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Wer bist du?

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Wer bist du?

Wenn du deinen Namen vergisst,

wenn dein Alter nicht mehr wichtig ist,

wenn du deine antrainierten Rollen fallen lässt,

selbst die Idee einer Frau oder eines Mannes,

wenn du auch nicht mehr dein Körper bist, sondern einen Körper hast …

Wer bist du dann?

Hast du dir diese Frage je gestellt?

Wie mutig bist du ihr in den Kaninchenbau der Wahrheit gefolgt?

Wer bist du?

Deine Antwort auf diese Frage entscheidet alles.

Wie du Erfolg definierst,

wie du Leid und Glück definierst,

wie du auf Schmerz und Lust reagierst

und mit wem du deine kostbare Lebenszeit verbringst.

Wenn du eine Person auf einer Party bittest, dir etwas über sich zu erzählen, wird sie dir wahrscheinlich ihren Namen nennen, eventuell Alter, Beruf, Familienstand und Anzahl der Kinder. Kennt ihr euch besser, kommen Details aus der Kindheit dazu. Die meisten Menschen definieren sich über eine persönliche Geschichte, die mit ihrer Geburt begann. Das reicht uns heute nicht. Denn du bist in Wahrheit viel, viel älter. Und nein, ich meine dies nicht als Metapher, sondern real. Solange du einen Großteil deiner Geschichte leugnest, wirst du dich nie vollständig verstehen. Du wirst im reichsten Leben der Welt immer noch das Gefühl haben, etwas Entscheidendes fehlt. Eine namenlose Sehnsucht wird dich umtreiben, die du weder mit Arbeit noch mit Alkohol oder Konsum gestillt bekommst. Du wirst dich manchmal auch von deinen liebsten Menschen nicht erkannt fühlen. Wie auch, denn du siehst ja selbst nur einen Bruchteil von dir. Du liegst in den Armen eines geliebten Menschen und fühlst dich doch seltsamerweise mutterseelenallein. Du suchst in allem dein Zuhause. Doch etwas in dir kommt nie an. Du stellst dich heimlich infrage, denn ganz in der Tiefe scheint etwas nicht mit dir zu stimmen. Das Unangenehmste ist, dass du diese Ahnung nicht einmal benennen kannst. Etwas Entscheidendes fehlt und dir fällt nicht einmal die richtige Frage ein. Du reißt dir den Arsch für deine Ziele auf, doch wenn du sie erreichst, realisierst du erneut frustriert, dass es nicht um sie ging. Manchmal überkommt es dich und du zweifelst an, ob diese Welt überhaupt real ist. Du fühlst dich wie ein*e Zuschauer*in auf einer Riesenparty. Du stürzt dich wieder und wieder ins Getümmel, um dich abzulenken, doch wenn es leise wird, sind die seltsamen Gedanken wieder da:

Wer bin ich? Wofür bin ich wirklich hier? Wohin geht diese Reise?

So vieles an dem, was du heute erlebst, macht keinen Sinn, wenn du nicht deine ganze Geschichte kennst. Stell dir ein Waisenkind vor, welches später adoptiert wird und sich an seine wahren Eltern nicht mehr erinnern kann. Doch dieser Mensch hat auch als erwachsene Person immer die unbestimmte Ahnung, dass ihm ein entscheidendes Puzzleteil seiner Geschichte fehlt, um sich zu verstehen.

