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Mittwoch, 15. Juli 2015

»So, hat Ihnen unser Frühstücksbuffet geschmeckt?«, fragte Patrizia Werlen die beiden, als sie an die Rezeption traten.

»Ja, was soll ich jetzt sagen«, erwiderte Claudia Vontobel mit matter Stimme, »mein Mann hat es in vollen Zügen geniessen können. Aber ich selber habe sehr schlecht geschlafen und fühle mich nicht wohl. Deshalb konnte ich nur eine Tasse Tee zu mir nehmen.«

»Oh, das tut mir wirklich sehr leid. Wahrscheinlich haben Sie die ungewohnte Höhe von mehr als 3000 Metern über Meer schlecht ertragen, das kommt leider öfter vor.«

Die Hotelassistentin griff unter die Theke, zog ein hübsch verpacktes Geschenkpaket hervor und überreichte es ihrem Gast. »Hier, ein kleines Trostpflästerchen für Ihr Pech.«

»Oh, danke, das ist aber ausserordentlich nett!«, erwiderte Claudia Vontobel.

»Was haben Sie denn nun vor? Möchten Sie sich noch ein wenig hier im Hotel erholen?«

Claudia Vontobel überlegte einen Moment. »Nein, ich denke, es ist besser, ich fahre so schnell wie möglich wieder nach Zermatt hinunter. Mein Mann jedoch wird zu Fuss ins Tal absteigen.«

Patrizia Werlen drückte beiden die Hand. »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute und weiterhin eine schönen Aufenthalt in Zermatt.«

Zehn Minuten später sah Patrizia Werlen durch das Fenster hindurch, wie sich die Vontobels vor dem Haus mit einem langen, innigen Kuss voneinander verabschiedeten.

Claudia stieg in den hintersten Wagen der weltberühmten roten Zahnradbahn. Jetzt, um halb zehn, fuhren nur einige wenige Fahrgäste ins Tal hinunter. Claudia entspannte sich zusehends und freute sich darüber, das wunderschöne Panorama auf die vergletscherten Viertausender, das die Fahrt bot, für einmal ohne das sonst übliche, hektische Lärmen der japanischen und amerikanischen Touristen geniessen zu können. Kurz vor halb elf erreichte Claudia das Hotel Steinbock.

An der Rezeption stand Monika Maier und machte grosse Augen. »Was, schon zurück, Frau Vontobel? Und allein? Es ist doch hoffentlich nichts passiert?«

»Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich habe nur die Höhe schlecht ertragen, konnte kaum schlafen und bin deshalb gleich wieder ins Tal gefahren. Mein Mann steigt zu Fuss ab und wird im Laufe des Nachmittags eintreffen. Ich werde mich jetzt gemütlich mit einem Roman im Wintergarten installieren und hoffe, dass die Kopfschmerzen bald nachlassen. Bringen Sie mir bitte einen Kamillentee.«

»Gerne! Und ich wünsche Ihnen baldige Besserung.«

Monika Maier gab die Bestellung telefonisch in die Küche durch, während Claudia in die Hotelbibliothek ging, um sich ein spannendes Buch auszusuchen.

»Ja, Blacky, bleib ruhig, wir sind ja gleich da.«

Barbara Fuchs kraulte ihren Labrador am Nacken. Dieser stand auf der Plattform, wedelte mit dem Schwanz und wartete offensichtlich darauf, dass sich die Tür öffnete und ihn ins Freie springen liess. Die Gornergratbahn verlangsamte ihr Tempo und kam neben dem grossen Schild mit der Aufschrift Riffelberg zum Stehen. Barbara, Bruno und Blacky stiegen aus. Die Sonne schien, die Luft war hier, auf 2500 Metern Höhe, herrlich frisch, und auf der anderen Talseite erhob sich die majestätische Pyramide des Matterhorns in den tiefblauen Himmel.

»Einfach ein Traum«, sagte Barbara, blieb stehen und schaute in die Runde. Bruno legte ihr einen Arm um die Schulter.

»Ja, wunderschön. Was meinst du zu einem kleinen Kaffee da hinten?« Keine fünfzig Meter entfernt stand das altehrwürdige Hotel Riffelberg. Ein grauer Steinbau, dem rauen Klima hier im Hochgebirge trotzend, bot das Hotel sommers wie winters ihren Gästen eine herrliche Sonnenterrasse mit Blick aufs Matterhorn an.

