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Prolog

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EINS VORWÄRTSFALLEN

Die weiten Wege des Tschusch Bárbar

Nachgegangen von Ulrich Urthaler

Tschusch Bárbar wurde in den letzten Minuten des Jahres 1975 im schönen Ort Spielfeld, Österreich, geboren. Es war das Jahr des Goldregenpfeifers.

Seine Mutter hatte sich seinerzeit mit der Niederkunft beeilt. Nicht etwa, weil sie Wert darauflegte, dass Tschusch noch im Jahr dieses seltenen Vogels das Licht der Erde erblickte, nein. Der Grund war ein anderer. Die Hebamme hatte die werdende Mutter zum „Pressen, du musst pressen, gute Frau“, gedrängt, damit sie noch das Kindergeld für Monat Dezember einstreichen konnte. Eine weise Vorsehung, denn sonst wäre der Knabe im Jahr des Wiedehopfes geboren worden, ein Piepmatz, mit dem sich der spätere Vogelfreund Tschusch zeitlebens nicht hatte anfreunden können, da er ihn wegen seiner auffälligen Federhaube für reichlich affektiert hielt.

Auch in Spielfeld, dem Grenzort zum ehemaligen Jugoslawien, der zu Zeiten des kalten Krieges noch so manchem wie die hinterste Bastion der Freiheit vorkam, wurde am letzten Tag des Jahres Sylvester gefeiert und Tschuschs Eintritt in die Welt standesgemäß mit Feuerwerk und krachenden Böllern begrüßt. Sicher war es dem infernalischen Lärm zum Jahreswechsel geschuldet, dass der Knabe sofort verstummte und nicht in das übliche Babygeschrei seiner Artgenossen einstimmte. Und wer hätte sich nicht geängstigt, wenn einem aus der glucksenden Ruhe der Fruchtblase heraus plötzlich die Knallfrösche um die Ohren fliegen.

Sein Schweigen dauerte vier Jahre. Man hatte ihn deshalb für stumm gehalten, wahlweise für taubstumm oder generell für geistig behindert, je nach Tagesform. Bisweilen nämlich schien der Kleine völlig abwesend zu sein, doch war er lediglich in Gedanken an seine Zukunft versunken, die er sich komplett anders vorstellte als das, was seine Eltern ihm bisher geboten hatten. Als er dann endlich sprach, tat er dies sogleich in ganzen, wohl formulierten Sätzen.

„Ich will weg aus diesem Kaff“, sollen seine angeblich ersten Worte gewesen sein.

Diese nicht gerade schmeichelhafte Einlassung musste man aus dem historischen Kontext heraus verstehen. Das Dörfchen Spielfeld hatte es damals bereits zu einiger Berühmtheit gebracht, die hauptsächlich darin bestand, in den Verkehrsnachrichten genannt zu werden und zwar als Grenzort mit den längsten Wartezeiten. („Spielfeld, sechs Stunden …“) Natürlich konnte die Siedlung nichts dafür, dass sie direkt an den Eisernen Vorhang grenzte, der den kapitalistischen Westen vom seinerzeit kommunistischen Osten trennte, doch nutzte dies dem üblen Leumund Spielfelds wenig.

Des Knaben frühe Kindheit unterlag folglich gleich mehreren Erschwernissen. Da waren ja nicht nur die lokalen Lebensumstände, die einem sensiblen Menschen wie Tschusch dünkten, als befände er sich in einer ewigen Warteschleife. Doch worauf sollte man in Spielfeld warten? Auf das Ende der Staus? Auf den Zusammenbruch des Hegemon Sowjetunion, der zu jener Zeit noch von niemand hatte prophezeit werden können, und damit der Öffnung der Grenzen? Sicher nicht. Es lag also nahe, dass Tschusch von Geburt an anderes im Sinn hatte, als sein Leben in Spielfeld zu verbringen.

Auch seine Herkunft erwies sich für einen dauernden Aufenthalt als suboptimal, denn Tschusch war leider jugoslawischer Abstammung. Heutzutage, da dieses Jugoslawien nicht einmal mehr existiert, mag dieser Umstand lächerlich erscheinen, doch damals war dies einer der Gründe, warum er im weitesten Sinn des Wortes ausgegrenzt wurde. Natürlich war Tschusch nicht sein richtiger Name. Getauft wurde er als ein gewisser Tjepko Damian Bárbar, Tjepko für einen Deutschsprachigen ungefähr so schwer zu prononcieren wie Horst für einen Franzosen. Als Tschusch wiederrum bezeichnete man in Österreich all jene, die vom Balkan kamen und denen man von vorneherein einen Hang zum Kriminellen unterstellte. Gemein, aber wahr.