Wenn du ein bodenständiger Mensch bist und ein gemütliches Leben lebst, fragst du dich vielleicht, was ich eigentlich von dir will. Ich möchte mit dir sanft und radikal ein Paradigma erschüttern, in das wir alle hineingeboren wurden. Ein Paradigma ist ein Glaubenskonstrukt, auf das sich Menschen kollektiv einigen. Je mehr Menschen daran glauben, desto realer fühlt es sich an. Wenn du wissen willst, wie mächtig so ein Glaubensgebilde wirkt, stell dir vor, wir beide machen eine Zeitreise und stehen plötzlich am 17. Februar 1600 auf einem Platz in Rom. Um uns herum stehen aufgeregte, sich ereifernde Leute. Sie alle starren auf ein Feuer in der Mitte des Platzes, auf dem gerade – wir trauen unseren Augen kaum – ein Mensch unter fürchterlichen Qualen verbrennt. Wer ist er und was hat er verbrochen? Es ist Giordano Bruno, ein berühmter Gelehrter seiner Zeit. Er hat gewagt zu behaupten, das Weltall wäre unendlich und die Erde keineswegs sein Mittelpunkt.5 Wir schütteln entsetzt den Kopf über die Ignoranz und Grausamkeit unserer Vorfahren. Denn wir wissen es besser. Doch die Wahrheit ist, dass auch wir, wenn wir damals gelebt hätten, uns sehr wahrscheinlich von diesem »verrückten Ketzer« massiv bedroht gefühlt hätten. So mächtig wirkt ein Paradigma. Es ist so tief mit deiner Wahrnehmung verwoben, dass du nicht auf die Idee kommst, es infrage zu stellen. Du hältst alle, die es tun, für verrückt. Wir haben Menschen für verrückt erklärt, weil sie das Feuer bändigen wollten, weil sie behauptet haben, die Erde wäre eine Kugel, weil sie die Sklaverei infrage stellten oder weil sie wie Vögel fliegen wollten. Wir erklären heute Menschen für verrückt, die an eine gerechte und friedliche Utopie der Menschheit glauben, die den linearen Zeitverlauf infrage stellen, an dem wir uns alle orientieren, oder die anzweifeln, dass unser Leben erst mit unserer physischen Geburt begann.

Nur, weil der Großteil der Menschheit, inklusive dir, an etwas glaubt, ist es noch lange nicht wahr. Paradigmen sind nicht per se schlecht. Wir brauchen sie, um in der Totalität des Kosmos nicht durchzudrehen. Sie werden jedoch zum Problem, wenn wir an ihnen festhalten, obwohl sie keine zufriedenstellende Antwort auf unsere aktuellen Herausforderungen liefern. Da uns die Bedeutung und Wirkungsweise von Paradigmen leider nicht bereits in der Schule beigebracht werden, leben und sterben viele Menschen in einem unsichtbaren, geistigen Gefängnis, was sie – und das ist wirklich ein trauriger Witz – im Notfall sogar mit ihrem Leben verteidigen.

Normalerweise werden unreife Menschen erst durch massive Krisen gezwungen, ihre Paradigmen infrage zu stellen. Ich lade dich mit diesem Buch ein, es freiwillig und voller Freude zu tun. Ich werde viele Paradigmen infrage stellen und bitte dich, mir spielerisch zu folgen. Bestenfalls dehnst du deinen Verstand durch die Lektüre und lässt ein paar Gedankenkonstrukte los, die du nicht mehr brauchst. Das, was du heute fest glaubst, mag dir Sicherheit schenken, doch es verbirgt auch unendlich viele Wunder und Möglichkeiten vor dir. Du stehst dir nur selbst im Weg. Jedes von dir erfahrene Problem oder Leid entspringt nicht einer äußeren Ursache, sondern einem Paradigma, an dem dein Verstand festhält. Willst du recht haben oder glücklich sein?

Ich werde dir jetzt eine seltsam anmutende Frage stellen und lade dich ein, sie ein, zwei Minuten wirken zu lassen:

Wann hast du begonnen?

Auf welche Geschichte beziehst du dich, wenn du an dich denkst? Wann fing sie an? Bei deiner Geburt? Mit deiner Zeugung? Was, wenn das viel zu kurz gedacht ist? Stell dir vor, du könntest dich nur an alles erinnern, was nach deinem zehnten Lebensjahr geschah. Der Rest wäre komplett ausgeblendet. Es existierten keine Fotos. Niemand hätte dir etwas über diese Zeit erzählt. Deine bewusste Geschichte beginnt also mit zehn Jahren. Doch immer wieder erlebst du Situationen, in denen du auf eine Weise reagierst, die du dir nicht wirklich erklären kannst. Es ergibt einfach keinen Sinn. Irgendwann beginnst du eine Psychotherapie und diese weckt deine Erinnerungen an die Zeit vor deinem zehnten Lebensjahr. Plötzlich verstehst du dich viel besser. Dein Problem ist nicht weg, aber du gehst nun anders damit um. Milder und weiser.

