Читать книгу eins vorwärtsfallen - Ulrich Urthaler - Страница 4

Schritt 1

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„Bárbar“, sagte Tschusch, „Bárbar mit accent grave auf dem ersten A.“

„Gut, Herr Barbár“, sagte die Frau mit accent grave auf dem zweiten. „Mit Ihrem Tarif bin ich einverstanden. Wann können Sie loslegen?“

„Haben Sie ein Foto Ihres Mannes“, fragte Tschusch. „Auch ein Name wäre von Vorteil.“

Die Frau, die in seinem Büro saß, hatte sich bisher nicht vorgestellt, nur erzählt, dass sie ihren Mann des Ehebruchs verdächtige und deshalb seine Dienste benötige. Sie wolle jetzt endlich die Wahrheit wissen.

Alle wollen immer die Wahrheit wissen, dachte Tschusch, dabei war die Lüge doch so gnädig. Wie sie denn auf die Idee gekommen wäre, hatte er sich erkundigt, die übliche Frage, wenn Frauen zu ihm kamen und ihre Gatten des Fremdgehens bezichtigten, denn manchmal löste sich der Verdacht in Luft auf, hakte man näher nach. Seit Neustem bliebe er abends immer länger im Büro, hatte sie berichtet, dann würde er öfter größere Summen vom gemeinsamen Konto abheben und überhaupt spüre man so etwas als Frau. Riechen würde er nämlich, und zwar anders, wenn er dann endlich nach Hause käme. Nicht nach Büro, wenn der Herr Barbár verstehe, was sie meine.

Es war eine hübsche Frau. Tschusch mochte, wie sie auf dem Stuhl Platz genommen hatte. Vorsichtig, als hätte sie sich noch nie richtig hingesetzt, als hätte sie diese Alltagsbewegung nur choreografiert. Doch mit unnachahmlicher Anmut. Wie kann man so eine Frau nur betrügen, dachte er.

„Mein Mann ...“ Sie zögerte. „Mein Mann, nun, er ist nicht ganz unbekannt. Außerdem bekleidet er ein hohes Amt bei Gericht.“

„Auch Richter begehen Untaten“, sagte Tschusch. „Ich habe sogar von einem gehört, der seine eigenen Kinder ermordet hat.“

„Er ist kein Richter, Herr Barbár. Er ist Oberstaatsanwalt. Manchmal ist er sogar im Fernsehen. Deshalb ist die Angelegenheit ja so delikat“

Tschusch wurde hellhörig. Sein bester Freund Edmund Schröder, ein alter Klassenkamerad, war ebenfalls Oberstaatsanwalt. Und ebenfalls bekannt durch gelegentliche TV Auftritte, wo er stets den harten Hund gab. Die Frau nestelte in ihrer Handtasche, zog ein Foto heraus und legte es auf Tschuschs Schreibtisch. Es war Edmund.

„Dann sind Sie seine Frau?“

Eine zugegeben dumme Frage, doch hatte er die Frau seines Freundes nie gesehen. Er wusste, dass sich Edmund seiner schämte und ihn deshalb nie nach Hause einlud. Tschusch war ein mittlerweile ziemlich abgerissener Privatdetektiv und es gab Tage, da sah man ihm dies an.

Die Dame warf ihm einen verständnislosen Blick zu, sparte sich aber den Kommentar. Die Detektei war ihr von ihrer Freundin Sylvie empfohlen worden, deren Gatte Simon ein Doppelleben führte, eines mit ihr und eines mit einem Mann. Der Herr mit dem eigentümlichen Namen, der auch ein wenig so aussah, wie ein Barbár eben, hatte damals nicht nur die Homosexualität des Ehebrechers aufgedeckt, sondern auch, dass Simon und sein Verhältnis ein Kind adoptieren wollten, und das, obwohl er bereits mit Sylvie deren Drei gezeugt hatte.

Normalerweise wäre die Sache zu einem handfesten Skandal ausgeartet, denn Simon war ein zumindest in streng konservativen Kreisen angesehener Politiker, ein Rechtsausleger, der sich durch eine besonders scharfe Haltung gegenüber Minderheiten ausgezeichnete, ganz gleich, ob das nun Schwule oder Lesben, Asylsuchende oder Linksintellektuelle waren.

