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Schritt 4

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Es klingelte. Tschusch blickte auf den Wecker. Schlag neun Uhr, Judith war wie immer überpünktlich. Einmal im Monat kam sie zu ihm zum Saubermachen, weil sie seinen „Saustall“, wie sie sagte, nicht ertrug. Doch warum läutete sie, wenn sie doch einen Schlüssel besaß? Er öffnete die Türe. Vor ihm stand Gustl Scharfreiter, sein persönlicher Gerichtsvollzieher und grinste.

„Überraschung“, fröhlichte er. „Da schaust du, was?“

„Scheiße“, entfuhr es Tschusch, „ich dachte, es ist Judith.“

„Deine Schwester hat doch einen Schlüssel“, sagte Gustl.

„Woher weißt du das“, fragte Tschusch verdutzt.

„Ich bin Gerichtsvollzieher, Tschusch, schon vergessen? Judith kommt gleich, ich habe sie unten auf der Straße gesehen.“

„Was willst du? Du warst doch erst vor zwei Wochen da.“

„Vor acht Wochen, Tschusch, vor acht Wochen. Aber du hast so viele Gläubiger und die machen mir pausenlos Druck. Meinst du, mir macht das Spaß? Ich habe den Leuten schon gesagt, dass bei dir so viele Kuckucks kleben, dass ich gar nicht mehr weiß, wo ich das nächste Pfandsiegel hinpappen soll. Aber es gibt halt welche, die sind hartnäckig.“

„Kuckucke“, berichtigte Tschusch. „Die Mehrzahl von Kuckuck ist Kuckucke, nicht Kuckucks.“

„Schön“, fand Gustl. „Und wie ist der wissenschaftliche Name, wenn wir schon bei Vögeln sind?“

„Cuculus canorus“, sagte Tschusch stolz.

Im Türschloss drehte sich ein Schlüssel. Judith kam herein, nicht im Geringsten verwundert, als sie den Gerichtsvollzieher sah.

„Hat er wieder was angestellt“, war die Begrüßung. Ihrem Tonfall nach zu schließen fragte sie schon gar nicht mehr danach. Sie setzte es bereits voraus.

„Nein“, sagte Gustl. „Nichts Neues, nur Altlasten.“

Tschusch schwitzte. Er wusste, dass Judith nie log. Wenn Gustl sich nun bei ihr bezüglich seiner Einnahmen erkundigte, würde es schlecht mit den zweitausend Euro ausschauen. Er versuchte abzulenken, streifte seinen Hemdsärmel hoch, machte wortlos die gefälschte Breitling Armbanduhr ab und reichte sie Gustl.

„Was soll ich damit“, fragte der, „die ist doch sicher nicht echt.“

„Natürlich nicht“, sagte Tschusch. „Aber es ist alles, was ich habe.“

Der Gerichtsvollzieher schaute ihn mitleidig an. „Ach Tschusch! Mir kommen gleich die Tränen. Behalt die Uhr! Hat sich sonst was ergeben, neue Aufträge, Vorauskasse vielleicht?“

„Er hat Geld gekriegt“, bestätigte Judith, obwohl Tschusch ihr hinter Gustls Rücken eindeutige Zeichen gab. „Zweitausend Euro.“

Tschusch sackte in sich zusammen.

„Aha.“ Gustls Augenbrauen flogen nach oben, als wollten sie sein Gesicht verlassen.

„Aber es ist nicht für dich, beziehungsweise die Gläubiger“, bestimmte Judith. „Ich verwalte das Geld, außerdem hat er noch so viel Schulden bei mir, die muss ich erst abziehen.“

Tschusch blies die Luft aus seinen Backen. Das hätte er Betschwester Judith gar nicht zugetraut.

„In Ordnung“, beschied Gustl. „Offiziell weiß ich von nichts. Dann setzen wir jetzt das Protokoll auf, Tschusch. Du kennst das Prozedere ja.“

Nachdem Tschusch die eidesstattliche Versicherung abgegeben hatte, früher schonungslos Offenbarungseid genannt, die wievielte, wusste nicht einmal er noch, verabschiedete sich der Gerichtsvollzieher von Judith, ohne die Wohnung nochmals zu kontrollieren. Nur am Prickel Pit Automaten blieb er stehen und zog eine Packung mit Zitronengeschmack heraus, seine Lieblingssorte.

„Und, wann gehen wir mal wieder einen heben“, fragte er Tschusch an der Tür.

