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2.5. Der Zwei-fel als Ursprung des Denkens und das säkulare Ich

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Die im 13. Jahrhundert in breiterem Maßstab einsetzende Gewissenskontrolle durch die Beichte erzieht gleichzeitig zu einem zunehmend selbstbewußten Ich, welches ausgehend vom individuellen Sündenbewußtsein und der damit verbundenen angstvollen Selbstprüfung schließlich auch den Dogmen der Kirche und der mit der Kirche verbündeten weltlichen Macht gegenüber kritisch zu denken lernt. Aus der Erziehung zum Selbstbewußtsein durch die Beichte entsteht somit zunehmend der Zweifel, das Bewußtsein einer immer möglichen Alternative, daß nämlich etwas als vermeintlich sicher Erfahrenes im Grunde auch anders sein könnte. Die Erziehung zum personalen Sündenbewußtsein, welche durch Gesinnungskontrolle die Gläubigen bei der Gemeinde (die Schafe bei der Herde) halten soll, wird damit zugleich zur wesentlichen Ursache – das ist die große Ironie der europäischen Kulturgeschichte – für die Entstehung europäischer Ich-Kultur, d.h. einer langsamen und unaufhaltsamen Säkularisierung.

Der Zweifel ist die Wurzel abendländischen Denkens – und vom 11./12. Jahrhundert an wird das Thema „Glaube versus Denken“ zum Hauptthema abendländischer Theologie und Philosophie, bis individuelles Denken im 18. Jahrhundert, im methodischen Zweifel des „Discours de la méthode“ des Philosophen Descartes, ein säkulares Ich nur noch durch sich selbst definiert: „cogito me dubitandum“ – „ich denke mich als Zweifelnden“, und „also bin ich“: „ergo sum“.

Der Zweifel als Wort und Begriff entsteht aus der Zahl Zwei, in der mit der Einheit die Doppelheit und damit auch eine mögliche Andersheit mitzudenken ist. Es gibt kein Denken, das sich wie ein Laserstrahl konzentrieren ließe, an den Rändern bleibt es immer unscharf; schon die Sprache, in die es eingeschlossen ist, „steht dem monochromen Ideal der Wahrheit feindselig gegenüber. Sie ist mit Mehrdeutigkeit, vielstimmiger Gleichzeitigkeit gesättigt.“81

Denken macht einsam, denn im Denken sondert sich ein Ich zweifelnd vom Man, ein einzelner von der schützenden Herde der anderen. Europäische Individualisten sind stolz auf ihre Freiheit, betrachten sie als Menschenrecht und werben dafür in Ländern außerhalb Europas. Aber in Wahrheit vollzieht sich menschliches Leben im Miteinander, oder die wirklich konsequente Freiheit auch des Europäers endet in der Robinsonade; und auf der einsamen Insel geht dem einsamen und ach so freien Ich irgendwann dann auch die Sprache verloren, das Medium gesellschaftlicher Bindung. Fast 800 Jahre nach Wolfram schildert Christa Reinig den mit dieser Einsamkeit verbundenen Sprachverlust in ihrem Gedicht „Robinson“:

manchmal weint er, wenn die worte

still in seiner kehle stehn.

und er lernt an seinem orte

schweigend mit sich umzugehn,

(…)

Am Ende des Gedichts geht Robinson auch noch dir wichtigste Eigenschaft verloren, die sein Ich bislang für andere erkennbar definiert hat, sein Name – andere aber gibt es nicht mehr:

und der allzuoft genannte

wird ihm langsam unbekannt.82

Das aus dem Zweifel entstehende Denken generiert darum Angst und Melancholie, ein Thema, das von den Anfangszeilen in Wolframs „Parzival“ über Dürers „Melencolia“ bis zum „ennui“ Pascals und von Künstlern und Dichtern des 19. und 20. Jahrhunderts die europäische Kulturgeschichte begleiten wird. Und noch Gottfried Benn verfällt in seinem „Sündenfall“ zu Beginn des Dritten Reiches, als er die Einsamkeit des Denkens nicht mehr erträgt, dem Sog eines faschistischen Massenwahns und läßt für ein paar Monate sein melancholisch-sensibles Ich im bewußtlosen Man untergehen83.