Der Herr Barbár jedoch hatte die Angelegenheit äußerst diskret behandelt und war nicht mit einer Enthüllungsgeschichte an die Presse gegangen, was wohl jeder andere an seiner Stelle getan hätte. Tschusch sah dies im Nachhinein zwar als einen Riesenfehler an, hätte er sich doch mit dem Geld, das ihm gewisse Medien garantiert geboten hätten, eine goldene Nase verdient und sich seiner finanziellen Nöte entledigt. Er hatte es sich selbst nicht erklären können, warum er sich so entschieden hatte. Wahrscheinlich hatte ihm die Frau des Politikers einfach leidgetan und Frauen waren nun mal seine große Schwäche.

Von all dem wusste Carola Schröder freilich nichts, als sie sich dem Detektiv anvertraute, in der Hoffnung, Edmund würde sie wenigstens mit einer Frau, am besten mit einer blutjungen Sexbombe betrügen und nicht mit einem Kerl. Tschusch indes stellte der potentielle Auftrag vor eine gewaltige Gewissensfrage. Immerhin war Edmund sein bester Freund, obendrein noch sein einziger. Es gab da zwar noch jemand, aber die Bekanntschaft mit dieser Person behielt er besser für sich. Er überlegte. Würde er den Job nicht annehmen, würde sich die Dame mit Sicherheit an einen Kollegen wenden und dann würde die Geschichte mies enden, falls Edmund tatsächlich fremdginge. Wenn er jetzt aber zusagte, könnte er wenigstens Einfluss auf den Lauf der Dinge nehmen und seinen Spezi möglicherweise warnen. Oder auch nicht.

„Gut, Frau Schröder“, sagte Tschusch. „Hier ist der Vertrag. Lassen Sie sich ruhig Zeit mit der Unterschrift. Wenn Sie möchten, nehmen Sie den Vertrag mit nach Hause und schlafen eine Nacht darüber. Dann können Sie immer noch ...“

„Nein, nein“, unterbrach sie ihn. „Wir regeln das jetzt gleich.“

Sie griff nach dem Kugelschreiber auf Tschuschs Schreibtisch und unterzeichnete die Vereinbarung, nachdem sie diese nur oberflächlich überflogen hatte. Jetzt hob sie den Kopf und blickte Tschusch tief in die Augen.

„Sie versprechen mir, dass Sie immer ehrlich zu mir sind, egal, was Sie herausfinden?“

Tschusch schluckte. „Natürlich. Ehrlichkeit ist eine meiner Grundprinzipien.“

Carola Schröder stand auf und streckte ihm die Hand entgegen, so energisch, dass Tschusch erschrak. Zaghaft nahm er ihre Hand und musste sich zurückhalten, keinen galanten Kuss darauf zu drücken, denn diese schmale zarte Hand war das edelste Körperteil, das er jemals angefasst hatte. So feine Knöchelchen, so butterweiches Fleisch, so samtige Haut ... Am liebsten hätte er diese Hand nie wieder losgelassen und errötete, als er merkte, dass er den Zeitpunkt artiger Konvention verpasst hatte. Als hätte er ein heißes Eisen angefasst, zog er seine Hand hastig zurück. Sie lächelte ihn an und wandte sich zum Gehen. An der Tür schien ihr noch etwas eingefallen zu sein. Sie drehte sich um und fragte Tschusch, ob er denn einen Vorschuss benötige, das sei doch wohl üblich.