»Gerne«, erwiderte Barbara, und sie nahmen an einem der vordersten Tische Platz. Blacky hatte keine besondere Freude daran, er wäre lieber gleich losgelaufen. Aber eben, mit so alten Rudelführern musste man sich wohl irgendwie arrangieren…

Eine halbe Stunde später waren sie wieder unterwegs. Der bequeme Weg führte sanft abwärts, weder grosse Steine noch steile Stufen stellten für die betagten Wanderer ein Hindernis dar. Blacky war voll in seinem Element, unermüdlich sprang er vor und zurück und erkundete die Umgebung. Plötzlich blieb Barbara, die voraus ging, stehen.

»Oh, was sehe ich denn da. Eine hübsche Blume, aber was kann das bloss sein? Vom Aussehen her tippe ich auf ein Nelkengewächs.«

Bruno bückte sich und sah die Pflanze genau an. »Korrekt, Barbara, es ist ein Nelkengewächs. Die Alpen-Pechnelke, Silene suecica. Nur fünfzehn Zentimeter gross, aber mit einem ganzen Büschel von sehr hübschen, pinkfarbenen Blüten. Eine ziemlich seltene Blume, ich habe sie bisher erst zweimal gesehen. Wunderschön!«

Bruno zückte seinen Fotoapparat und machte mehrere Aufnahmen der seltenen Pflanze.

Kurz darauf erreichten sie eine Wegkreuzung. Der knallgelbe Wegweiser war nicht zu übersehen. Links ging es in Richtung Gornergrat, rechts zur Riffelalp, und geradeaus steil hinunter zur Gornerschlucht. Blacky war stehen geblieben und hechelte in der dünnen Bergluft heftig vor sich hin. Barbara hatte noch eine blaue Blume genauer studiert und kam etwas später hinzu.

»Ein wunderschöner Weg«, rühmte sie, »ich nehme an, wir gehen in Richtung Riffelalp weiter?«

»Okay«, sagte Bruno, aber statt weiterzugehen, hielt er noch sein Fernglas vor die Augen. »Moment mal, die Frau dort kenne ich doch von irgendwoher.«

Auch Barbara zückte ihr Fernglas. »Natürlich, das ist unsere Berner Stadträtin vom Sozialdepartement, aber wie heisst sie schon gleich?« Eine Frau mittleren Alters kam ihnen auf dem Weg vom Gornergrat her entgegen.

»Jetzt habe ich es«, sagte Bruno, »sie heisst Nora von Graffenried, Vertreterin eines altehrwürdigen Berner Adelsgeschlechtes. Was meinst du: Sollen wir sie kurz ansprechen?«

»Warum eigentlich nicht, wenn sie schon allein unterwegs ist? Sie macht doch eine super Politik und ist kontaktfreudig.«

Bruno und Barbara stellten sich vor, und die Stadträtin freute sich über einen kleinen Schwatz in der vertrauten Berner Mundart.

Walter Werlen, Gemeindepräsident von Zermatt, verliess Punkt zwölf Uhr sein Büro in der Gemeindeverwaltung, die sich im hinteren Teil des Dorfes, direkt neben der Kirche, befand. Er pfiff leise ein altes Volkslied vor sich hin, während er die lange Bahnhofstrasse hinunter ging. Er war mit seinem langjährigen Freund Pirmin Perren zum Lunch verabredet. Sie waren schon zusammen zur Schule gegangen und hatten beide ihr ganzes Leben in Zermatt verbracht. Werlen war rundum zufrieden. Nach einem neuen Rekord in der vergangenen Wintersaison hatte auch die touristische Sommersaison ausgezeichnet begonnen. Natürlich spielte auch das meist schöne Wetter eine Rolle. Die einheimische Wirtschaft florierte, die politische Landschaft im Dorf war stabil, und sogar in Werlens Familie herrschte überwiegend Sonnenschein. Wie fast zu jeder Tages- und Abendzeit war auf der Bahnhofstrasse, der eigentlichen Flaniermeile von Zermatt, ein reger Fussgängerstrom in beiden Richtungen unterwegs. Auf einer Strecke von fast einem Kilometer reihte sich beinahe Restaurant an Restaurant, Laden an Laden und Boutique an Boutique. Autos waren in Zermatt verboten, dafür kurvten unzählige Elektromobile durch die teilweise engen Gassen, was für die Fussgänger auch zu gefährlichen Situationen führen konnte.

Werlen betrat die Walliserkanne, eines der traditionellen Restaurants des Dorfes, und schaute sich um. Am zweithintersten Tisch entdeckte er Perren, in eine Zeitung vertieft, und ging zu ihm hinüber.

