zeitlose Aktualität des Romans. Betrachtungen zu zwei Romanen von Piere Mertens: Les Bons Offices und Les Éblouissements.“ In: Weimarer Beiträge, Heft 1 2013, S. 78–92.

4 Gabriele Schweizer: „Öko-Bio-Kommunitarist. Der afrikanische Bioethiker Godfrey Tangwa kritisiert das westliche Denken.“ In: DIE ZEIT, 31.02.2002.

5 Ulrich Merkel: „Wirtschaft und Kultur – im Kontext von Globalisierung, Nation und Europa. Ein Plädoyer für kulturelle Kompetenz.“ In: Caroline Y. Robertson-von Trotha (Hg.): „Europa in der Welt – die Welt in Europa.“ Baden-Baden 2006, S. 59–74, S. 70.

6 Indische Wirtschaftsleute bedienen sich in Verhandlungen folgerichtig immer nur des Englischen, niemals ihrer Nationalsprache. Im Übrigen wird ein Inder einen Terminvorschlag immer erst einmal positiv beantworten, durch ein freundliches Wiegen des Kopfes. Ob er sich daranhält, wird dann die Situation entscheiden. Die Stewardess einer arabischen Fluglinie wird der Mitteilung einer Ankunftszeit immer ein Wenn Gott will … hinzufügen, denn für sie erschafft Gott die Welt in jedem Augenblick neu.

7 Martin Walser: „Hölderlin zu entsprechen.“ Festrede über Hölderlin und seine Krankheit. In: DIE ZEIT, 27.03.1970.

8 Bernd Scherer: „100 Jahre Gegenwart.“ In: Bernd Scherer (Hg.): „Die Zeit der Algorithmen“, Berlin 2016, S. 8.

9 Paul Veyne: „Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht.“ München 2011 (2007), S. 26.

10 Dt. Teufel < gr. diabolos < Verb diaballein = dt. durcheinanderschmeißen.

11 Albert Einstein, zit. in Ernst Peter Fischer: „Die andere Bildung.“ A.a.O.

12 Adonis im Gespräch mit Yang Lian: „Existieren durch Poesie. Über chinesische, arabische und westliche Traditionen der Dichtung.“ In: Lettre International (LI) 65, Sommer 2004. Zitiert und besprochen auch in: Ulrich Merkel: „Fenster ins Offene. (…) Die Sprache der Dichtung“, Würzburg 2009, S. 127.

13 Ebda.

14 Ernst Peter Fischer: „Wissenschaft als Kunst oder nachmaterialistische Wissenschaft.“ Vortrag im Projekt „Tony Cragg“ der Akademie der Künste, Berlin 18.10.06.

15 Michel Foucault: „Die Ordnung der Dinge.“ Frankfurt/Main 1974, S. 75f.

16 Thomas Metzinger: „Der Egotunnel …“ New York und Berlin 2009.

17 Thomas Assheuer: „Im Land der Synapsen. Was macht den Menschen zum Menschen? Ein Streit zwischen Hirnforschern und Philosophen.“ In: DIE ZEIT, 19.09.2002.

18 Siehe Kap. 10.5.: „Von der Kontinuität der Diskontinuität oder das realistische Chaos von Parallelgeschichten.

19 Siehe Kap. 9.3.: „Ein fiktives Ich – findet es Rettung in der Sprache der Dichtung?“

Das europäische Ich

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