Was, wenn wir alle einen großen Teil unserer Geschichte ausgeblendet haben? Was, wenn dein Leben nicht mit deiner Geburt begann? Es gibt Hunderte von bestätigten Berichten von Kindern, die sich im Detail und nachweisbar an ihr letztes Leben erinnern konnten. Für den Dalai Lama ist es selbstverständlich, sich an frühere Leben entsinnen zu können. Unsere stark materialistisch orientierte Gesellschaft mag technologisch weit entwickelt sein. Spirituell sitzen wir in der Vorschule. Wir verpassen die spannenden Fragen. Wir haben uns auf ein sehr begrenztes Verständnis menschlicher Existenz geeinigt. Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter, Tod. Das war es. Doch war es das wirklich? Macht uns nicht vielmehr ein mächtiges Paradigma blind für ein weiteres Verständnis unseres Seins? Sind wir alle Opfer einer über Generationen weitergereichten Gehirnwäsche?

Ein kleiner Körper kommt schreiend auf die Welt. Ein absolutes Wunder. Eltern sehen diesen Körper an und denken: »Dieses kleine süße Fleischklöpschen ist unser Kind!« Sie geben ihm einen Namen und feiern diesen Tag ab jetzt als seinen Geburtstag. Damit beginnt unsere offizielle Geschichte. Unsere Eltern zeigen immer wieder liebevoll auf uns, dieses herumkrabbelnde Fleischklöpschen, benennen es Tausende Male mit unserem Namen, und zu der Zeit, wenn wir denken und sprechen können, haben wir die Idee tief in uns aufgenommen. Wir sehen in den Spiegel, zeigen auf den Körper, sagen unseren Namen und wissen mit hundertprozentiger Sicherheit, dass wir das sind. Irgendwann bekommen wir ein Kind und wir geben die Idee weiter.

»Ein Mensch ist ein Fleischklöpschen« ist das mächtigste Paradigma der Menschheit. Ich behaupte, dass dies auch in den meisten Familien der Fall ist, die offiziell an Gott glauben. Denn es ist eines, sich gegenseitig tröstend vorzulesen, dass wir unsterbliche Seelen sind. Es ist etwas anderes, dies auch wirklich so zu sehen und sein Leben darauf aufzubauen. Wenn du wissen willst, woran du diesbezüglich wirklich glaubst, hör nicht auf das, was du sagst, sondern schau auf das, was du tust. Nach welchen Werten richtest du dein Leben aus? Wie behandelst du dich und deine Mitmenschen? Was siehst du, wenn du deine Liebsten betrachtest? Eine Seele in einem Körper oder ein Fleischklöpschen mit Verfallsdatum? Dies ist keine philosophische Fantasterei. Die Antwort auf diese Fragen eröffnet dir komplett verschiedene Lebensentwürfe.

Die unheimliche Macht eines Paradigmas rührt aus seiner Unsichtbarkeit. Du kannst es nicht anfassen und auf den Tisch legen. Die meisten Menschen denken es nicht einmal bewusst. Du hast es seit deiner Geburt so oft gehört, gelesen, vorgelebt bekommen. Nun ist es tief in deiner geistigen Hardware vergraben und wirkt von hier. Generationen von Menschen, Milliarden von intelligenten Bewusstseinsfeldern wachsen in dem Irrglauben auf, lediglich ein Fleischklöpschen mit Verfallsdatum zu sein. Sie werden ihr Leben lang beschäftigt gehalten, um ja nie auf die richtige Frage zu kommen. Fakt ist: Wir sind eine Spezies mit einer relativ niedrig entwickelten Bewusstseinsreife.