»Grüss dich, Pirmin.«

Der Angesprochene erhob sich, und die zwei grossen, leicht korpulenten Männer drückten sich kräftig die Hand. »Walter, wie geht’s?«

Der Gemeindepräsident lächelte. »Ach, richtig gut, darf ich sagen. Zurzeit läuft einfach alles irgendwie rund, fast wie von selbst. Komm, setzen wir uns doch, ich spendiere einen Aperitif. Oder lieber ein Bier?«

»Oh ja, gerne.«

»Zwei Glas Bier bitte!«, rief Walter in Richtung Theke. »Und, wie läuft’s bei dir im Geschäft, Pirmin?«

»Ehm, wie soll ich das jetzt ausdrücken? Eigentlich müsste es sehr gut laufen. Die Aufträge sind da, die Nachfrage nach Sanitärinstallationen steigt eher noch an. Und doch… die Geschichte mit diesem, du weisst schon…«

Werlen hob seine Augenbrauen. »Du meinst… Vontobel?«

Perren nickte. »Das hat mir beinahe den letzten Nerv ausgerissen. Und natürlich ein erhebliches Loch in die Kasse geschlagen. Auf gut Deutsch gesagt, ist das ein schamloser Abzocker, auch wenn ihn nie jemand dafür ins Gefängnis wird bringen können.«

»Oh, so krass hast du das erlebt?«, erwiderte Werlen betroffen.

Perren zuckte mit den Achseln. »Na, was soll‘s. Ich hoffe, wenigstens etwas gelernt zu haben. In Zukunft werde ich viel genauer hinschauen, bevor ich einen Kreditvertrag unterzeichne!«

»Und trotzdem, Prost, Pirmin!« Sie stiessen mit den Biergläsern an.

Walter Werlen studierte die Speisekarte. »Hast du schon gewählt, Pirmin?«

»Ich nehme Menu eins, die Walliser Käseschnitte mit Salat.«

»Ja, doch, da kann ich mich anschliessen. Und natürlich einen kühlen Weissen dazu. Schau mal, wer da noch kommt. Tag Klara!«

Klara Kalbermatten, die Chefin von Zermatt Tourismus, war an ihren Tisch getreten. »Seid gegrüsst, Walter und Pirmin. Vertrauliche Besprechung?«

»Nein, überhaupt nicht, setz dich doch zu uns«, erwiderte Werlen, »und als Gemeindepräsident kann ich dir die Käseschnitte mit einem Glas Weissen empfehlen.«

Klara, eine grosse, stämmige Frau mit kurzen grauen Haaren, setzte sich lachend. »So, so, hast du etwa Aktien bei der Walliserkanne

Walter grinste. »Du weisst doch, dass ich sozusagen überall beteiligt bin. Meinst du, ich sei sonst in mein Amt gewählt worden? Übrigens, Klara, gerade vorher, auf dem Weg hierhin, habe ich zu mir selbst gesagt, wie glücklich wir alle sein können. Alles läuft in diesem Jahr so rund in Zermatt.«

Klara klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Ja, Walter, wir machen einen guten Job und dürfen uns gratulieren. Die Saison läuft hervorragend, und auch Petrus macht bestens mit.«

»Und wie beurteilst du unseren gestrigen Jubiläumstag?«

Klara strahlte richtiggehend. »Auch damit bin ich zufrieden. Die Lichterkette am Matterhorn ist genial, und praktisch alle Zeitungen und Zeitschriften der Welt haben das Thema aufgegriffen. Zermatt ist buchstäblich in aller Munde!«

Walter lachte herzlich. »Also genau das, was eine Tourismusdirektorin glücklich macht.«

Klara boxte ihren Kollegen freundschaftlich in die Rippen. »Warum nicht? Du wirst sehen, die nächste Saison wird noch besser als diese. Und du, Pirmin, bist du auch zufrieden?«

Pirmin Perren machte ein saures Gesicht. »Nun ja, im Grossen und Ganzen schon.«

»Weisst du«, fügte Walter hinzu, »er nagt immer noch an seinem Ärger wegen dieses Halunken Vontobel.«

»Ach ja, ich habe davon reden hören. Da hattest du einfach Pech, Pirmin, das könnte doch jedem passieren.«

»Na ja, vielleicht schon. Achtung, unser Essen kommt.«

Claudia Vontobel hatte zum Lunch eine Suppe bestellt und es sich danach wieder im hoteleigenen Wintergarten gemütlich gemacht. Ihre Kopfschmerzen waren verschwunden, und der neue Kriminalroman eines Berner Autors zog sie vollkommen in den Bann. Als Claudia wieder auf ihre Uhr sah, war es bereits zehn nach vier. Sie verliess den Wintergarten und traf in der Halle auf Monika Maier.