„Aber nicht doch“, wehrte er generös ab, „wir sind ein seriöses Unternehmen, solch ein Geschäftsgebaren liegt mir fern.“

Als sie gegangen war, sank Tschusch in seinen Sessel und raufte sich die Haare. „Idiot“, schalt er sich, „verdammter Idiot.“

Der Vorschuss, selbstverständlich Vertragsbestandteil, war das einzige, was ihn über Wasser hielt. Er lebte von der Vorauskasse und das zunehmend schlecht. Drei Mieten war er bereits im Rückstand, zwei für die Wohnung und eine fürs Büro und wenn er nächste Woche nicht zahlen konnte, würden ihm die Stadtwerke den Strom abstellen. Und er? Spielte auch noch den Großkotz, unglaublich. Dann fiel ihm ein, dass es sicher Edmunds Geld gewesen wäre, denn soweit er sich erinnern konnte, arbeitete dessen Gattin nicht. Ein Stück Zufriedenheit kehrte ein, auch wenn er wusste, dass er sich wieder mal was vormachte. Irgendwann würde er Edmunds Geld nehmen müssen. Doch hatte er sich wenigstens für heute Ruhe vor seinem Ethos erkauft und das Gewissensgebiss war abmarschiert, jemand anders kneifen.

Er quälte seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche und zählte ein paar Münzen und einen letzten zehn Euro Schein. Für zwei Viertel und vielleicht mehr im „Halbmond“, seiner Stammkneipe, würde es reichen. Er konnte dort zwar anschreiben lassen, aber auf Dauer war das auch keine Lösung. Im Notfall könnte er seine Schwester Dragoslava anpumpen, beziehungsweise Judith, wie sie sich neuerdings nannte, nachdem sie vom orthodoxen Glauben zum Katholizismus konvertiert war und ihr Leben ganz in den Dienst der Heiligen Römischen Kirche stellte. Bei ihrem Bruder hieß sie seitdem nur noch Betschwester Judith, doch erfolgreiches Marketing hätte er sich von ihr gut und gerne abschauen können, denn seitdem sie das Kommando über die Gemeinde Sankt Martin übernommen hatte, konnte die Sonntagsmesse einen Besucherrekord nach dem anderen vermelden.

Tschusch aber zweifelte an ihren Managerqualitäten, seit er aus reiner Neugier einen der Gottesdienste besucht hatte. Seine Anwesenheit war bei den Gemeindemitgliedern auf geteiltes Echo gestoßen, nicht etwa, weil er als Privatdetektiv erkannt oder seine verwandtschaftliche Beziehung zu Judith ruchbar wurde. Nein, Tschusch hatte wieder mal provozieren müssen, sich eine Kippa aufgesetzt und, für alle sichtbar, eine gebundene Ausgabe des Koran mitgebracht, sodass er von Glück sagen konnte, nicht schon vor dem ersten Glöckchen Geläut von der groß gewachsenen Ministrantin hinausgeworfen zu werden. Die Ministrantin wiederrum entpuppte sich als Betschwester Judith und Tschusch begriff schnell, warum sich das Hochamt urplötzlich steigender Beliebtheit besonders bei Männern erfreute. Wo sonst nur alte Weiblein hockten und ihrer verstorbenen Gesponse oder wem auch immer gedachten, knieten nun mehr und mehr Herren gestandenen Alters, als wollten sie durch ihren Kniefall sich Judiths unverhohlener Erotik beugen.

Seine Schwester nämlich konnte machen, was sie wollte: auch unter dem bettlakenförmigen Ministranten Umhang waren ihre enormen Brüste nicht zu verstecken. Dass Judith darüber hinaus und speziell bei der Wandlung ihre kleinrosa Katzenzunge aus dem Mund hing und nur ein Schelm ihr dabei lüsternes Verhalten unterstellen konnte, mochte unfreiwillig zur dieser Art Peep-Show mutierten Heiligen Messe beigetragen haben. Tschusch aber wusste, dass Judith nicht absichtlich so handelte.

Schon während der Schulzeit, als sie im Ballett debütierte, war ihr beim pas de deux die Zunge herausgehangen und da konnte Mojca, ihre Mutter, im Publikum noch so oft die eigene Zunge herausstrecken, um ihr, ständig darauf deutend, nonverbal zu vermitteln, sie solle das Maul endlich schließen: Dragoslava alias Judith bestritt die komplette Aufführung, als probe sie für ein Sexfilm-Casting. Kein Wunder, dass sie später nach einer Probevorstellung beim Staatstheater nicht genommen wurde, selbst wenn die fouetté en tournants, Judiths wahnwitzige Pirouetten, die sogar einem tanzenden Derwisch die Sinne verwirrt hätten, von völliger Hingabe zeugten, ganz zu schweigen von ihren grand jettes, den großen Sprüngen, die zugegeben etwas Straußvogelhaftes an sich hatten und die meisten Tanzpartner panisch zur Seite hüpfen ließ, damit sie nicht von Judiths gewaltigen Beinmuskeln außer Gefecht gesetzt wurden.

