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Dienstag, 14. Juli 2015

»Patrick, wach auf! Bestes Heuschrecken-Wetter!« Lea trommelte ein zweites Mal an die Schlafzimmertür ihres Kollegen.

Endlich war von drinnen ein Murmeln zu vernehmen. »Ja, ja, komme schon…«

Lea ging zurück in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine an und deckte den Frühstückstisch. Als ihr Blick zum Fenster hinausging, umspielte ein feines Lächeln ihre Lippen. Ach, ist das herrlich, einen ganzen Sommer in Zermatt zu verbringen! Die einzigartige Pyramide des Matterhorns leuchtete bereits hell in der Morgensonne, die Eisfelder am Fusse der Nordwand glitzerten, und auch die Bäume an der Waldgrenze erstrahlten schon in sattem Grün. Fasziniert schaute Lea zu, wie sich das Sonnenlicht von Minute zu Minute weiter ins Tal hinunter schob. Als es die obersten Häuser von Zermatt erreichte, schlug die Küchenuhr gerade sieben. Ob wohl Patrick endlich aufgestanden ist? Lea sah ihren grossgewachsenen, blonden Studienkollegen vor sich, und ein warmes Gefühl durchströmte sie. Was für ein lieber Kerl! Wenn nur Maja nicht… Ach, dummes Zeug! Lea riss sich aus ihren Gedanken los, goss den fertig gebrühten Filterkaffee in den Thermoskrug und nahm Butter, Käse und Marmelade aus dem Kühlschrank.

Vom Flur her ertönte jetzt die fröhliche Stimme von Maja: »Morgen Patrick! Gut geschlafen?«

Leas Magen krampfte sich für einen Moment zusammen. Warum muss dieses Stück auch immer so gut gelaunt sein am frühen Morgen? Lea ballte die Faust und murmelte in sich hinein: Nein, liebe Lea, so geht das nicht! Mit Eifersucht kommst du nicht weiter und verdirbst zum Vornherein alles. Also bleib ruhig und lass dir nichts anmerken!

»Hey, ist das ein Prachtstag!« Patrick stand im Türrahmen und lächelte Lea aus seinen blauen Augen an. »Den müssen wir voll ausnützen, um mit unserer Kartierung ein gutes Stück voranzukommen.«

»Ja, vor allem du mit deinen sonnenhungrigen Heuschrecken!«, erwiderte Lea, jetzt wieder etwas entspannter. »Maja und ich können ja unsere Pflänzchen noch bei jedem Wetter sammeln.«

Patrick setzte sich an den Küchentisch und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »Na ja, aber wenn die Sonne scheint, macht auch das mehr Spass.«

Pfeifend erschien jetzt auch Maja in der Küche und schnappte sich, ohne abzusitzen, vom Tisch ein Stück Käse. Sie blickte zum Fenster hinaus und rief: »Ach, ist das Leben schön! Statt im Büro zu sitzen, streifen wir durch die Bergwelt, lassen uns die Sonne auf den Pelz scheinen und sammeln nebenbei ein paar Pflanzen ein. Was könnte man noch mehr wollen? Lea, was ist dein Ziel heute?«

Widerwillig löste Lea ihren Blick von Patrick und wandte sich Maja zu. »Ich möchte gerne die trockenen Rasenhänge nordwestlich des Gagenhaupts nochmals gründlich überprüfen. Es ist ziemlich steil dort, aber bei diesem guten Wetter sollte das ungefährlich sein. Begleitest du mich, Maja?«

Maja nickte eifrig. »Ja, gerne, schon der Sicherheit wegen gehen wir besser zu zweit. Und in diesen trockenen Hängen sollte auch das eine oder andere seltene Gras für meine eigene Arbeit zu finden sein.«