Gleichwohl bürgerte sich diese vornamentliche Verballhornung bei Freunden und Nichtfreunden schnell ein, sodass ihn selbst die Lehrer in der Volksschule nur noch Tschusch riefen und am Ende sogar seine Familie. Dem Betroffenen war es einerlei. Den Tjepko hatte er eh nie leiden mögen und wenn man schon ein Tschusch war und auch noch so hieß, war doch alles gleich viel einfacher.

Als Tschusch acht Jahre alt war, erfüllten ihm die Eltern seinen Herzenswunsch und zogen aus Spielfeld weg. Marjan, der Vater, hatte bis dahin diverse Positionen in diversen Berufen bekleidet, all jene Arbeiten verrichtet, die man als sogenannter Jugo eben machen musste. Eine Zeit lang war er als Karussellbremser auf Jahrmärkten tätig, dann als Erntehelfer, Abdecker, Nachtwächter, Müllmann und zu guter Letzt als Klofrau, bevor ein chinesisches Restaurant, in dem er zuvor in der Küche die Teller gewaschen hatte, seine poetische Begabung erkannte und ihn als Glückskeksautor beschäftigte.

Bald jedoch gingen Marjan die Aphorismen aus. Hatte er anfangs noch vor Fantasie gesprüht und gar schlaue Sprüche verfasst, wie „Fische fängt man mit Angeln, Menschen mit Worten“ oder „Das Glück ist wie ein fliehendes Pferd, man kann es nicht halten“ oder auch „Liebe ist das einzige Kapital, das man auf Kredit geben sollte“, so ließen seine Einfälle allmählich nach, sodass sein Dichterhirn am Ende nur noch Binsen- oder gar keine Weisheiten mehr zutage förderte, wie „Einige Menschen träumen vom Glück, andere von Keksen“ oder „Wer glaubt, die Weisheit des Lebens in einem Keks zu finden, hat einen an der Waffel.“

Wohl war es letzter Spruch, der ihn den Job kostete, doch sollte sich dies im Nachhinein als Glückkeksfall erweisen. Ein Cousin von Tschuschs Mutter Mojca, der in der Stadt München in Deutschland lebte, unterbreitete dem arbeitslosen Marjan ein auf den ersten Blick fragwürdiges, doch bei näherem Hinsehen recht interessantes Angebot. Dieser Cousin mit Namen Anton Pranijc war als Tierpfleger im Münchner Zoo Hellabrunn beschäftigt, zuständig für die Greifvögel. Der deutsche Naturschutzbund wiederrum, mit Hellabrunn in engem Kontakt stehend, suchte einen zuverlässigen Menschen, der sowohl über ein gutes Gedächtnis verfügte, als auch mit der Welt der Vögel vertraut war; kurzum, man suchte einen professionellen Vogelzähler, jemand, der ständig auf Achse sein musste, um gegen gutes Geld die Vöglein im Lande zu zählen. Früher war dies die Tätigkeit Freiwilliger gewesen, deshalb hatte sich Marjan doch sehr gewundert, dass man plötzlich dafür entlohnt würde.

Aber hatten die Deutschen nicht schon immer für Dinge bezahlt, für die andere keinen Cent gaben und war München nicht eine der reichsten Städte in einem der reichsten Länder dieser Welt? Die Offerte musste also ernst gemeint sein. Marjan war für diesen Job ja wie geboren: wie kein anderer konnte er sich Zahlen und Mengen merken und mit Vögeln kannte er sich bestens aus. Er war geradezu vernarrt in die gefiederten Gefährten und konnte die verschiedenen Arten allein an ihrem Gesang unterscheiden. Den Goldregenpfeifer zum Beispiel, bekanntlich Vogel des Jahres 1975, konnte er sogar pfeiferisch imitieren.

„Sein Ruf“, erläuterte Marjan, „ist ein ansteigendes tlüh.“ Und er spitzte den Mund und brachte ein absolut glaubwürdiges tlüh heraus.

„Bei Gefahr“, so Marjan, „liegt die Betonung übrigens auf der Endsilbe, er macht dann so etwas wie ein plüüé.“

Und wenn Marjan nun dieses plüüé intonierte, konnte man sich gut vorstellen, wie groß die Gefahr für den Goldregenpfeifer in dem Falle sein musste. Doch war dies noch nicht alles.

„Markiert der Goldregenpfeifer sein Revier“, schloss Marjan seine ornithologischen Erklärungen, „ertönt ein warnendes fla-hüüi.“

Und spätestens da war jedem Zuhörer klar, dass bei einem fla-hüüi schnell das Feld räumen war, denn was Reviermarkierungen anbetraf, verstand der Vogel keinen Spaß.