Die gesetzten Herren indes, durch die Bank bislang kirchliche Abstinenzler, konnten sich offenbar nicht satt sehen an dieser Brunhilde im Ministranten Gewand und Judith sich nicht vor zweideutigen Angeboten retten. Gleichwohl hatte sie sich mit Leib und Leben dem Herrn Jesus verschrieben und so gingen die Lustknaben der ersten Reihen leider leer aus. Was für eine Verschwendung, mag da mancher geseufzt haben, war Judith doch anders als die meisten Kirchen- und Klageweiber durchaus gutaussehend, vorausgesetzt, man stand auf blasse Nonnengesichter.

Nur Tschusch ahnte den wahren Grund für Judiths ablehnende Haltung allem Geschlechtlichem gegenüber. Schon als sie noch Dragoslava war, hatte sie unter einer erstaunlichen Inkontinenz gelitten, einer Blasenschwäche, die sich unversehens freien Lauf verschaffen konnte und folglich für gewisse erotische Stellungen ungeeignet war.

„Lieber gar nicht vögeln, als ins Bett zu zwitschern“, hatte seine Schwester ihm damals unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit anvertraut. Und dabei war es vorerst geblieben.

**

Tschusch schaute auf seine Armbanduhr, eine gut gefakete Breitling. Es war zehn nach vier, Zeit für die Happy Hour im „Halbmond“.

„Ewig nicht gesehen“, begrüßte ihn Uschi, der Pächter der kleinen Eckkneipe in Tschuschens Straße. Uschi hieß eigentlich Ursula, Ursula Meyerhöfer, so stand es zumindest in seinem nagelneuen Pass. Früher hatte er Gernot gehießen, doch war das noch vor der Geschlechtsumwandlung. Nach mehreren Operationen war er, beziehungsweise sie, zu geschätzt drei Vierteln Frau und wenn die nächste OP dann noch das verbleibende Viertel kreieren würde, ganz und gar Grand Dame. So lange aber noch ein Rest Mann in oder an ihr, beziehungsweise ihm war, blieb sie für Tschusch „der“ Uschi.

„Wieso ewig“, sagte Tschusch, „ich war doch erst vor drei Tagen hier.“

„Eben“, sagte Uschi, stellte ihm sein Glas Veltliner hin und stakste auf beeindruckenden High Heels von dannen.

„Tolle Haxen“, bemerkte Tschuschs Tischnachbar, einer der daddelnden Senioren, die an den Geldautomaten im Halbmond ihre Rente verzockten und das, was davon übrigblieb, versoffen. Tschusch kuckte. Uschi trug einen seiner ultrakurzen Lederröcke und in der Tat, seine Beine hätten selbst einer absoluten Gourmetfrau zur Ehre gereicht. Tschusch nickte. Mehr Konversation war nicht. Der Alte widmete sich wieder seinem Bier und Tschusch seinem Wein. Er dachte nach.

