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Schritt 2

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Tschusch hatte verschlafen. Als er, ungewaschen und zähneputzlos, von seiner Wohnung ins Büro eilte, stand die potentiell neue Kundin bereits vor der Tür. Wichtige Termine vorschützend, entschuldigte er sich geflissentlich, doch schien es der Dame nichts auszumachen, dass sie zwanzig Minuten hatte warten müssen. In der Tat war es eine richtige Dame, die nun mit Auftrag drohte. Sie mochte Anfang Siebzig sein und strahlte die Eleganz verblichenen Großbürgertums aus, als die Herrschaften noch über eine Schar von Dienstboten befehligten und sonntägliche Matineen gaben. Dennoch wirkte sie sehr schüchtern. Sie sprach leise und schlug oft die Augen nieder, als schäme sie sich, einen Detektiv beauftragen zu müssen oder überhaupt hier zu sein, in einem spartanisch möblierten Büro bei einem abgerissenen Privatschnüffler. Tschusch bemühte seine besten Manieren, sah die Frau, eine gewisse Florentine Gasteiger, doch nach Geld aus. Nach altem Geld, wohlgemerkt.

„Was kann ich für Sie tun, Madame“, ließ sich Tschusch vernehmen, nachdem man sich gegenseitig mit gepflegter Konversation die Nasen blasiert hatte.

„Nun“, sprach sie, „die Angelegenheit ist etwas heikel. Ich darf doch um absolute Diskretion bitten?“

Es waren die Sätze, die jeder Privatdetektiv zur Genüge kannte, das Eröffnungsritual vor allem der weiblichen Kundschaft, deren Anliegen fast immer die Untaten ihrer Ehemänner betrafen. Auch Florentine Gasteiger hatte Ähnliches auf dem Herzen: der werte Gatte war verschwunden. Aber nicht ganz.

„Wie darf ich das verstehen“, erkundigte sich Tschusch höflich, „was bitte bedeutet nicht ganz?“

Florentine Gasteiger blickte an ihm vorbei, durch das Schaufenster auf die Straße hinaus, als suche sie dort nach ihrem Mann. Sie schwieg. Tschusch nickte ihr aufmunternd zu, bis sie begriff, dass sie wohl antworten müsse.

„Er ist von zu Hause ausgezogen“, brachte sie schließlich mühsam heraus, „in eine Wohnung.“

Wie sie das aussprach, dachte Tschusch: eine Wohnung. Als wäre das etwas Unschickliches.

„Hat er sich von Ihnen getrennt?“

„Nein“, sagte die Frau schnell, „nein. Er ist nur weg.“

„Verzeihen Sie, wenn ich Sie das frage, Madame: ist er etwa zu einer anderen Frau gezogen?“

„Wie kommen Sie darauf“, gab sie entrüstet zurück. „Nie im Leben würde mein Mann so etwas machen, nie im ...“ Sie brach abrupt ab, um sich leise zu wiederholen, „nie im Leben.“

„Gut“, beschied Tschusch, dem Florentine Gasteiger wie die meisten seiner Kundinnen leidtat, litt sie doch offensichtlich unter der Situation. „Was kann ich dann für Sie tun, ihn zurückbringen?“