Lea Bucher, Maja Oberle und Patrick Ingold verbrachten zusammen den Sommer in Zermatt, um Daten und Material für ihre Doktorarbeiten zu sammeln. Die Universität hatte ihnen im Dorf eine Vierzimmerwohnung vermittelt, in der sie nun als WG zusammenlebten. Alle drei hatten in Bern Biologie studiert und spezialisierten sich nun auf ein Fachgebiet. Lea untersuchte die Habichtskräuter und verwandte Pflanzen, Maja die Verteilung von Süss- und Sauergräsern und Patrick die Heuschrecken der Region Zermatt. Wenn es das Wetter zuliess, waren sie täglich unterwegs, um die kurze Sommersaison möglichst gut auszunützen. Den ganzen Winter über würden sie dann sehr viel Zeit haben, um in Bern die gesammelten Daten und Belege zu analysieren und zu beschreiben.

»Und du, schöner Mann, wo gehst du heute hin?«, fragte Maja mit einem Augenaufschlag.

Lea hielt es nicht mehr aus und musste ihren Blick abwenden. Patrick biss herzhaft in sein Butterbrot und liess sich Zeit zum Kauen, bevor er antwortete.

»Ich will nochmals in Richtung Trift hinaufsteigen. Ich habe immer noch die Hoffnung, dort den Myrmeleotettix maculatus zu finden.«

»Was für ein schöner Name für eine Heuschrecke«, warf Lea ein, »aber willst du wirklich an einem so heissen Tag wie heute diesen steilen Südhang hinaufkraxeln?«

»Ein wenig leiden für die Forschung muss man eben schon können«, erwiderte Patrick lachend. »Aber ihr zwei habt es ja bequem. Könnt gemütlich mit der Bahn bis Riffelberg fahren und dort botanisieren, ohne ins Schwitzen zu kommen.«

Maja streckte Patrick die Zunge heraus. »Ha, ha, du wirst ja ganz grün vor Neid…«

Lea ballte unter dem Tisch kurz die Faust und erhob sich dann ruckartig. »So, genug geschwafelt. Wir müssen den schönen Tag ausnützen. Maja, wir nehmen den acht Uhr dreissig Zug.« Lea verliess eilig die Küche.

Maja und Patrick blickten sich verdutzt an. »Mensch, ist die aber eifersüchtig…«, flüsterte Maja, »aber warum nur? Wir haben doch überhaupt nichts miteinander!«

Lea und Maja hätten eigentlich beste Freundinnen sein können, wenn nur nicht immer wieder diese Eifersuchtsgeschichte dazwischengekommen wäre. In Vielem waren sie sich sehr ähnlich. Ihre Liebe zur Pflanzenwelt und zu den Bergen, ihre natürliche, unkomplizierte Wesensart, ihr schlichtes Auftreten, was Kleidung und Schminke betraf, ihre seriöse Arbeitsauffassung, all dies teilten die beiden jungen Frauen. Aber so unkompliziert Lea im Umgang mit dem eigenen Geschlecht war, so zurückhaltend, beinahe ängstlich, gab sie sich gegenüber Männern, die ihr gefielen. Maja hingegen hatte zu jedem Mann sofort einen Draht und begann mit ihm, ganz ohne Hintergedanken, problemlos ein lockeres und lustiges Gespräch. Lea musste sich eingestehen, dass sie in diesem Punkt ausgesprochen neidisch auf ihre Kollegin war. Richtig bewusst war ihr das aber erst diesen Sommer geworden, seit sie mit Maja und Patrick im selben Haushalt lebte.

Claudia und Daniel Vontobel erschienen als erste Gäste im Frühstückssaal des Hotels Steinbock.

»Guten Morgen, Herr und Frau Vontobel! Gut geschlafen?« Wie jeden Morgen begrüsste Hotelassistentin Monika Maier die Gäste mit ihrem bezaubernden Lächeln. Die meisten Hotelgäste freuten sich an ihrem freundlichen Tiroler Dialekt und ihrem kecken Dirndl, und sie wechselten jeweils ein paar Worte mit ihr. Claudia jedoch nickte ihr heute nur kurz zu und eilte weiter in Richtung Frühstücksbuffet, während Daniel einen Augenblick zögerte.

