Читать книгу Im Keller ist es dunkel - Ursula Baur - Страница 4

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Es war jahrzehntelang von mir aufgehoben worden, gut versteckt, an Stellen, von denen es nicht so schnell verschwinden konnte. Also nicht da, wo es eigentlich hingehört hätte, da wäre es leicht von einem der Kinder hergenommen und vielleicht im Kindergarten, in der Schule vergessen oder verloren worden – und das Kind hätte gar nicht gewußt, was es getan hätte.

Am Anfang habe ich es in der Wohnung meiner Eltern verstecken müssen; ich hatte dort kein eigenes Zimmer, auch keinen Schrank für mich allein – wie leicht konnten es meine Geschwister, meine Eltern, meine Großtante zufällig entdecken!

Endlich kam der Umzug in das neugebaute Haus.

Von da an war es einfacher; ich hatte nun einen kleinen Schrank für meine Sachen. Und als ich von daheim auszog, konnte ich es wohlbehalten mitnehmen in mein Untermietzimmer. Noch einen Umzug überstand es in ein größeres Zimmer.

Einmal war es mir beim Räumen unversehens in die Hände gekommen; mir war die Stelle, an der ich es einige Zeit vorher deponiert hatte, tatsächlich nicht mehr im Gedächtnis gewesen. Ich bin erst erschrocken, und dann war ich wie immer glücklich und gerührt.

Als wir mit unserem ersten Kind in unsere erste Wohnung umgezogen waren, hatte ich mehr Möglichkeiten zum Verstecken; da konnte es schon vorkommen, daß ich mich nicht gleich an den Platz erinnerte, den ich mir ausgedacht hatte – aber das war kein Grund zur Aufregung.

So verging ein Jahr nach dem anderen, turbulent und lustig.

Manchmal stellte ich mir vor: eins von den (inzwischen drei) Kindern oder mein Mann überraschen mich mit ihm, und fragen mich, woher es kommt.

An einem verregneten Nachmittag war ich nahe dran, ungefragt meiner schon fast erwachsenen Tochter zu erzählen, was es mit ihm auf sich hatte – ich hatte es schon in der Hand. Irgend etwas hat mich dann doch zurückgehalten.

Wieder sind Jahre vergangen; ich suche schon längst keine neuen Verstecke mehr – gerade noch wüßte ich, wo es zu finden wäre, und außer mir kann das ja niemand wissen: bis jetzt hab ich nämlich keinem meiner Kinder, auch nicht meinem Mann – überhaupt keiner Menschenseele – entdeckt, was es damit für eine Bewandtnis hat.

Aber jetzt, jetzt ist es wirklich an der Zeit, mein lange gehütetes Geheimnis preiszugeben. Jetzt will ich endlich anfangen zu erzählen, erzählen, wie alles angefangen hat, sonst finde ich nie ein Ende.

Als kleines Mädchen, mit fünf Jahren, war ich einmal beim Laufen hingefallen, mitten auf der Straße. Vielleicht war ich über einen Stein gestolpert – jetzt lag ich jedenfalls auf dem Bauch, die Knie taten mir weh und mein rechter Arm. Ein bißchen schwindlig war mir auch.

Ich versuchte gerade aufzustehen, da kam ein schönes fremdes Fräulein zu mir her und beugte sich zu mir herunter. Sie half mir vorsichtig auf und schaute mich so freundlich an und tröstete mich so lieb, daß meine Schmerzen wie weggeblasen waren, und es wurde mir ganz leicht ums Herz.

Am rechten Zeigefinger hatte ich eine Wunde, die blutete.

Das schöne Fräulein zog ein kleines weißes Taschentuch aus ihrer Handtasche hervor, faltete es und wickelte es geschickt um meinen Finger. Kein neues Blut kam mehr durch – der ‘Verband’ des schönen Fräuleins war perfekt. Sie fragte mich ein bißchen aus, nach meinen Geschwistern usw. – ich weiß nicht mehr genau, was alles – wir standen beide immer noch mitten auf der Straße. Ich hätte ihr ewig zuhören mögen und auf ihre Fragen antworten.