Die Serie See – Reich der Blinden6 spielt in einer dystopischen Zukunft, in der die überlebenden Menschen seit mehr als 500 Jahren blind sind. Sie haben gelernt, damit zu überleben. Sie kennen es nicht anders. Für die sehenden Zuschauer*innen ist es unglaublich berührend, quasi von außen zuzuschauen, wie diese Menschen nicht nur gelernt haben, den fehlenden Sinn zu kompensieren, sondern gar nicht mehr zu wissen, wie es anders sein könnte. Alles kommt durcheinander, als in einem Stamm Zwillinge mit Augenlicht geboren werden. Sie müssen ihre Gabe lange Zeit verschweigen, denn für alle anderen sind sie die Abnormalität, die Bedrohung. Was mich an der Serie am tiefsten berührt, sind die Dialoge, in denen diese Kinder versuchen, ihren Eltern Farben oder ein Buch zu beschreiben. Im Grunde genommen geht es nicht. Es sei denn, die Erinnerung an den Zustand des Sehens ist immer noch da.

Ich glaube, dass wir alle unbewusst wissen, dass wir mehr sind als dieser Körper. Doch wir haben es vergessen. Wir sehen nicht mehr, wer wir wirklich sind, und unsere derzeitige Kultur ermutigt uns nicht, diese Dimension wiederzufinden. Dies hat jedoch einschneidende Konsequenzen für unser Leben. Wer glaubt, nur ein Körper zu sein, muss sich vor dem Tod fürchten. Er wird ein Speckröllchen oder eine Falte mehr als eine persönliche Beleidigung empfinden. Schau dir unsere Gesellschaft nur mal hypothetisch aus den Augen eines Sehenden an: wunderschöne, hochintelligente Wesen, die absurde Dinge tun, um den Tod zu leugnen. Wir investieren Milliarden in Kosmetik und Botox anstatt in Meditationsretreats. Wir stecken unsere Kinder in Erziehungssysteme, die sie zu voll funktionstüchtigen Einheiten einer Leistungsgesellschaft formen. Spätestens, wenn sie die Schule verlassen, erfahren sie sich nicht mehr als Wunder, sondern als fest umrissene Objekte, die sich einzugliedern haben.

Wir zwingen diese Genies, Tage, Monate, Jahre auf einer Schulbank ruhig zu sitzen, sich mit externem Wissen vollzustopfen, anstatt sie zu ermutigen, die richtigen Fragen zu finden. Wir verbringen etwa 20 000 Stunden in der Schule. Wie viele davon beschäftigen sich mit Fragen wie: Wer bist du wirklich? Wie kannst du durch Meditation deinen urteilenden Geist so still werden lassen, dass du dich in der Tiefe erkennst? Wie kannst du durch Atmung und Bewegung deine Bewusstseinszustände bewusst verändern? Was will deine Seele in dieser Inkarnation erfahren und beisteuern? Wir beflügeln keine Genies. Wir brechen sie. Nicht aus Böswilligkeit. Wir wissen es ja selbst nicht besser. Kinder sind superschlau und für alle Signale so offen. Wenn sie anfangen, selbst zu denken, hat die Gehirnwäsche längst gegriffen. Sie deuten in einem Spiegel auf ihren Körper und sprechen laut ihren Namen aus. Sie blasen zu ihrem Geburtstag Kerzen aus und glauben, dass deren Anzahl ihr Alter verrät.

Versteh mich bitte nicht falsch. Ich liebe diesen Part unserer Existenz. Ich liebe meinen Körper und dieses Leben mit all seinen menschlichen Aufs und Abs. Doch wenn du glaubst, dass das alles ist, was dich ausmacht, bist du am Arsch. Du wirst permanent unterschwellig von Angst und Gier getrieben sein. Du wirst viele Phänomene nicht verstehen, weil sie aus einer weit größeren Ebene deiner Existenz stammen.

Du hast diesen Körper. Doch du bist nicht er. Das ist ein Riesenunterschied. Doch wer bist du dann? Gute Frage. Und wer sind eigentlich deine wahren Eltern?

Genesis

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