»Wissen Sie auch, was heute für ein besonderer Tag ist?«, kam ihm die Österreicherin zu Hilfe.

Daniel blieb stehen und wandte sich um. »Natürlich, jetzt, wo Sie fragen… Das Matterhorn-Jubiläum!«

Monika Maier lachte kurz auf. »Richtig, Herr Vontobel! Genau heute vor 150 Jahren wurde das Matterhorn zum ersten Mal bestiegen. Leider nicht von Österreichern…«

Daniel grinste. »Nein, da waren die Schweizer und die Engländer schneller und mutiger. Wissen Sie, auch heute noch sind die Schweizer nicht zu unterschätzen…«

Daniel hatte sich unterdessen der hübschen Assistentin genähert und blickte wie gebannt in ihre grünen Augen.

»Kommst du endlich, Daniel?«, tönte es vom Buffet her.

»Ehm, ja, sofort…«, rief er zurück. »Sie entschuldigen mich?«, flüsterte Daniel der Assistentin mit einem Augenzwinkern zu und wandte sich um.

Kaum hatten Claudia und Daniel mit ihren gefüllten Tellern am weiss gedeckten Tisch Platz genommen, erschien Hoteldirektor Balthasar Biner im Saal.

Er blickte sich kurz um und eilte dann auf ihren Tisch zu. »Oh, Sie sind aber früh aufgestanden heute! Guten Morgen! Es steht wohl etwas Besonderes auf dem Programm?«

»In der Tat«, bestätigte Claudia Vontobel, »wir steigen heute zu Fuss zum Gornergrat hinauf und übernachten dort oben im Hotel. Wissen Sie, mein Geburtstagsgeschenk für meinen Mann.«

»Oh, ein ganz besonderes Geschenk! Und dann noch bei diesem traumhaften Wetter! Ich wünsche Ihnen jedenfalls eine unvergessliche Tour!« Biner eilte weiter, ohne im Entferntesten zu ahnen, welch besondere Wahrheit er mit seinen letzten Worten ausgesprochen hatte.

Lea und Maja waren mit der Gornergratbahn bis zur Station Riffelberg gefahren und hatten dann in einer halben Stunde Fussmarsch ihr heutiges Untersuchungsgebiet auf rund 2‘400 Metern Höhe erreicht. Mit Erleichterung hatte Lea bemerkt, dass sich ihre morgendliche aggressive Stimmung mit jedem Schritt in der klaren Bergluft mehr und mehr verflüchtigte, und dass sie schliesslich wieder ganz freundschaftlich mit Maja umgehen konnte. Die Studentinnen legten ihre Rucksäcke ab und bestaunten zunächst die phänomenale Aussicht, die sich ihnen darbot.

Unter ihnen erstreckte sich der breite, von unzähligen Spalten zerklüftete Eisstrom des Gornergletschers. Darüber flimmerte die riesige, vollkommen eisgepanzerte Nordflanke des Breithorns, rechts davon ragte, wie ein Eckzahn, der Felsgipfel des sogenannten Kleinen Matterhorns aus der Gletscherfläche, und ein Stück weiter rechts erhob sich die riesige Pyramide des echten Matterhorns in den tiefblauen Himmel. Links vom Breithorn war noch ein Teil des mächtigen Liskamms zu sehen, während der Monte Rosa, der höchste Gipfel auf Schweizer Boden, von einem Felsvorsprung verdeckt wurde. Die Pracht des Hochgebirges war einfach unbeschreiblich!