Marjan Bárbar also bekam seinen Traumjob und Tschusch durfte endlich das leidige Spielfeld verlassen. Das war 1983 und wen wunderte es, dass dies das Jahr der Uferschwalbe war.

Der Besuch der Grundschule im Münchner Stadtteil Allach erwies sich für Tschusch als durchschlagender Erfolg. Sein elefantöses Gedächtnis, ein dankenswertes Erbe seines Vaters, verwechselten die Lehrer alsbald mit außerordentlicher Intelligenz und rieten den verdutzten Eltern, den Sohn auf das Gymnasium zu schicken. Nun war es zu jener Zeit keineswegs Usus, dass ein Gastarbeiterkind eine höhere Schule besuchte und einer, der Tschusch hieß, gleich dreimal nicht. Den Ehrgeiz, einem Jugo die Bildungsweihen der Oberschicht zukommen zu lassen, entwickelten auch mehr die Lehrkräfte, denn Tschuschs Familie. Marjan war eigentlich davon ausgegangen, dass sein Sohn dereinst Vogelzähler werden würde, so wie er, hatte der Knabe die Vöglein doch auch so lieb und als Vogelzähler brauchte man kein Abitur. Doch einmal mehr hatte Tschusch andere Pläne.

Seit er denken konnte, wollte er Privatdetektiv werden. Für den Beruf des Schnüfflers, wie manch übel gesonnene Zeitgenossen die hehre Kunst des Spannens gegen Geld verunglimpften, zeichnete ihn sein ganzheitliches Wesen aus. Er hatte Neigungen, die zwangsweise zu diesem Beruf führen mussten. Schon immer interessierte sich Tschusch für das Leben anderer und gerne ging er wildfremden Leuten nach. Bereits als Jugendlicher verbrachte er Stunden damit, sich einen von der Straße herauszupicken und zu beobachten, was der so tat.

Außerdem ging er gern zu Fuß. Ganz gleich, wie das Wetter war: Tschusch spazierte durch die Stadt. Hatte er Probleme (und die hatte er ständig), lief er die Straßen entlang und dachte nach. Was er dabei dachte, ordnete er einem eigenen Denkkapitel unter das er als Geh - danken titulierte. Und seitdem er bei Friedrich Nietzsche nachgelesen hatte, dass man im Sitzen nicht denken könne, nur gehend, fühlte er sich in seinem inneren Gangwerk umso mehr bestätigt. Bei jeder Art von Schieflage (und in solche geriet er ständig) ging er sich ins Lot zurück. Dabei konnte er kilometerweise wandern, bis seine Füße hart wie der Beton der Pflasterung unter ihm wurden. Aus dem Grund kannte er sich in München aus wie kein Zweiter, hatte er doch jede Straße schon einmal bestiefelt. Tschusch erging sich sein Leben, auch wenn er dabei bisweilen von einem Missgeschick ins andere fiel. Doch fiel er stets nach vorne. Wer viel geht, so seine Devise, sieht auch viel und wer viel sieht, der weiß, was in seiner Stadt vor sich geht, unabdingbar für einen guten Detektiv.

Während seines Mäanderns durch die Stadt inspizierte er auch die Gangart anderer Menschen, prägte sich die verschiedenen Bewegungsabläufe der Passanten ein, sodass er deren Charakter am Ende allein aufgrund ihrer Gangart dechiffrieren konnte.

„Man glaubt gar nicht“, so eine seiner Weisheiten, „was man alles über einen Menschen erfährt, wenn man ihm eine Zeit lang hinterhergeht.“

Und da war ja noch das sensationelle Gedächtnis. Nie vergaß Tschusch ein Gesicht, nie vergaß er, was die von ihm ausspionierten Leute an dem einen oder anderen Tag gemacht hatten, und wenn es Jahre her waren. Im Lauf der Zeit wuchs sein Gehirn folglich zu einer famosen Datenbank von Ehebrechern, Ausreißern, Blaumachern, Versicherungsbetrügern und Zahlungssäumigen an.

Folgerichtig bewarb er sich nach dem Abitur bei einer renommierten Münchner Detektei und wurde nach der Probephase sofort in ein festes Anstellungsverhältnis übernommen, war doch seine Aufklärungsquote damals noch phänomenal. Dann beging er einen ersten großen Fehler: er machte sich mit einem eigenen kleinen Büro selbständig und damit fingen die Probleme an. Das war 2001 gewesen, dem Jahr des Haubentauchers.

eins vorwärtsfallen

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