Der Prozeß der Ich-Entstehung gewinnt im 13. Jahrhundert an Intensität. Die Hungersnöte und politischen Unsicherheiten zum Ende des 12. Jahrhunderts, wie sie auch Wolfram von Eschenbach noch erlebt haben muß, vertiefen den Zweispalt zwischen einem unsicheren Diesseits und einem Jenseits, das in der Suche nach Gott (dem Gral) die einzige Sicherheit verspricht. Zweifel und Angst in einer zwiespältigen Welt aber suchen auch ihre Sprache: Sprache schafft Sinn84, denn sie ist ja die Ausdrucksform eines gesellschaftlichen Man, in ihrer notwendigen Linearität fingiert sie Kontinuität und Kohärenz, wie sie in der gelebten Realität kaum mehr zu finden sind.

Es die Zeit eines Dichters wie Wolfram von Eschenbach, der in seinem Epos „Parzival“ im Gralskönigtum die alte Einheit von geistlicher und weltlicher Macht, von Diesseits und Jenseits noch einmal sprachlich fingiert, eine Einheit, welche in der gelebten Realität zu Beginn des 13. Jahrhunderts längst verloren ist: Dichtung als retrospektive und nostalgische Utopie. Und schon in den ersten Zeilen seines Epos benennt er den Zweifel als Ursprung einer Melancholie, die er durch die Sprache seiner Dichtung zu überwinden hofft:

„Wenn Zweifel nah beim Herzen wohnt

das muß der Seele bitter werden.“85

Das über die Verpflichtung gewordene Individualbeichte anerzogene zunehmende Sündenbewußtsein schafft jedoch nicht nur ein wachsendes Bewußtsein des Ichs in seiner Sonderung von einem Du, dessen Verhalten man vergleichend beobachtet und im Gespräch mit dem Beichtvater gegebenenfalls auch zu denunzieren hat. Diese Sonderung (Sünde) entspricht auch der Verheißung der Schlange im Paradies: „Eritis sicut Deus scientes bonum et malum.“ Man weiß jetzt um die Sonderung auch von gut und böse; erst in diesem Wissen erkennt auch Kain seinen Bruder Abel als Du und kann ihn erschlagen.86 In der Liebe zwischen Mann und Frau kann aber auch die Sonderung für einen Moment aufgehoben werden. Martin Luther übersetzt: „Und Adam erkannte sein Weib Eva und sie ward schwanger …“87

Wenn Christus nach Auferstehung und Himmelfahrt als androgyner Adam die Sonderung aufzuheben vermag, entspricht dies der Rolle auch von Wolframs Parzival, der als utopischer Gottkönig – gleichsam in der Nachfolge Christi – Amfortas und Kundry aus ihrer Sünde erlösen kann. Das Mitleid – die Empathie zwischen Ich und Du – bildet für diese Erlösung die Brücke. Und Parzival ist zur notwendigen Mitleidsfrage erst dann fähig, wenn er sich aus den Wir-oder Man-Normen der ritterlichen Artusrunde gelöst hat, deren Selbstverständlichkeit jeglicher zwîvel und jedes fragen88 fremd sein mußte. Das aber ist erst dann möglich, als Kundrys Auftritt die Artusrunde und ihre Selbstverständlichkeit sprengt und Parzival über den Zweifel in eine Ver-Zweiflung gerät, in der er Gott die Gefolgschaft aufkündigt.89