„Wenn du zahlst“, feixte Tschusch, „von mir aus morgen.“

„Einverstanden“, sagte Gustl, „morgen um zwanzig Uhr im Halbmond.“

Inzwischen hatte Judith mit dem Saubermachen angefangen. Sie putzte, wie sie immer bei Tschusch putzte: In stummer Wut schrubbte sie den Holzboden im Wohnzimmer, tat ihm fast Gewalt an, als trüge der an allem Schuld, am Ende gar am multisuizidalen Drama der Familie Bárbar. Der Selbstmord nämlich hatte Tradition im Hause Bárbar und ein jeder hatte ihn auf seine Weise realisiert.

Mojca, die Mutter, hatte einen wirklichen, sozusagen süßen Suizid verübt. In einem Anfall von Endzeitlichkeit hatte sie sich vor zwei Jahren, obschon hochgradig zuckerkrank, drei Torten beim Konditor Jandl bestellt, eine Mandel-, eine Marzipan- und eine Buttercremetorte. Letztere, für die Jandl berühmt war, hatte sie leider nicht mehr erlebt, denn als sie sich bewusst des Nachts die Torten hineinschob, kollabierte sie bereits während der Marzipanbombe und starb an Zuckerschock. Zeitlebens hatte sie auf Diät leben müssen, zeitlebens den Süßigkeiten entsagen, wiewohl sie verrückt danach war. In einem Abschiedsbrief, dem man auf dem Wohnzimmertisch fand, gestand sie, dass sie sich – expressis verbis - einmal noch hatte vollfressen wollen, einmal nur in fettem Marzipan schwelgen, in süßer Buttercreme und dann.... tschüss!

Vater Marjan wiederrum hatte – reine Spekulation - den ornithologischen Suizid gewählt oder wer oder was auch immer Hand oder Feder an ihn gelegt hatte. Seine Leiche war ja nie gefunden worden und Mutters Schnapsidee, dass der alte Bárbar sich in einen Vogel verwandelt habe, hatte Tschusch in seiner Eigenschaft als Privatdetektiv von vorneherein angezweifelt. Er vermutete, dass sein Vater noch am Leben sei und schon längst jemand anders vögelte.

Was Judith anbetraf, so war ihre Suizidal Methode nicht so leicht zu durchschauen, handelte es sich dabei doch um eine schleichende. Als Braut Jesu hatte sich Judith den sexuellen Selbstmord aufs Banner geschrieben und Tschusch vertrat die These, dass enthaltsam lebende Menschen früher sterben als promiskuitiv agierende und wurde darin von führenden Sexualwissenschaftlern seiner Zeit bestätigt. Geschlechtliche Askese, so Tschusch, sei also nichts anderes als eine versteckte Todessehnsucht, ähnlich der Bulimie.

„Wer sich wessen auch immer enthält“, hatte er seinem Freund Edmund einst in einer stillen Stunde verraten, „hat bloß keine Lust aufs Leben.“

Allerdings war dies noch vor Carola Schröders Auftritt in seinem Büro gewesen, denn mit fremdgehenden Männern hatte er es bekanntlich nicht so. Treue jedoch forderte Tschusch hauptsächlich von anderen ein. Er war ja nie verheiratet gewesen und Untreue gab es seiner Meinung nach sowieso nur in eheähnlichen Verhältnissen.

Sich selbst hätte er suizidale Neigungen natürlich nie und nimmer zugeschrieben, doch jeder, der ihn kannte wusste, dass er seit Jahren monetären Selbstmord verübte.

Nach sechs Stunden aufreibender Intensivreinigung war Judith mit dem Putzen fertig. Tschusch hatte zuerst in dem Nachrichtenblatt gelesen, dass er sich gestern aus dem Zeitungsständer geliehen hatte, es sich richtig kommod machen wollen, am Ende aber Judiths vorwurfsvolle Blicke nicht mehr ertragen. Schließlich hatte er sich nach draußen verdrückt, die Beschattung eines untreuen Ehemanns vortäuschend, etwas, das Judith gern hörte, hielt sie doch alle Männer für Schweine, von wenigen Ausnahmen wie den Herren Pfarrer und Jesus abgesehen.

In der Tat hatte sich Tschusch zum Haus des alten Dr. Gasteiger begeben, wobei noch gar nicht erwiesen war, ob Florentines Mann auch wirklich einer lüsternen Leidenschaft frönte. Wieder war der gute Friedrich nicht zu Hause und wieder war es in der Wohnung totenstill gewesen, als Tschusch eine halbe Ewigkeit im Treppenhaus ausharrte und vergeblich auf ein menschliches Geräusch aus der Wohnung hoffte. Doch nichts war zu hören, keine Schritte, kein Hüsteln, geschweige denn verdächtiges Stöhnen.