Im Prinzip müsste er sich jetzt vor dem Justizgebäude, Edmunds Arbeitsplatz, postieren und prüfen, was der nach Büroschluss trieb. Er wusste, dass sein Freund meist mit der U-Bahn ins Amt fuhr, eigentlich gut für Tschusch, da der Gerichtsvollzieher seinen alten Toyota gepfändet hatte und ohne Auto war ein Detektiv kein Beschatter mehr, sondern Bestatter des eigenen Standes. Jemand in der U-Bahn zu verfolgen, war demnach ideal für ihn, doch würde Edmund ihn sofort erkennen, selbst wenn er sich verkleidete. Gewiss würde er ihn fragen, was er hier zu suchen habe, denn Edmund wohnte in Münchens Süden, im Stadtteil Harlaching, während er im Nordosten wohnte, in Haidhausen, in der Gegenrichtung sozusagen. Nur, was sollte er dann zu seiner Verteidigung vortragen? Tschusch war zwar ein passionierter Lügner, war doch ein gutes Gedächtnis die Voraussetzung für erfolgreiches Lügen, aber Edmund konnte er nicht anschwindeln, schließlich war er leitender Oberstaatsanwalt und schon von Berufs wegen prädestiniert, Lügner zu entlarven. Außerdem konnte er nicht glauben, dass Edmund fremdging. Edmund! In der Schule hatten sie ihn „Hendl“ genannt, weil er mit seinem dürren langen Hals und den ruckartigen Bewegungen seines kleinen Köpfchens durchaus an ein Huhn erinnerte. Und welche Frau war schon so pervers, sich ein Hühnchen zum Liebhaber zu nehmen? Dann fiel ihm Carola ein, die schöne Carola mit den wunderbaren Händen. Ihr einen Hang zur Sodomie zu unterstellen, war dann doch des Guten zu viel.

Gerade als er begann, sich so richtig in seinen Ärger hineinzusteigern, dass er den Auftrag von Edmunds Frau angenommen hatte, was unweigerlich zu mehr als zwei Gläsern Wein geführt hätte, klingelte sein Handy. Stefan Röhlich war am Apparat, ein ehemaliger Kollege, der sich ebenfalls selbständig gemacht hatte, aber ungleich effektiver als Tschusch arbeitete, der sich, weil er seinen Job so furchtbar ernst nahm, immer wieder in Kleinigkeiten verzettelte.

„Hast du Zeit“, fragte Stefan, wie immer kurz angebunden.

„Schwerlich“, log Tschusch, „ich stecke gerade in einer großen Sache. Worum geht es denn?“

„Überwachung von Blaumachern.“

„Schülern?“

„Nein“, sagte Stefan, „Angestellten. Es feiern wieder mehr Leute krank als früher und die Chefs gehen dem nach und beauftragen Detekteien zur Überwachung. Aber wenn du eh keine Zeit hast.“

Das Vorgehen der Arbeitgeber fand Tschusch zwar unmöglich, andererseits brauchte er dringend Geld. „Gibt es denn einen Vorschuss?“

„Logisch“, sagte Stefan. „Ohne Vorschuss rühr ich keinen Finger. Ich geb dir zweihundert.“

„Zweihundert? Bisschen wenig, oder?“ Tschusch war klar, dass Stefan wesentlich mehr kassierte.

„Kein Problem“, erwiderte Stefan. „Ich kann den Auftrag auch einem anderen zuschanzen. Insgesamt springen vierhundert für dich raus, vierhundert pro überwachter Person. Aber du bist wohl bessere Preise gewohnt. Na dann ...“

„Schon in Ordnung“, beeilte sich Tschusch. „Weil du es bist.“

„Okay. Ich maile dir die Unterlagen zu. Hast du noch die alte Mailadresse?“

„Ja“, antwortete Tschusch. „Aber der Anschluss ist defekt. Und du weißt ja, wie lang es dauert, bis da mal jemand kommt. Schick mir die Sachen einfach per Post. Das Geld kannst du gleich mit reinpacken. Ist ja auch praktischer so.“

Stefans Grinsen war sogar durchs Telefon zu spüren. Tschusch fühlte, wie die Schamesröte ihm das Gesicht färbte. Wenigstens war Stefan so taktvoll, nicht weiter nachzuhaken und sagte zu. Festnetz und Internet waren Tschusch schon vor Wochen gesperrt worden, weil er ständig im Zahlungsrückstand war. Da kamen die zweihundert Euro gerade recht. Er beschloss, ab sofort gute Laune zu haben und orderte einen weiteren Veltliner. Nach einem dritten Glas hatte er Lust auf Widerborst. Er erhob sich, ging zur Theke und verlangte vernehmlich nach der Rechnung.

Uschi schaute ihn an, als wäre er verrückt geworden. „Die Rechnung?“

„Logisch“, tat Tschusch, als sei es das Natürlichste auf der Welt, dass er bezahlte.