Es ist jener existentielle Nullpunkt, den auch Christus erlebt, als er am Kreuz sterbend Gott fragt, warum er ihn verlassen habe – es ist der Moment totaler Einsamkeit und der Freiheit des Nichts, in der sich alles, was einmal ein Ich geprägt haben mag, in dieses Nichts auflöst. Es ist möglicher Weise aber auch ein Moment der „Kehre“, wie ihn seinerzeit Saulus erlebt haben mußte, als er zum Paulus wurde, oder Bischof Augustinus, als er seine afrikanische Geliebte verstieß, um Gottes Du an ihre Stelle zu setzen. In Wolframs Epos ist es der Einsiedler Trevrizent, der Parzival den rechten Weg zum Gral weist, den er (das ist wohl das Geheimnis der irrenden Suche) letztlich nur in sich selbst finden kann.

Das so genannte Elsterngleichnis, das Wolfram den zwei Anfangszeilen seines Epos folgen läßt, erläutert die im zwîvel benannte Ambivalenz von Schwarz und Weiß, Gut und Böse:

Häßlich ist es und ist schön,

wo der Sinn des Manns von Mut

gemischt ist, farblich kontrastiert,

gescheckt wie eine Elster.

Und doch kann er gerettet werden,

denn er hat an beidem teil:

am Himmel wie der Hölle.

Die Thematik Schwarz (sündig) und Weiß (sündenfrei) als eine für den Menschen typische Mischung ist neu. Weil die Kirche eine eindeutige Einteilung der Menschen in Sünder und Sündenfreie nicht mehr glaubhaft vermitteln kann, übernimmt sie am Ende des 12. Jahrhunderts die bereits schon von Origenes im 3. Jahrhundert erwähnte und von Gregor dem Großen im 6. Jahrhundert geforderte Lehre vom Fegefeuer als eine Art Zwischenstufe, in welcher die Gestorbenen – vor der endgültigen Verdammnis bzw. der ewigen Seligkeit – „vorsortiert“ werden, als verbindliches Dogma.90

Der Freund des schwankenden Gemütes:

er ist völlig schwarz gefärbt

und gleicht auch bald der Finsternis;

dagegen hält sich an das Lichte,

der innerlich gefestigt ist.

Der Vergleich hier, so geflügelt,

ist zu schnell für Ignoranten –

ihr Denken kommt hier nicht mehr mit,

denn es schlägt vor ihnen Haken

wie ein Hase auf der Flucht.

(…)

Find ich feste Bindung dort,

wo sie bald verschwinden muß

wie Feuer in dem Brunnenschacht

und der Tau im Sonnenlicht?91

Der Dichter findet hier schlüssige Bilder dafür, daß es eine selbstverständliche Linearität nicht mehr geben kann – nicht für das Denken und Verstehen, nicht für das menschliche Leben, und folgerichtig auch nicht für die Geschichte, die er uns nun erzählen will:

(…)

Sie wird nicht auf der Stelle treten:

mal weicht sie aus, mal setzt sie nach,

zieht sich zurück, greift wieder an,

sie spricht den Tadel aus, das Lob.

Wer all den Würfelwürfen folgt,

der ist schon mit Verstand gesegnet,

kommt allenthalben gut zurecht.92

Statt einer konsequenten Abfolge der Ereignisse wird der Zufall (Würfelwürfe) seine Rolle spielen, sowohl im Leben und der Suche des Parzival als auch in der Sprache und Gliederung der Geschichte, die von ihm erzählt. Wolframs Parzival ist -–zu Beginn des 13. Jahrhunderts – mit der Erkenntnis notwendiger Empathie in der Amfortas und damit sich selbst rettenden Mitleidsfrage eine erste dichterische Konkretisierung des beginnenden Bewußtseins vom europäischen Ich und vom Du und – der ethischen Ambivalenz des modernen Menschen.