Natürlich hatte er sich bei seiner Auftraggeberin erkundigt, ob ihr werter Gatte inzwischen wieder nach Hause gefunden hatte, doch war Madame sofort in heftiges Weinen ausgebrochen, Tschusch signalisierend, dass er leider falsch lag und besser nicht gefragt hätte.

Als Tschusch kurz darauf seine Wohnung betrat, roch sie fremd. Nicht würzig, wie üblich. Nicht nach vergorenem Wein aus nicht ganz geleerten Flaschen, nicht nach muffiger Schmutzwäsche und nicht nach Mäusedreck wie sonst. Nicht gemütlich, mit anderen Worten. Es roch scharf, nach WC Reiniger, Entkalker Tabs, Spülmittel und sonstiger Toxika, war Judith doch der Auffassung, dass man derart von Dreck kontaminierte Zimmer nur mit effizientem Gegengift sauber bekam.

Nun aber war sie an der Reihe, beziehungsweise der liebe Jesus. Tschuschs Gegenleistung für ihre Putzdienste bestand darin, dass sich ihr „heidnischer Herr Bruder“, wie sie sich auszudrücken pflegte, eine Stunde aus der Bibel vorlesen lassen musste, meist Stellen, die irgendetwas mit Sünde zu tun hatten und Tschusch zu entsprechend demutsvoller Haltung zwangen. Äußerlich. Innerlich war er anderweitig beschäftigt. Nach wie vor ließ diese seltsame Entführung ihn nicht zur Ruhe kommen. Er musste herauskriegen, wer der Gekidnappte war, doch wie sollte ihm das gelingen? Edmund fiel ihm ein. Sein Kumpel hatte ihm schon öfter geholfen, wenn es um Dinge ging, die für einen einfachen Privatdetektiv eine Nummer zu groß waren. Und er hatte ihm hie und da ein paar kleinere Aufträge zugeschanzt, für welche die Polizei keine Zeit hatte oder die zu heikel waren, um von Amts wegen bearbeitet zu werden. Oder einfach nur illegal. So wie damals, als Edmund als Jüngster seit Gründung der Behörde zum Oberstaatsanwalt hätte berufen werden sollen, aufgrund seiner hervorragenden Leistungen selbstverständlich. Am Ende aber war sein ärgster Konkurrent bevorzugt worden, offiziell, weil der um einiges älter als Edmund war und somit den Gesetzen der Arithmetik nach schlichtweg an der Reihe. Weil der das richtige Parteibuch gehabt hatte, hatte Edmund gleichwohl spekuliert und sich vorgenommen, der Sache auf den Grund gehen. Dass mit dem Mann, einem gewissen Thorsten Bronsky, etwas nicht stimmte, hatte Edmund schon immer geahnt und folglich Tschusch auf seinen Widersacher angesetzt. Die Angelegenheit hatte sich damals als äußerst diffizil erwiesen, da dieser Bronsky nicht aus Bayern, sondern aus Brandenburg stammte und jedes Wochenende nach Hause fuhr, zu seiner Mutter, ein Umstand, der eine Beschattung ziemlich erschwerte. Doch gab es noch mehr Ungereimtheiten in Bronskys Leben.

Da war einmal die Geburtsstätte des Verdächtigen, Klein Bademeusel. Das Kaff existierte wirklich, wie Tschusch sich persönlich vor Ort überzeugen konnte. Es lag direkt an der polnischen Grenze und hatte auch deshalb sofort Edmunds Argwohn erregt, hielt er Bronsky nicht nur des Nachnamens wegen für einen verkappten Polen, da konnte der sich so oft Thorsten nennen wie er wollte. Sein Abitur und auch das Jus Examen hatte der Kerl in der ehemaligen DDR absolviert, angeblich an der Uni Leipzig. Bei seinen Nachforschungen jedoch war Tschusch auf Unerhörtes gestoßen. Es stimmte zwar, dass Bronsky in Leipzig studiert hatte, allerdings nicht Jura, sondern Theaterwissenschaft. Mit anderen Worten, Bronsky war ein Betrüger und kurz darauf nicht nur seinen Job los, sondern auch seine Freiheit und der selige Edmund konnte endlich zum Oberstaatsanwalt befördert werden.

„Tschusch!“ Erschrocken blickte er auf. Judith röntgte ihn mit ihren Magnet-resonanzaugen, wohl bemerkend, dass ihr Bruder völlig abwesend war. „Hörst du überhaupt zu?“

„Sicher“, stammelte er.