»Sagen Sie, Frau Maier, Sie haben nicht etwa meinen Mann heimkommen sehen? Merkwürdig, dass er immer noch nicht da ist.«

Die Assistentin verneinte. Claudia bestellte noch einen Tee und ging zurück zu ihrem Kriminalroman. Gegen achtzehn Uhr kam sie wieder in die Halle, und diesmal sass Direktor Biner an der Rezeption und prüfte am Computer die Buchungen.

»Herr Biner, ich mache mir grosse Sorgen. Mein Mann müsste doch längstens zurück sein! Und auf dem Handy ist er unerreichbar. Es scheint so, als wäre es ausgeschaltet. Wenn ich nur wüsste, welche Route er auf dem Abstieg vom Gornergrat genommen hat!«

Biner schaute zu ihr auf. »Ja, Frau Vontobel, ich verstehe Ihre Sorge gut. Aber sehen Sie, ich durfte schon oft erleben, wie ein vermeintlich Verschwundener irgendwo aufgehalten wurde und dann wohlbehalten zurückgekehrt ist. Und auf dem Handy hat man leider an vielen Stellen rund um Zermatt keinen Empfang. Ich sehe also noch keinen Grund zu grosser Sorge. Ich schlage deshalb vor, Sie begeben sich jetzt zum Abendessen, und Ihr Mann wird sicher bald dazu stossen.«

»Ehrlich gesagt glaube ich nicht mehr so recht daran. Sollten wir nicht die Polizei verständigen?«

Biner dachte an den jetzt in der Hochsaison chronisch überlasteten Zermatter Rettungsdienst. Täglich gab es Bergunfälle irgendwo auf den Viertausendern, da mussten die Rettungsmannschaften konstant Überstunden einlegen. Nein, heute Abend würde niemand mehr auf die Suche nach einem vermissten Wanderer gehen.

»Ich empfehle Ihnen, noch etwas zuzuwarten.« Kopfschüttelnd ging Claudia Vontobel in Richtung Speisesaal.

»Papa ist verschwunden!« Nadja klopfte an die Schlafzimmertür ihres Bruders. Da sie keine Reaktion vernahm, öffnete sie langsam die Tür. Thomas sass auf seinem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt, mit grossen Kopfhörern über den Ohren und einem Buch auf den Knien.

Als er Nadja sah, streifte er die Kopfhörer ab. »Was hast du gesagt?«

»Mama hat soeben angerufen. Papa ist verschwunden! Er wollte allein vom Gornergrat absteigen und ist nicht in Zermatt angekommen. Und auf dem Handy meldet er sich auch nicht. Ach, Thomas, es muss etwas Schlimmes passiert sein!« Nadja warf sich auf das Bett ihres Bruders und begann zu schluchzen.

Thomas umfasste ihren Kopf. »Nun beruhige dich doch, Schwesterherz. Es wird sich bestimmt alles aufklären.«

Nadja schniefte hörbar. »Aber es ist elf Uhr nachts, und Papa irrt vielleicht irgendwo zwischen den Felsen umher! Oder ist abgestürzt! Wir müssen ihn doch suchen gehen!«

»Bitte, Nadja, sei vernünftig! Jetzt in der Nacht kann man nicht suchen gehen. Wenn er morgen früh immer noch nicht da ist, wird Mama bestimmt die Polizei einschalten. Denk doch mal nach. Es wäre beileibe nicht das erste Mal, dass unser Vater im Bett einer anderen Frau übernachtet…«

Nadja schaute ihren jüngeren Bruder zweifelnd an. »Spar dir deine dummen Sprüche. Ich mache mir echt mega Sorgen. Bestimmt werde ich heute Nacht kein Auge zu tun.«

»Trink doch noch ein grosses Bier, das beruhigt wunderbar.«

Nadja erhob sich und wandte sich kopfschüttelnd zur Türe. »Wieder mal typisch Mann, macht dumme Lösungsvorschläge, statt Empathie zu zeigen…«

»Gute Nacht, Frau Psychologin«, rief ihr Thomas ärgerlich hinterher und zog wieder seine Kopfhörer über.

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