„Du bist sicher, dass du nicht anschreiben willst?“

„Uschi!“ Tschusch wurde lauter. „Wenn ich sage, die Rechnung bitte, dann meine ich das auch so.“

Uschi schüttelte verwundert den Kopf. „Das ist mir neu. Aber wenn du unbedingt willst: macht elf siebzig.“

Tschusch kramte den letzten zehn Euro Schein hervor und knallte ihn auf die Bar. „Stimmt so“, brummte er und verließ türknallend den Halbmond.

Draußen, im Licht der Sonne, wurde ihm bewusst, wie daneben er sich soeben benommen hatte. Es tat ihm leid, aber zurück wollte er nun auch nicht mehr. Er ging die Straße entlang, seine Straße, nicht umsonst Kirchenstraße benannt. Kirchen nämlich lauerten einem hier an jeder Ecke auf. Er selbst wohnte sogar gegenüber einem Gotteshaus, einem katholischen selbstredend, Sankt Johann Baptist, dem Konkurrenzunternehmen zu Judiths Gemeinde Sankt Martin. Tschusch empfand die Häufung so vieler Kirchen tatsächlich als Konkurrenz. Wenn sie ihn am Sonntagmorgen um zehn Uhr mit ihrem gnadenlosen Glockengeläut aus dem Bett scheuchten, kam es ihm vor, als wolle eine Pfarrei die andere an Lautstärke überbieten, Kirchen über Kirchen, die hundsgemein um seine Gunst warben. An Religion jedoch reichte ihm der tägliche Blick auf den Kirchturm. Schlimm genug, dass er zudem auf den Friedhof schauen musste, wo er doch eine natürliche Scheu vor Begräbnisstätten hatte. Einmal nur hatte er den Versuch gewagt, den nachbarlichen Gottesacker zu betreten, war aber schon am Eingang an drei schmiedeeisernen Kreuzen gescheitert, von denen gleich zwei an die Cholera Epidemien in München erinnerten, eine im Jahr 1836 und die andere kurz darauf, 1854. Cholera: das war doch nur was für südliche Länder und bestimmt nichts für einen österreichischen Münchner wie ihn und vielleicht lag da ja noch was in der Luft oder der Boden war kontaminiert; kein Wunder jedenfalls, dass er sich oft so schlapp fühlte.

Trotzdem mochte er seine Straße, sein Viertel, das ehemalige Franzosenquartier. Obwohl seit langer Zeit vor allem bei jungen Leuten angesagt, war es nur partiell gentrifiziert. Noch immer lebten hier Alteingesessene, geborene Haidhauser. Noch immer gab es die Subkultur der Eckkneipen, die kleinen Fluchtwelten der Uschis und wie sie alle hießen.

Er liebte die vielen Kleinhäusler Gebäude, die einen glauben machten, in einem Dorf der Jahrhundertwende zu wohnen, in einem Dorf im Millionendorf München, in dem es noch geheime Hinterhöfe und versteckte winzige Parks gab, das schmale Glück im Gewinkel. Tschusch schätzte das kunterbunte Haidhausen, das ihn manchmal an das Bullerbü der Bilderbücher seiner Kindheit erinnerte, ein Stadtquartier, in dem sich allerlei Kulturen im Wohlgefühl eingenistet hatten, italienische Cafes und griechische Schänken, portugiesische Bars und japanische Restaurants. Und wem hätte das nicht gefallen, dies scheinbar zwanglose Miteinander von Reichen und Armen, Singles und Familien, Aus- und Inländern, Künstlern und Spießern, Punks und Trachtlern. Haidhausen war ein Viertel der Flaneure und Tschusch war einer davon.

Nur der Friedhof störte, aber er musste ja nicht nochmal hinein. Den Friedhof besuchten eh nur alte, schwarz gekleidete Leute, die gravitätisch wie die Raben durch die Gräberreihen stelzten und sich von so viel Morbidität offenbar magisch angezogen fühlten, als würden sie schon mal Probe liegen wollen. Tief in den Gedanken versunken, dass physiognomisch beinahe jedem Menschen ein Vogel zuzuordnen war, fand er sich unversehens vor den Schaufenstern eines Möbelhauses wieder. Es war das Geschäft, in dem er einige Wochen als Hausdetektiv herumgeschnüffelt hatte, bevor ihm fristlos gekündigt worden war, weil er in der Stofftierabteilung klauenden Kindern zu viel hatte durchgehen lassen. Um genau zu sein, hatte er keines der Kinder des Diebstahls überführt, nur zum Schein gestellt, um sie dann „husch, husch“ fortzuscheuchen, ohne ihnen das Diebesgut abzunehmen.