„Und bei welcher Bibelstelle war ich gerade?“

„Naja“, riet Tschusch ins Blaue hinein, „bei der Geschichte, als Petrus den Herrn Jesus dreimal verleugnet.“

Judith verzog das Gesicht und murmelte etwas wie: „Schwein gehabt.“

Offenbar hatte er die korrekte Stelle getroffen, aber allzu schwer war das nicht, denn Betschwester Judith trug sie relativ häufig vor. Sie klappte das Buch zu und sagte, dass für heute Schluss sei. Tschusch atmete auf. Obwohl sie zwei Jahre jünger als er war, gerierte sie sich stets als seine Ersatzmutter und hoffte immer noch, ihn zu einem wahren Christenmenschen erziehen zu können. Warum er sich das alles gefallen ließ, wusste er selbst nicht. Wahrscheinlich war er einfach zu träge, um ihr die Hoffnung zu nehmen. Außerdem mochte er seine Schwester, so unterschiedlich sie auch waren.

Kaum hatte Judith die Wohnung verlassen, rief er Edmund an und erzählte ihm von der Entführung. Edmund nahm ihn durchaus ernst. Er kannte Tschusch seit über dreißig Jahren und wusste in etwa, wann sein Freund Unsinn redete und wann nicht.

„So lange niemand als vermisst gemeldet wird“, sagte Edmund, „kann ich da wenig machen. Möglicherweise hast du recht und das Opfer ist Ausländer, deshalb haben wir hier nichts vorliegen. Vielleicht ist er ja Österreicher, so wie du. Ich werde mal bei meinen Kollegen in Salzburg nachfragen lassen. Kann ja sein, dass dort jemand verschwunden ist. Du hörst von mir.“

Tschusch ärgerte sich, obwohl Edmund ihm von Anfang an Glauben schenkte. Er ärgerte sich, weil Edmund ihm wieder den Österreicher vor die Nase gehalten hatte. Nicht, dass Tschusch etwas gegen sein Geburtsland hatte, doch hasste er es, auf eine Nationalität reduziert und damit mal wieder, wenn auch auf subtile Weise, ausgegrenzt zu werden. In Österreich war er immer der Jugo gewesen, hier in Deutschland ein Ösi, folglich jedesmal Angehöriger eines nicht ganz ernst genommenen Völkchens. Als er einst, als er ausnahmsweise etwas Geld verdient hatte, nach Kroatien in die Ferien gefahren war, hatte man ihn ob seines Nachnamens sogleich als Slowenen identifiziert und ein Jahr später, im Urlaub in Montenegro, für einen waschechten Kroaten gehalten. In Serbien, bei der Rückreise, hatte man ihn als Montenegriner verunglimpft und damals, da er dem Betrüger Bronsky auf der Spur gewesen war, hatten ihn linke Leipziger Chaoten als Scheiß-Wessi beschimpft und in Klein Bademeusel gewisse Glatzen in Springerstiefeln als Pole, nur, weil er ein verrostetes Auto gefahren hatte.

Vor allem ärgerte er sich über sich selbst, weil er ein schlechtes Gewissen gegenüber Edmund hatte und so beschloss er, sich schnellstmöglich mit ihm zu treffen und ihm reinen Wein einzuschenken. Um sein Mütchen zu kühlen, ging er nochmals auf die Straße, Bewegung aufnehmen, Ballast abwerfen. Ziellos mäanderte er durch die Stadt. Es war bereits zwanzig Uhr, die Stunde der Ruhe, wenn die meisten noch beim Essen saßen oder vor den Nachrichten hockten, die letzten Geschäfte schlossen und die Nachtschwärmer noch nicht unterwegs waren. Tschusch mochte diese Spanne der Unentschiedenheit, da der Tag noch nicht zu Ende und die Nacht noch nicht begonnen hatte, wenn es noch ein bisschen hell war, aber zu kalt, um schon draußen zu sitzen. Wenn nicht entschieden war, wer von den Leuten auf der Straße Single und wer gebunden war. Wenn er niemand beneiden musste ob dessen privatem Glück, wenn er einfach einer unter vielen war.

Es war eine klare Nacht. Man konnte die Sterne sehen und einen infantil gezeichneten Sichelmond, als habe ein Kind ein Stück gelbes Papier ausgeschnitten und in den Nachthimmel geklebt. Über eine Stunde war er durch die Gegend marschiert und fand sich eher zufällig nahe der Gewürzmühlstraße wieder. Tschusch nutzte die Gelegenheit und schaute bei Gasteigers Haus vorbei. Die Fenster waren dunkel und auch sein wiederholtes Klingeln wurde nicht beantwortet. Der Mann schien nie daheim zu sein. Irgendetwas stimmte da nicht.

eins vorwärtsfallen

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