Sicherlich hat der Prozeß lange vorher begonnen, die Beispiele sind Paulus und Augustinus. Das antike Rom war jedoch eine „Wir-Gesellschaft“, und „die Übernahme der christlichen Religion durch Constantin, Chlodowech sowie die Verlagerung der christlichen Zentren durch Karl den Großen in den lateinischen Raum übte im Sinne der antik-römischen universalitas eine restaurative Wirkung auf den mitteleuropäischen Menschen aus. In diesem Moment verlor sich die (…) neu gewonnene Individualität des Christentums über lange Zeit.“93

Erst im 12. und 13. Jahrhundert werden sich Theologen und Philosophen wie Suger von St. Gallen, Peter Abälard oder Johannes Duns Scotus wieder mit ihrem „dynamischen Innen“94 beschäftigen und den Konflikt zwischen Glauben und Denken und den mit ihm verbundenen zwîvel in Worte fassen; Duns Scotus, gegen Ende des 13. Jahrhunderts, „als er die Besonderheiten reflektierte, die den Einzelnen zum Einzelnen machen und die entitas individualitatis ausschließlich mit dem Menschen und seiner Biographie verband. Dieser wurde in ein Verhältnis zu seiner sozialen Umwelt gesetzt und sollte sein ego dort unabhängig von seinem alter entwickeln.“95 Ein Anspruch, der sich realiter nicht erfüllen ließ, aber das Bild von einem autonomen, unabhängigen Ich in den folgenden Jahrhunderten festigte.

Zu Beginn des 13. Jahrhunderts aber hat Wolfram als erster die Problematik dichterisch gestaltet. Parzivals Suche und damit das Epos endet jedoch in einem neuen und zugleich sehr alten Wir, im Gralskönigtum: nach den vielen vorausgegangenen farbigen und lebensnahen Szenen eine eigentümlich blasse retrospektive Utopie einer Einheit von Priestertum und weltlicher Macht, die es in Wirklichkeit so kaum gegeben hat. Gemeint ist jedoch die mit dem Beginn der Gotik definitiv verlorene Einheit von Diesseits und Jenseits, welche der christliche Glaube durch Christi Himmelfahrt und das Versprechen seiner Rückkehr zurückzugewinnen versucht, mit deren Trennung von einander (Schisma oder Sünde genannt) die Menschen aber bis dahin auf Erden zurechtkommen müssen.

Sicherlich sollte der Leser des 21. Jahrhunderts wenigstens versuchen, Wolframs Epos aus dem soziokulturellen Kontext seiner Zeit zu verstehen. Der heutige Leser aber kann es mit großem Gewinn auch aus heutiger Problemsicht lesen: Nicht nur als dichterische Quelle einer Entstehung des europäischen Ichs aus dem Zweifel, sondern auch der notwendig damit verbundenen Erkenntnis einer Ich-Illusion: Die europäische Literatur und Philosophie ergänzt und kontrastiert nämlich durch Jahrhunderte hindurch dieses nur scheinbar kompakte und kohärente Ich durch erzählt erzählende „Menschen ohne Eigenschaften“. Es ist ein Thema, das nicht nur Dichter und Philosophen, sondern bis in unsere Gegenwart zunehmend auch Naturwissenschaftler interessiert. Wie gesagt – am Anfang war das Wir: Und immer wieder geht es um die Entstehung des Ichs aus dem Wir. Es entsteht aus den Eigenschaften, welche ihm dieses Wir verleiht, durch die Zufälle der Kultur, Religion und des gesellschaftlichen Kontextes, in welches es hineingeboren wird und eine mehr oder weniger, aber immer gefährdete und durch die Zufälle einer komplexen Lebenswirklichkeit bis zur Aufhebung beeinflußte Stabilität und Kontinuität gewinnt.

21 Martin Walser: „Hölderlin zu entsprechen.“ Festrede über Hölderlin und seine Krankheit. In: DIE ZEIT, 27.03.1970.

22 Dieter Kartschoke: „Ich-Darstellung in der volkstümlichen Literatur.“ In: Richard van Dülmen (Hg.): „Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart.“ Köln 2001, S. 62f.