Leider war Tschusch von einem zweiten Detektiv dabei gefilmt worden und konnte am Ende froh sein, dass die Geschäftsleitung auf eine Strafanzeige verzichtete. Ohne daran zu denken, dass er hier Hausverbot hatte, trat er ein. Er fühlte sich sofort heimisch, was freilich auch an den fantastisch bequemen Wohnlandschaften lag, die einen geradezu zum Platz nehmen einluden. Tschusch fläzte sich auf eine geblümelte Scheußlichkeit und glotzte herausfordernd in Richtung der Verkäufer. Er hatte, zumal angetrunken, jetzt erst richtig Lust auf Stunk. Niemand aber kümmerte sich um ihn, eines seiner größten Betrübnisse. Seine Unauffälligkeit war legendär. Er besaß ein akzentfreies Gesicht, an dem jeder Blick abglitt. Er war weder groß noch klein, weder schön noch hässlich, nicht dick, nicht dünn und die Farbe seiner Haare und Augen hätte nicht einmal seine Mutter beschreiben können. Obwohl ihn dieses Nichtssagende für einen Detektiv qualifizierte, litt Tschusch darunter. Man erinnerte sich einfach nicht an ihn, sodass ihn manchmal das Gefühl beschlich, er existiere gar nicht.

Die Verkäufer, die an der Theke auf der Suche nach einem Opfer, sprich Kunden, herumlungerten, sahen zwar zu ihm herüber, doch sie erkannten ihn nicht, dabei waren seit seiner Entlassung erst drei Monate vergangen.

Tschusch war bereits am Eindösen, als er von Stimmen geweckt wurde. Ein Ehepaar in den besten Jahren, wie man so trefflich die kurze Spanne vor dem Exitus umschrieb, hatte die Couch nebenan in Beschlag genommen. Der Mann hantierte mit einem Zollstock herum und maß das Monstrum ihrer offensichtlichen Sehnsüchte von vorn bis hinten ab. Die Frau saß bereits in einer Entschlossenheit auf dem Sofa, als wolle sie nicht mehr aufstehen, bis das Ding gekauft war. Ihre Beine hatte sie gerade wie Esstischfüße hin gestampft und ihre Hände in eine gewaltige, cremefarbene Handtasche auf ihrem Schoß verkrallt. Tschusch ahnte: Diese Dame wollte die Couch, und zwar mit aller Macht. Der Mann indes pfriemelte so lange an den Maßen, bis er triumphierend verkünden konnte, dass das Teil zu groß für ihr Wohnzimmer sei. Und Tschusch ahnte: Der wollte gar keine neue Couch. Er entschied, der Frau ein wenig beizustehen, sonst hatte sie keine Chance gegen den Vermessungskünstler.

„Verdammt gute Couch“, sagte er laut und nickte anerkennend. „Meine Eltern haben die gleiche daheim. Nur der Bezug ist anders.“

Sofort tauchte der Mann hinter dem Sofa ab, als müsse er dort auch noch messen.

Sie jedoch biss an. „Ach ja? So ein Zufall aber auch! Und, sind Ihre Eltern zufrieden damit?“

„Aber ja doch, gute Frau“, antwortete Tschusch. „Zufrieden ist gar kein Ausdruck. Sie besitzen das Sofa schon seit sechs Jahren und es sieht immer noch wie neu aus, obwohl sie zwei Katzen haben und einen Hund. Der Manni, der Mops, der ist … naja, der ist schon älter und ein bisschen inkontinent, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber gerade daran sieht man, wie toll die Qualität ist.“

Die Frau strahlte. Nur ihr Gatte gab so leicht nicht auf.