Sie kam mir fast märchenhaft vor, so schön, freundlich und liebevoll – wie eine gute Fee.

Es war schon dämmrig gewesen, als ich hingefallen war, ich hatte ja schnell heimlaufen wollen, damit ich mich nicht verspäte – und jetzt war es fast dunkel. Das schöne Fräulein wollte nun wissen, wo meine Eltern wohnen – sie wollte mich heimbegleiten. Mit ihr wäre ich gern mitgegangen, nichts lieber als das, einfach immer weiter, ganz gleich, wohin. Doch zu meinen Eltern, nein, da durfte sie auf keinen Fall mitkommen, das mußte ich unbedingt verhindern. Aber wie sollte ich ihr das bloß erklären? Hilflos schüttelte ich den Kopf. Da lächelte sie und meinte, wenn ich lieber allein heimgehen wolle, dann müßten wir aber ausprobieren, ob ich ohne Hilfe gehen könne. Und wie ich das konnte! Ich stand ein paar Schritte von ihr entfernt und faßte das schöne Fräulein nun in ihrer ganzen Gestalt in den Blick, sozusagen in einen Erinnerungs-Blick. Dabei sah ich erst die drei oder vier jungen Leute, die am Straßenrand standen und zu uns herüberschauten – sie schienen zu meinem Fräulein zu gehören.

Es wurde Zeit, sich zu verabschieden. Es machte mir nichts aus, der Abschied fiel mir leicht, weil ich ganz sicher war: diese Begegnung mit meinem schönen Fräulein würde ich nie, in meinem ganzen Leben nie vergessen, ganz gleich, was sonst noch alles käme, sie würde immer mein Trost und meine Freude sein.

Wir winkten uns zu, da bemerkte ich gerade noch rechtzeitig das Taschentuch an meinem Finger. Ihr Taschentuch!

Ich wollte es herunterziehen, aber sie ließ es nicht zu: ich durfte es behalten! Sie hat es mir geschenkt! Nun hatte ich zu allem Überfluß auch noch ein Andenken bekommen, das mich immer an mein liebes Fräulein erinnern würde.

Überglücklich machte ich mich auf den Heimweg, die rechte Hand mit dem Taschentuch-Verband hoch in die Luft haltend.

Erst kurz vor dem Haus, in dessen erstem Stock wir damals wohnten, fällt mir siedendheiß ein: meine Eltern dürfen das Taschentuch ja gar nicht sehen, sonst würden sie mich ausfragen, und dann müßte ich die Begegnung mit meinem Fräulein verraten, oder verleugnen – Verrat also in jedem Fall – mein liebes Fräulein verraten!

Allein von dieser Vorstellung wird mir so angst und bang, daß es mir einen Augenblick lang fast lieber wäre, ich hätte das alles gar nicht erlebt – oder wenigstens das Taschentuch nicht geschenkt bekommen.

Aber was denke ich mir denn da alles zusammen!

Ich muß es einfach schaffen, mein Taschentuch geheim zu halten! Und ich werde es schaffen! Ich verstecke es, ich werde es eben so gut verstecken, daß niemand es finden kann.

Resolut ziehe ich das Tüchlein vom Finger und stecke es, blutig wie es ist, in meine Schürzentasche.

So hat die Geschichte von meinem Taschentuch angefangen, das nie Tränen getrocknet hat, das immer heimliche Glückseligkeit bei mir ausgelöst hat, später dazu noch Rührung und Wehmut – so oft ich es aus seinen Verstecken holte, oder auch bloß an es dachte.

Vielleicht ist es mir in den letzten Jahren tatsächlich abhanden gekommen, hat sich heimlich aus dem Staub gemacht, um woanders noch einmal ein neues Leben zu beginnen, im Tageslicht, regelmäßig gebraucht und gewaschen, als ganz normales Taschentuch.

Im Keller ist es dunkel

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