Nach gebührender Würdigung der Fernsicht packten Lea und Maja ihre wenigen Hilfsmittel aus – Bleistifte, Notizheft, Lupe und Pflanzenbücher – und begannen, jede für sich, den steilen, mit Gräsern und zahllosen Alpenblumen bewachsenen Südwesthang systematisch zu untersuchen. Sie machten sich eifrig Notizen, welche Arten von Pflanzen sie vorfanden, und immer wenn sie etwas Besonderes fanden oder etwas, das sie nicht sicher kannten, verstauten sie die Pflanze in einem Plastiksäckchen, um sie zuhause noch detaillierter anzuschauen und dann zwischen alten Zeitungsseiten für das Herbar zu trocknen.

Um halb zwölf trafen sich Lea und Maja wieder bei ihren Rucksäcken, um eine Pause zu machen.

»Mensch, ist das extrem heiss heute«, sagte Maja, wischte sich den Schweiss von der Stirn und setzte ihre Wasserflasche an die Lippen.

»Ja, das finde ich auch«, bestätigte Lea, »aber das ist mir doch viel lieber als der kalte Nebel am letzten Freitag.« Lea nahm einen grossen Schluck aus ihrer Wasserflasche, und dann zeigte sie auf den gegenüberliegenden Hang, auf dem ein Zickzackweg in die Höhe führte. »Du, warum sieht man eigentlich nie jemanden auf diesem Wanderweg da drüben? Wo kommt denn der überhaupt her?«

Maja entfaltete ihre Wanderkarte. »Aha, jetzt habe ich es. Der Weg kommt von der Gornerschlucht hoch und ist weiter unten sehr steil. Kein Wunder, dass da heute bei dieser Hitze niemand hochsteigt.«

Lea hielt sich, um von der Sonne nicht geblendet zu werden, eine Handfläche vor die Stirn.

»Doch, dort unten kommt tatsächlich jemand!«, rief sie aus und setzte dann ihr Fernglas an die Augen. »Eine Frau und ein Mann, beide mit Rucksack. Puh, werden die schwitzen auf dem steilen Weg in praller Sonne!«

»Ich kann es mir lebhaft vorstellen!«, lachte Maja mit.

Zehn Minuten später waren die beiden Wanderer auf gleicher Höhe wie die Studentinnen angelangt. Aus einem Abstand von vielleicht zweihundert Metern winkten sie ihnen freundlich zu und setzten dann ihren Aufstieg fort.

Lea nahm nochmal das Fernglas. »Den Mann kenne ich doch. Aber woher bloss? Den habe ich ganz sicher schon öfter in Bern gesehen. Wo könnte das nur gewesen sein?«

»Hör am besten auf nachzudenken«, schlug Maja vor, »dann fällt es dir bald von selber ein.« »Du hast recht. Machen wir uns wieder an die Arbeit?«

»Liebe Herr und Frau Vontobel, willkommen in unserem Hotel auf dem Gornergrat, dem schönsten Aussichtspunkt der Schweiz!« Hotelassistentin Patrizia Werlen streckte den verschwitzten und staubigen Wanderern die Hand entgegen. »Sind Sie wirklich den ganzen Weg zu Fuss hier heraufgekommen?«, fragte sie mit einem leisen Zweifel in der Stimme.

»Oh ja«, bestätigte Claudia Vontobel und strich sich die feuchten blonden Haare aus der Stirn, »wir sind geübte Bergwanderer und regelmässig in Zermatt im Urlaub. Auch auf dem Gornergrat waren wir schon etliche Male.«

»Aber… hier übernachtet haben Sie noch nie?«

»Nein, das ist ein Geburtstagsgeschenk für meinen Mann.«

Patrizia Werlens Augen begannen zu leuchten. »Oh, was für eine originelle Idee für ein Geschenk! Dann scheint ja Ihre Partnerschaft unter einem guten Stern zu stehen.«

Etwas verlegen blickten sich die beiden Angesprochenen in die Augen.