23 Clifford Geertz: „From the native’s point of view: On the nature of anthropological understanding.” In: P. Rabinow & W. M. Sullivan (Hg.): Interpretive social science, Berkeley 1979. S. 229. Zit. in: Heiner Keupp u.a.: „Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne.“ Reinbek bei Hamburg 2008 (1999), S. 95.

24 Denn auch Tiere, soweit sie erforscht sind, haben ihre Sprache zur sozialen Interaktion.

25 Mathias Greffrath: „Das Tier, das „Wir“ sagt. Michael Tomasello sucht nach der Einzigartigkeit des Menschen und findet sie in dessen Kooperationsfähigkeit.“ In: DIE ZEIT, 08.04.09.

26 Gabriele Schweizer: „Öko-Bio-Kommunitarist. Der afrikanische Bio-Ethiker Godfrey Tangwa kritisiert das westliche Denken.“ In: DIE ZEIT, 31.01.2002. Siehe auch Ulrich Merkel: „Wirtschaft und Kultur – im Kontext von Globalisierung, Nation und Europa. Ein Plädoyer für kulturelle Kompetenz.“ In: Caroline Y. Robertson von Trotha (Hg.): „Europa in der Welt – die Welt in Europa.“ In: „Kulturwissenschaft interdisziplinär 1.“ Baden-Baden 2006, S. 59–74, S. 70.

27 Benjamin Balint: „Feindbilder abschaffen. Als amerikanischer Jude unterrichtet Benjamin Balint junge Palästinenser an der Al-Kuds-Universität nahe Jerusalem.“ In: DIE ZEIT 18.10.2012, „Glauben und Zweifeln.“

28 Ebda.

29 Hans Jakob Roth: „Kultur, Raum, Zeit.“ Baden-Baden 2013. S. 27.

30 Paul Veyne: „Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht.“ München 2011 (2007), S. 148.

31 Eine Ausnahme ist die Türkei Atatürks, in der indessen heute eine Regierung mit islamistischen Tendenzen die Trennung von Staat und Kirche, die seinerzeit vom Militär garantiert wurde, wieder rückgängig zu machen droht.

32 Paul Veyne: „Als unsere Welt christlich wurde.“ A.a.O., S. 29.

33 Ebda.

34 Ebda., S. 152.

35 Ebda., S. 218, Anm.9.

36 Freilich konstatieren wir heute zunehmend eine Krise der Ich-Gesellschaften und eine Zunahme sogenannter Patchworkexistenzen. Dazu u.a. Hans Jakob Roth: „Die Krise des Westens – eine Krise des Individualismus.“ Zürich 2013.

37 Max Frisch: „Mein Name sei Gantenbein.“ 1964. In seinem Theaterstück „Andorra“ (1961) heißt die Hauptperson Andri.

38 Robert Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften.“ Hrsg. von Adolf Frisé, Hamburg 1952, S. 129.

39 Ebda., S. 129f. Was damit gemeint ist, davon wird später noch ausführlich die Rede sein.

40 Rainer Maria Rilke: „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“ In: „Aus den Elegien, Abschrift“. 1914.

41 Martin Heidegger: „Sein und Zeit“, 5. Kap., §§ 28–38, 1927.

42 Die Gefängnismetapher erinnert auch an Fausts Monolog in Goethes Faust I, in dem er seine Studierstube, sein akademisches Wissen, als Gefängnis empfindet, aus dem ihn bezeichnender Weise nur des „Chaos wunderlicher Sohn“, nämlich Mephisto befreien kann: „Wie, sitz ich in dem Kerker noch? Verfluchtes dumpfes Mauerloch.“ Die von Musils Ulrich ersehnte Eigenschaftslosigkeit entspricht dann in etwa Mephistos fliegendem Mantel, sie ist das „Gegenbild zur Funktionalisierung“ des Ichs, sozial und ethisch. Vgl. Detlef Kremer: „Die endlose Schrift. Franz Kafka und Robert Musil.“ In: Rolf Grimminger/Jurij Murasow/Jörn Stückrath (Hg.): „Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert.“ Reinbek 1995, S. 425–452., S. 440.