„Bitte ja“, sagte sie. „Bringen Sie mir meinen Friedrich zurück.“

Tschusch dachte schon gar nicht mehr an Geld, so beschäftigte ihn die Frage, wie er den alten Schwerenöter davon überzeugen könne, zu seiner Gattin zurückzukehren. Friedrich und Florentine, resümierte er, wie schön. Das gehörte doch zusammen. Vor allem wollte er der gnädigen Frau weitere Kümmernis ersparen, als sie unversehens ihr Scheckbuch zückte und wissen wollte, ob zweitausend Euro erstmal genügen würde, zur Deckung seiner Unkosten. Tschusch musste schwer schlucken. Zweitausend Euro! In seinen Ohren klang diese Summe wie eine Million. Wenn er jetzt den Job annahm, würde sich sein Leben von Schlag auf ändern. Er würde die Stadtwerke zahlen können und müsste nicht im Dunklen in seiner Bude sitzen, ohne Fernsehen und ohne warmes Wasser. Er würde nicht aus seiner Wohnung fliegen und auch nicht aus dem kleinen Büro. Er müsste nicht ständig Judith anpumpen, die auch nicht auf Rosen gebettet war. Er müsste nicht etwaigen armen Schweinen von Angestellten hinterher spionieren, ob die auch wirklich krank waren oder nur simulierten. Er müsste prinzipiell nicht mehr jeden Scheißdreck von Auftrag akzeptieren, nur um essen zu können. Er müsste … Ihm wurde schwindlig vor Glück. Und hatte Madame nicht gesagt, „erstmal“? Erstmal war ja nichts Einmaliges, etwas Vorläufiges eher, bedeutete doch, da würde noch mehr kommen. Beseelt nahm Tschusch an.

Nachdem Frau Gasteiger ihn in seinem Glück allein gelassen hatte, telefonierte er mit Stefan Röhlich und verkündete großspurig, dass er sich leider doch nicht um die Blaumacher kümmern könne, er habe schlichtweg zu viel Arbeit. Er meldete sich bei den Stadtwerken, der Telefongesellschaft und seinen Vermietern und ließ sie Teil an seiner Seligkeit haben. Kaum hatte er aufgelegt, dämmerte ihm, dass er den Scheck gar nicht einlösen konnte. Er hatte eine Pfändung auf seinem Konto und das schöne Geld wäre weg, wenn er den Scheck einreichte. Also doch Judith. Er rief bei ihr an, doch sie war nicht daheim und besaß als wohl letzter Mensch auf diesem Globus kein Handy. Notgedrungen musste er sich zur Gemeinde Sankt Martin aufmachen, wo sie sicher wieder irgendwelchen Senioren die zittrigen Händchen hielt oder im von ihr gegründeten Bibelkreis aus eben dieser vorlas.

Tschusch ging auf die Toilette und betrachtete sich im Spiegel. Nein, so konnte er Judith unmöglich unter die Augen treten, ohne sich wieder die ewigen Vorwürfe anhören zu müssen, er saufe zu viel, er schlafe zu wenig und ein reinigendes Bad würde gleichfalls nicht schaden. Insbesondere würde sie ihm, so abgefuckt wie er heute daherkam, kaum glauben, dass der Scheck in Ordnung sei, nichtkriminellen Ursprungs und sie ihn getrost auf ihrem Konto könne gutschreiben lassen.

Tschusch ging nach Hause. Bevor er die Eingangstüre aufsperrte, setzte er die Sonnenbrille mit den verspiegelten Gläsern auf, die er sich aus zweierlei Gründen angeschafft hatte: zum einen der Tarnung halber, wenn er jemand beschattete und zum anderen der Täuschung wegen, damit er den Dreck nicht so sah, wenn er seine Wohnung betrat. Er ließ sich ein heißes Bad ein, wählte aus dem Wäscheknäuel im Schrank die Sachen aus, die noch vertretbar rochen und machte sich frohgemut auf den Weg.

Der Messner von Sankt Martin erkannte ihn trotz der frisch gewaschenen Haare und der perfekten Rasur und wies ihn in den Gemeindesaal, dort fände er Judith. Sie saß in einem Kreis älterer Menschen und hielt einer zerbrechlich wirkenden Hundertjährigen das Fadenscheinchen von Hand, auf der die Adern wie dicke blaue Kabel verlegt waren. Und sie las aus der Bibel vor, was sonst. Judith war gerade beim Buch Mose, Kapitel zwei, an der Stelle mit der berühmten Rippe. Tschusch hörte, wie Judith mit ihrer leidenden Stimme vortrug, „... und Gott der HERR nahm eine seiner Rippen und schloss die Stätte mit Fleisch ...“

Unwillkürlich tastete er seine Rippen ab, während Judith fortfuhr: „Und Gott der HERR baute ein Weib aus der Rippe, die er vom Menschen nahm und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin heißen, darum, dass sie vom Manne genommen ist.“

Den Ausdruck Männin fand Tschusch gut. Er passte schließlich auf geschätzt ein Viertel der Frauen und auf die amazonenhafte Judith gleich dreimal.