»Hier ist Ihr Zimmerschlüssel«, fuhr die Assistentin fort, »ab sieben Uhr werden Sie zum Abendessen erwartet, und das Frühstück können Sie zwischen sieben und zehn Uhr geniessen. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Aufenthalt bei uns im Hochgebirge. Und übrigens… Falls Sie eine romantische Ader haben: Sonnenuntergang ist heute um zwanzig Uhr sechsundfünfzig, Sonnenaufgang morgen um sechs Uhr elf.«

»Oh, danke«, antwortete Claudia, »wir werden uns gerne danach richten…«

Bruno und Barbara Fuchs verbrachten ihren Zermatter Urlaub schon zum siebten Mal im Hotel Bellavista, einem kleineren, sehr sympathischen Familienbetrieb. An Mahlzeiten wurde im Hotel nur das Frühstück angeboten. Aber was für ein Frühstück! An einem solchen Selbstbedienungsbuffet konnte man sich kaum sattsehen! Es war aussergewöhnlich reichhaltig und so exzellent, dass der Gast es kaum schaffte, die Morgenmahlzeit irgendwann auch wieder zu beenden. Der Hoteldirektor hatte früher als Koch gearbeitet und liess es sich nicht nehmen, Brot und Gebäck für das Frühstücksbuffet selber herzustellen. Das Buffet quoll beinahe über an Köstlichkeiten: Brote, Brötchen und Gebäck in jeder Grösse und Geschmacksrichtung, eine grosse Auswahl an Käse und Fleischwaren, hausgemachte Konfitüren, Fruchtsäfte, frische Früchte, Joghurt und Müsli in diversen Variationen. Ganz exquisit und ein Geheimtipp waren auch die hausgemachten, federleichten und herrlich aromatischen Amaretti, welche die Gäste den ganzen Tag über zum Naschen verlockten.

Überhaupt war die Atmosphäre im Hotel sehr familiär und gastfreundlich, so dass die allermeisten Gäste schon bald zu Stammgästen wurden und das Hotel auch fleissig weiterempfahlen. Das Haus war in traditionellem Walliser Stil gebaut, das Erdgeschoss gemauert und alle höheren Stockwerke aus Holz. Jedes Zimmer hatte einen mit Geranienkästen geschmückten Balkon. Von weitem wirkte deshalb die Fassade des Hauses wie ein einziges rotes Blütenmeer. Auch die gute Lage des Hotels trug zum Wohlbefinden bei. Es lag am Hang, etwas oberhalb des Dorfes, und wenn man vom Zimmer auf den Balkon hinaustrat, überblickte man den ganzen Talkessel von Zermatt mit den umliegenden Berghängen und dem majestätischen Matterhorn als Krönung.

Barbara und Bruno Fuchs wählten für ihr Abendessen jeden Tag ein anderes der unzähligen Restaurants im Dorf aus. Heute hatten sie Lust auf ein original Walliser Raclette und gingen in die in der Bahnhofstrasse gelegene Walliserstube. Schon beim Eintreten schlug ihnen der Duft von geschmolzenem Käse entgegen. Eines war klar: Hier etwas anderes als Fondue oder Raclette essen zu wollen, wäre keine gute Idee gewesen! Bruno und Barbara bekamen einen hübschen Zweiertisch am Fenster und bestellten die traditionelle Vorspeise, eine Auswahl an Walliser Trockenfleisch mit Roggenbrot und dazu eine Flasche einheimischen Rotwein. Auch zum anschliessenden Raclette tranken sie, entgegen der Tradition, lieber roten als weissen Wein. Das Raclette selbst hingegen wurde ganz nach alter Sitte zubereitet. Im offenen Kamin prasselte ein Holzfeuer, und davor standen vier metallene Ständer, auf denen je ein halber Käselaib, jeder mehrere Kilo schwer, so befestigt war, dass die Schnittfläche des Käses sich dem Feuer zuwandte. Sobald die Schnittfläche durch die Hitze genügend weich geworden war, wurde die oberste Schicht Käse mit einem langen Messer direkt auf einen Teller abgeschabt. Neben den geschmolzenen Käse wurden zwei kleine Schalenkartoffeln und eine Salzgurke platziert, und der Teller dem Gast so als Portion Raclette serviert. Die meisten Gäste würzten dann ihren Käse noch mit Pfeffer aus der bereitstehenden Mühle.