43 Paul Veyne: „Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht.“ München 2011, S. 32.

44 Moses, der – so berichtet es das Alte Testament – sich auf dem Berg Sinai von Gott diese mit einem anspruchsvollen Ich beginnenden Gebote diktieren ließ, auf Tontafeln festhielt und sie zu seinem Volk heruntertrug, hatte ein großes Vorbild, das man im Unterschied zu ihm selbst einigermaßen genau datieren konnte. Es war Amenophis IV., ägyptischer Pharao der 18. Dynastie des Neuen Reiches, um 1350 v. Chr., der eines Tages beschlossen hatte, alle Tempel, in denen unterschiedliche Götter angebetet wurden, zu zerstören und sich und seinem Volk die Anbetung nur noch eines einzigen Gottes zu verordnen. Dies war der Sonnengott Aton, und folgerichtig nannte er sich von nun an Echnaton, und seine neue Eigenschaft als Gottkönig war seiner Autorität sicher förderlich. Moses, der sich mit seinem Volk dort längere Zeit im sogenannten Exil befand, wurde also gleichsam ägyptisch sozialisiert und genoß sogar, wie Historiker behaupten, das persönliche Vertrauen des Pharaos. Vgl. Jan Assmann: „Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur.“ München, Wien 2007 (2000).

45 George Steiner, europäischer Universalgelehrter, sagt in einem Interview sogar sehr eindeutig: „Die Christenheit hat nichts mit Monotheismus zu tun! 3000 Heilige! Ich weiß nicht, wie viele Reliquien. Bitte! Das ist Polytheismus der offensichtlichsten Art …“ George Steiner: „Pessimisten sind lächerlich (…) Ein Gespräch über Leben und Tod mit Iris Radisch.“ In: DIE ZEIT, 16.04.14.

46 So wird er in Goethes „Faust“ genannt.

47 In Indien wäre es eine grobe Ungehörigkeit, z.B. einer Dame zur Begrüßung die Hand zu reichen, was man allenfalls einem „ungebildeten“ Europäer verzeiht.

48 David Everett: „Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirahâ-Indianern am Amazonas.“ München 2010, S. 195.

49 Ebda., S. 208.

50 Ebda., S. 407.

51 Klaus Spahn: „Der Atem des Waldes. Bei der Münchner Biennale hat ein Opernprojekt Premiere, das sich an der Gedankenwelt der Yanomami orientiert. Aber wie sieht das Leben der Indianer tatsächlich aus? Eine Reise an den Amazonas. Nordbrasilianischer Regenwald.“ In: DIE ZEIT 19, 06.05.2010.

52 Jörg Kersten: „Der junge Chang schleicht zu den Wengs. Die riesigen Runddörfer im Südosten Chinas sind Weltkulturerbe. Auch Touristen können hier übernachten.“ In: Der Tagesspiegel, 02.03.2014.

53 Gisela Febel: „Innen- und Außenräume bei frankophonen Autorinnen der Gegenwart. Assia Djebar, Nina Bouraoui, Myriam Warner-Veyra, Fatou Diome.“ In: Monika Neuhofer/Kathrin Ackermann (Hg.): „Von Häusern und Menschen. Literarische und filmische Diskurse über das Haus im 19. und 20. Jahrhundert“. Würzburg 2011, S. 69–92.