Jetzt erst bemerkte sie ihren Bruder. Mit einer knappen Handbewegung scheuchte sie ihn aus dem Raum. Tschusch musste draußen warten. Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis sie endlich mit dem Buch Mose durch war und eine weitere halbe Stunde, bis die alten Leutchen aus dem Saal getappt waren.

„Du siehst schlecht aus“, begrüßte sie ihn. „Du solltest mal wieder was Anständiges essen und weniger Alkohol trinken. Und duschen könntest du auch.“

„Ich komme gerade aus der Badewanne“, verteidigte sich Tschusch.

Judith sog die Luft ein. „Schon mal was von Deo gehört?“

Tschusch hob die Arme und schnüffelte unter seinen Achseln. Sie hatte recht. Er roch und zwar eindeutig nach Cevapcici, jenen, die seine Mutter früher gemacht hatte, mit viel Zwiebeln und Knoblauch.

„Komisch“, sagte er. „Das muss am Hemd liegen.“

„Was willst du“, sagte Judith sichtlich genervt. „Ich habe nicht ewig Zeit.“

Tschusch erklärte ihr den Sachverhalt, lang und breit und offenbar so gut, dass sie überraschend schnell einwilligte, den Scheck auf ihrer Bank einzureichen. Doch sie stellte Bedingungen.

Ich verwalte das Geld“, bestimmte sie, „sonst ist es gleich wieder perdú.“ „Einverstanden“, fügte sich Tschusch, weil er sowieso keine Wahl hatte. Die Audienz bei Betschwester Judith war damit beendet. Im Gehen überlegte Tschusch, ob er sich nicht revanchieren sollte und ihr sagen, dass sie ebenfalls roch, und zwar nach alter Nonne, aber im letzten Moment entschied er sich dagegen. Er brauchte Judith ja.

Insofern wäre es ein wunderbarer Tag für Tschusch gewesen, der schönste seit langem, wenn nicht diese eine Sache passiert wäre. Es dunkelte bereits. Der Berufsverkehr verebbte allmählich und die Nacht ließ ihre kühlen Schleier zwischen die Häuserschluchten fallen. Er befand sich auf dem Heimweg und wie er es gewohnt war, hielt er Augen und Ohren offen, zudem war er stocknüchtern. Er konnte sich also nicht getäuscht haben, nicht Tschusch Bárbar, der versierte Privatdetektiv, der Gefahr schon roch, bevor sie aus dem Loch kroch.

Als er in die Elsässerstraße einbog und am Hypopark entlangging, gewahrte er eine große schwarze Limousine, die ihm mit überhöhter Geschwindigkeit entgegenkam. Etwa fünfzig Meter vor ihm stoppte der Wagen plötzlich. Zwei Männer sprangen heraus und verschwanden kurz im Schatten der Bäume. Als sie Sekunden später wieder zu sehen waren, schleppten sie eine weitere Gestalt mit sich. Tschusch konnte deutlich einen männlichen Körper, einen Kerl mit Glatze und Bart erkennen. Die beiden anderen schienen südländischen Ursprungs zu sein, soweit Tschusch dies aus der Entfernung bewerten konnte. Sie stopften das offenbar wehrlose Bündel in den Fahrzeugfonds und stiegen zu. Sofort startete der schwere BMW (oder war es ein Audi gewesen?) und raste mit quietschenden Reifen am verdatterten Tschusch vorbei. Mit offenem Mund starrte er dem Auto hinterher und versuchte, seine kreuz und quer wie Flipperkugeln schießenden Gedanken zu ordnen. Schließlich wurde ihm bewusst, was er soeben erlebt hatte: Er war Zeuge einer Entführung geworden und wie es aussah, der einzige. Die Elsässerstraße nämlich präsentierte sich menschenleer.

eins vorwärtsfallen

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