Je nach Restaurant wurde entweder jede Portion separat verrechnet, oder man konnte Raclette à discrétion bestellen und für einen fixen Preis essen, soviel man wollte. Bruno hatte jedoch mit dieser Variante im Vorjahr eine schlechte Erfahrung gemacht, als er einmal, nach übermässigem Essen, eine beinahe schlaflose Nacht verbrachte. Seither beschränkte er sich jeweils auf zwei Portionen Raclette und gönnte sich dafür eine Vorspeise und einen kleinen Nachtisch. Heute bestellte Bruno zum Dessert eine Kugel Schokoladeneis mit einem Tupfer Schlagsahne, während Barbara einen Fruchtsalat wählte.

Als danach der Kaffee serviert wurde, schaute Barbara auf ihre Uhr. »Oh, schon neun vorbei. Ich bin ja gespannt auf das beleuchtete Matterhorn.«

Bruno schaute auf. »Ach ja, richtig, heute ist ja das grosse Jubiläum! Das können wir uns gar nicht mehr vorstellen, mit welch einfacher Ausrüstung die Bergsteiger vor 150 Jahren diesen schwierigen Gipfel bezwungen haben. Schuhe mit genagelten Sohlen, dazu Hosen, Jacke, Handschuhe und Mütze, alles aus grober Wolle. Dann ein schweres Hanfseil zur Sicherung und ein Lederrucksack für die Verpflegung, das war alles, was sie hatten. Und natürlich auch keine Hütte, um auf halber Höhe zu übernachten, wie es heutzutage ganz selbstverständlich ist. Nein, die Bergsteiger mussten sich irgendwo, wohl auf über 3000 Metern Höhe, auf den steinigen Boden legen, sich behelfsmässig mit allen mitgebrachten Kleidern zudecken und so den nächsten Morgen abwarten.«

»Dafür hatten sie jede Menge Wagemut, Selbstvertrauen und Gottvertrauen«, ergänzte Barbara lächelnd, während Bruno seine Geldbörse hervorholte, um die Rechnung zu begleichen.

Als sie das Restaurant verliessen, war es fast ganz dunkel geworden. Auf dem Rückweg zum Hotel blieben sie an einer Stelle stehen, die von der Strassenbeleuchtung nur wenig erhellt wurde und von der aus man freie Sicht auf das Matterhorn hatte.

»Oh, wie wunderschön, das war eine tolle Idee vom Zermatter Bergführerverein«, schwärmte Barbara.

»Ja, richtig romantisch«, stimmte Bruno zu und legte seiner Frau einen Arm um die Taille.

Am Hörnligrat, der Aufstiegsroute der Erstbesteiger des Matterhorns, hatten die Zermatter Bergführer eine Lichterkette installiert, die bis zum Gipfel reichte. Diese Lichter gingen jedoch nicht alle gleichzeitig an. Zunächst war nur ein einzelnes Licht bei der Hörnlihütte, am heutigen Ausgangspunkt der Matterhornbesteigung, sichtbar. Einige Sekunden später ging ein zweites Licht etwas weiter oben an, etwas später das dritte, dann das vierte und so fort. Auf diese Weise zeichneten die Lichter, sozusagen im Zeitraffer, Stück für Stück die ganze Aufstiegsroute am Hörnligrat bis zum Gipfel nach. Es sah absolut märchenhaft aus: Die schwarze Kontur des Matterhorns vor dem etwas helleren Nachthimmel und in deren Mitte die glitzernde Lichterkette. Mehrere Minuten blieben Barbara und Bruno andächtig stehen, bevor sie langsam zurück zum Hotel schlenderten.

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