54 Hans Jakob Roth: „Kultur, Raum, Zeit.“ Baden-Baden 2013.

55 Amin Maalouf: „Les identités meurtrières.“ Paris 1998, S. 183f.: „Chacun d’entre nous devrait d‘être encouragé à assumer sa propre diversité, à conçevoir son identité comme étant la somme de ses diverses appartenances, au lieu de la confondre avec une seule, érigée en appartenance suprême, et en instrument d’exclusion, parfois en instrument de guerre.“ (Übers. des Autors).

56 Den hundertsten Namen Allahs kennt nach der arabischen Legende nur das Kamel; es verrät ihn nicht und schaut deshalb so hochmütig drein.

57 Annemarie Schimmel: „Mystische Dimensionen des Islam.“ Frankfurt/Main 1995.

58 So sind Stammbäume z.B. alter Nürnberger Patrizierfamilien allenfalls bis ins 14. Jahrhundert zurück zu verfolgen, davor gibt es noch kaum individualisierende Namen, die sich einer Stammbaumlinie zuordnen lassen.

59 Auch die Beichte ist in der Alten Kirche ja zunächst ein kollektives Ritual und entwickelt sich erst im Hochmittelalter zur Individualbeichte.

60 Vgl. Gustave Le Bon: „La psychologie des foules“ (1895) und Sigmund Freud: „Massenpsychologie und Ich Analyse“ (1925).

61 Siehe Kap. 12.0: „Vom Ich und dem Man oder Moral als gesellschaftliche Gewohnheit.“

62 Was der daraus entstehende Verlust gesellschaftlicher Bindungen für das Ich-Bewußtsein bedeuten kann, bis zu schweren Depressionen, beginnendem Sprachverlust und sogar Selbstmord, schildert die Literatur bereits seit dem 18. Jahrhundert: Goethe in „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774), Hofmannsthal im Schicksal des Lord Chandos in „Ein Brief“ (1902) bis zu Peter Handkes „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ (1970).

63 Jürgen Habermas: „Diskussion zu Walter Schulz: Das Problem der Angst in der neueren Philosophie“. In: Heimar von Dithfurt (Hg.): „Aspekte der Angst. Starnberger Gespräche.“ Stuttgart 1964, S. 20–23, S. 20.

64 Richard van Dülmen (Hg.): „Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart.“ Köln 2001, Einleitung S. 1.

65 Ebda, S. 2.

66 Bertolt Brecht: „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui.“ 1941.

67 Die Pogrome in Ruanda 1994 kosteten bis zu einer Million Menschen das Leben; die Pogrome zwischen Hindus, Moslems und Sikhs bei der Auflösung von Britisch-Indien 1947 forderten mehrere 100.000 Todesopfer; im so genannten Holodomor, der 1932/33 in der Ukraine von Stalin verursachten Hungerkatastrophe, starben über 3,5 Millionen Menschen; beim Völkermord an den Armeniern während des ersten Weltkriegs liegen die Schätzungen bei zirka einer Million Toten.

68 Aurelius Augustinus: „Confessiones.” (397–401 n. Chr.)

69 Karl-Heinz Ohlig: „Christentum – Individuum – Kirche.“ In. Richard van Dülmen (Hg.): „Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart.“ Köln 2001, S. 11–40, S. 16.

70 Bernd Neumann: „Von Augustinus zu facebook. Zur Geschichte und Theorie der Autobiographie.“ Würzburg 2013, S. 50.

71 „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben …“, Joh. 14,6.

72 Peter Dinzelbacher: „Das erzwungene Individuum. Sündenbewußtsein und Pflichtbeichte.“ In: Richard van Dülmen (Hg.): „Entdeckung des Ich.“ A.a.O., S. 41–60, S. 44.

73 Sie prägt nicht nur die geistliche Literatur bis ins 18. Jahrhundert, z.B. im Text von Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion („Buß und Reu knirscht das Sündenherz entzwei“), sondern auch den sehr „weltlichen“ ersten deutschsprachigen Roman der europäischen Moderne, den „Simplicius Simplicissimus“ von Grimmelshausen (1669) und sie begründet auch die genuin europäische literarische Gattung der Autobiographie. Bernd Neumann: „Von Augustinus zu Facebook.“ A.a.O.