„Mamma“, sagte er, „die Garnitur ist zu lang, ganze siebzehn Zentimeter. Das hat doch keinen Zweck.“

„Wieso“, fragte Tschusch und nahm ihn voll ins Visier. „Ist jetzt der Raum zu klein oder müsste man nur etwas umstellen, damit das Sofa reinpasst?“

Der Mann versuchte, Tschusch weiter zu ignorieren und sprach nur zu seiner Frau, doch war sie bloß sein Medium, erkannte Tschusch, sein Medium Mamma und das seit sicherlich vierzig Jahren.

„Der Beistelltisch von Tante Anni. Wo soll der denn hin?“ Er schaute sie an, meinte aber Tschusch.

„Der Beistelltisch von Tante Anni“, wiederholte Tschusch und legte eine Pause ein, als müsse er über das Problem erst nachdenken. „Hmmh. An dem soll es wohl nicht scheitern oder? So eine schöne Couch.“

Die Frau, eifrig nickend, schenkte Tschusch einen dankbaren Blick.

„Herrschaften, wenn ich einen Vorschlag zur Güte machen dürfte.“

Tschusch erhob sich und stellte sich breitbeinig vor das umstrittene Objekt der Begierde. Der Mann, der immer noch mit seinem Meterstab herumfingerte, kam ihm jetzt nicht mehr aus.

„Könnte der Tisch von der Tante Anni nicht ein hübsches Plätzchen im Flur kriegen? Mit einer netten Vase darauf und einem Strauß Trockenblumen sähe das sicher super aus. Ich finde nämlich, dass die Korridore sträflich vernachlässigt werden, dabei sind sie doch die Visitenkarte einer jeden Wohnung. Und mit so Trockenblumen wirkt das gleich freundlicher.“

Tschusch hasste Trockenblumen, doch wettete er, dass die Frau sie mochte, so wie sie nun kuckte.

„Ja, Babba“, sagte sie und strahlte wieder, „dass wir da nicht selber draufgekommen sind. Da muss erst so ein netter junger Herr helfen. Und recht hat er.“

Tschusch grinste innerlich. Der Babba wehrte sich zwar noch, obwohl er wusste, dass er diesen Kampf verloren hatte. Doch er war geschwächt und Tschusch holte zum entscheidenden Schlag aus: Er griff über den Preis an.

„Warum nehmen Sie die wunderbare Couch nicht gleich mit? Die steht garantiert zum Verkauf und da können Sie einen ordentlichen Ausstellungsrabatt herausschlagen.“

Tschusch war sich sicher, dass das zog. Wenn solche Leute das Wort Rabatt hörten, schaltete das Hirn automatisch ab. Die zwei waren noch von der Generation, die Rabattmarken geklebt hatte und tatsächlich blickte der Mann ihm zum ersten Mal ins Gesicht.

„Wirklich? Und was meinen Sie, was das ausmacht?“

„Mindestens dreißig Prozent“, erwiderte Tschusch, „wenn nicht mehr. Aber das haben wir gleich!“

Tschusch hatte bemerkt, dass sich einer der Verkäufer vorsichtig genähert hatte, angelockt von ihrem Gespräch. Er kannte den Mann. Es war Herr Weihrauch, einer der ungeschickten Sorte, stets zwischen Aufdringlichkeit und Resignation schwankend. Tschusch winkte ihn heran.

„Darf ich vorstellen“, sagte er mit generöser Geste, „das ist Familie ...“

„Prechtl“, sagte der Babba und richtete sich zu voller Größe auf.

„Die Familie Prechtl, genau. Die Herrschaften interessieren sich für dieses Sofa hier, Herr Weihrauch. Ist das nicht fantastisch?“

Der Rest war dann Formsache. Tschusch handelte vierzig Prozent Nachlass heraus und hatte somit drei Menschen beglückt: Herrn Weihrauch, der endlich wieder ein Erfolgserlebnis zu verzeichnen hatte. Mamma Prechtl, die ihre Couch am Ende doch noch bekam und Babba Prechtl, weil er glaubte, das Geschäft seines Lebens gemacht zu haben. Und Tschusch selbst? War auch wieder besserer Laune.

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