74 Paul Veyne: „Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht.“ München 2011, S. 86.

75 Friedrich Nietzsche: „Jenseits von Gut und Böse. Viertes Hauptstück. Sprüche und Zwischenspiele, 168. Werke in drei Bänden.“ München 1954, Bd. 2., S. 638f.

76 Peter Dinzelbacher: „Das erzwungene Individuum.“A.a.O., S. 41.

77 Ebda., S. 54.

78 Uta Störmer-Caysa: „Gewissen und Buch. Über den Weg eines Begriffes in die deutsche Literatur des Mittelalters.“ Berlin 1998, S. 70.

79 „Die ‚Kirche‘ (‚ecclesia‘), also die künftige Gemeinschaft der Gläubigen, die der jüdische Prophet Jesus von Nazareth auf seinem Jünger Petrus aufbauen wollte (Mt. 16,18), führt die Vorstellung von der Gemeinde (‚qahal‘) des auserwählten Volkes fort. Man kann also nur durch Mitgliedschaft in dieser Gemeinde Christ sein.“ Paul Veyne: „Als unsere Welt christlich wurde.“ A.a.O., S. 45f.

80 Heutzutage pejorativ auch „Mob“ genannt: Lehnwort aus dem Englischen, aus lat. „mobile vulgus“.

81 George Steiner: „Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe. Nachwort Durs Grünbein.“ Frankfurt/Main 2006 (2005), S. 36.

82 Christa Reinig: „Sämtliche Gedichte“. Düsseldorf 1984.

83 Ulrich Merkel: „Vom Ich und dem Man oder Die zeitlose Aktualität des Romans. Betrachtungen zu zwei Romanen von Pierre Mertens: ‚Les bons offices‘ und ‚Les éblouissements‘“. In: Weimarer Beiträge, 1/2013, S. 79–92. Siehe auch Kap. 9.2.: „Melancholie oder die gefährliche Einsamkeit des Denkens.“

84 Etymologie von Sinn < german. sintha „Reise, Weg“, Ztw, „sinnen“: reisen, streben, gehen.

85 „Ist zwîvel herzen nachgebûr/daz muoz der sêle werden sûr.“. Parzival I,1.

86 Der Zweikampf von Parzival mit seinem Halbbruder Feirefiz droht ebenfalls tödlich, d.h. mit einem Brudermord, zu enden, bis – durch einen glücklichen Zufall – die beiden sich als Brüder erkennen.

87 Genesis 4, 1–16.

88 „Ir ensult niht vil gevrâgen“, so lehrt ihn sein ritterlicher Lehrer Gurnemanz, der ihn damit in die Normen der Tafelrunde einweist. Dieter Kühn: „Der Parzival des Wolfram von Eschenbach.“ Frankfurt/Main 1986, S. 546ff.

89 Dieter Kühn übersetzt den zwîvel der ersten Zeile des Parzival durch Verzweiflung, was den erst in der Szene mit Trevrizent erreichten existentiellen Nullpunkt mißverständlicch vorwegnimmt. Ebda., S. 429.

90 Jacques Le Goff: „Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter.“ dtv, München 1990 (Paris 1981).

91 Dieter Kühn: „Der Parzival.“ A.a.O., S. 429.

92 Ebda., S. 429f.

93 Frank Steinwachs: „‚mit dir selben hâstu hie gestritn‘. Das Firguren-Ich zwischen poetischer Konstruktion und innerer Selbstwerdung. Überlegungen zum Individuum und Individuellen im ‚Parzivâl‘ des Wolfram von Eschenbach.“ Berlin 2007, S. 31.

94 Ebda., S. 20.

95 Ebda., S. 37.

Das europäische Ich

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