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Stefan Cernohuby Seine letzte Heldentat

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Lori betrachtete den Mond durch die Gitterstäbe. Seine Sichel wirkte schmal, kalt und mitleidslos. Zumindest, wenn er sich nicht gerade hinter den Wolken verbarg. Dennoch war er hoch oben am Himmel. Weit weg von allem, was hier am Boden passierte.

Lori hätte gerne mit ihm getauscht.

Lautes Schnarchen unterbrach sie in ihren Gedanken.

Sie sah sich um. Die anderen schliefen. Lori verstand nicht, wie sie das schafften. Zu schlafen. In dem Wissen, das sie am nächsten Tag sterben würden.

Sie wollte nicht sterben. Das hatte sie nicht verdient. Sie hatte nie jemandem irgendein Leid angetan.

Umso tragischer war, dass ihre Wärter das wussten. Aber weite Landstriche von Kowarien waren vom Krieg verheert, die Ernte war ausgeblieben, und alle Lebensmittel wurden von den Besatzern rationiert. Unter diesem Gesichtspunkt machte es sogar Sinn, sich unnützer Esser zu entledigen. Also ehemaligen Bediensteten, die dem vorigen König untertan gewesen waren. Ebenfalls etwas, was sich Lori niemals ausgesucht hatte.

Etwas klapperte hinter ihr, und sie erschrak. Langsam wandte sie sich um. Vor der Zelle stand Naron. Ein Junge, ein Jahr jünger als sie, der hier als Kerkergehilfe arbeitete.

Leise schlich sie zu ihm, um die anderen nicht zu wecken.

„Ich will nicht, dass du morgen stirbst“, flüsterte er. Eine Träne lief über seine Wange.

Lori fasste etwas Hoffnung.

„Dann lass mich gehen. Ich weiß, dass du einen Schlüssel hast. Und wer wird mich schon suchen? Ich war Kammerzofe, nicht mehr!“

Naron wirkte betrübt, aber nicht überzeugt. „Wenn sie mich erwischen, hänge ich neben dir und den anderen.“

Lori griff durch die Stäbe und legte ihre Hand auf seinen Unterarm.

„Dann komm mit mir. Ich weiß, dass du mich magst. Wir können gemeinsam davonlaufen. Und fangen irgendwo neu an.“

Naron überlegte. Er blickte lange in Loris Gesicht, während seine Rechte unbewusst den Schlüsselbund umklammerte.

Dann schüttelte er den Kopf.

„Es tut mir leid, ich kann nicht.“

Er befreite seinen Arm mit sanfter Gewalt aus Loris Griff, dann wandte er sich ab und lief davon. Immer noch weinend.

„Feigling!“, rief sie ihm hinterher. Ihre letzte Chance war dahin.

„Sei still“, knurrte der ehemalige Minister Ludwig und drehte sich im dreckigen Stroh um. „Ich will schlafen.“

Lori seufzte. Dann trat sie wieder ans Fenster und blickte zum Mond hinauf.

„Na endlich, ich dachte schon, er würde nie verschwinden.“

„Wer…“, begann Lori, wurde aber unterbrochen.

„Still. Ich werde euch hier herausholen. Weck die anderen auf. Aber leise.“

Lori sah, wie zwei kräftige Hände ein dickes Seil um die Gitter legten.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Seil für diese Mauern reichen wird“, meinte Lori, rüttelte aber dann ihren ersten Zellengenossen wach.

Max, der Koch schnaufte, dann schlug er die Augen auf.

„Lass das mal meine Sache sein“, raunte der Fremde. „Ich bin nicht zum ersten Mal hier.“

Lori sah, wie sich das Seil um die Gitterstäbe spannte, während sie Olivia weckte. Die ehemalige Haushälterin des Ministers hatte schon einiges an Gewicht eingebüßt, seit sie hier im Gefängnis waren. Lori hatte die Theorie, dass es daran lag, dass ihr Mund trotz ihrer Gefangenschaft nie stillgestanden hatte. Daher hielt sie ihr vorsorglich die Hand davor.

„Still“, flüsterte sie. „Man holt uns hier heraus.“

Minister Ludwig stieß erneut einen Fluch aus, als ihn Lori weckte, hielt dann aber verwundert inne, als sie ihn in die Seite boxte.

„Wir werden befreit“, raunte ihm Lori zu.

„Wurde auch Zeit“, knurrte der Mann. „Dachte mir schon, dass sie mich nicht hierlassen würden.“

Dann fixierte auch er das Seil, das sich immer mehr spannte.

„Lori“, kam plötzlich eine Stimme von hinten. Sie wirbelte herum. Es war Naron. Erneut. „Ich habe es mir anders überlegt. Ich werde das Risiko eingehen, wenn ich dafür mit dir zusammen sein kann.“

Lori fröstelte plötzlich. Sie trat auf ihn zu und nahm ihn an der Hand.

„Ist das wahr?“, flüsterte sie und stellte sich so, dass sie sein ganzes Gesichtsfeld einnahm. „Das würdest du tun?“

„Ja. Aber du musst schnell sein. Natürlich kann ich nur dich herausholen.“

„Das verstehe ich. Dann mach die Tür auf.“

In diesem Moment knirschte es. Nicht wirklich laut. Aber doch unüberhörbar, wenn man direkt vor der Zelle stand.

„Was war das? Was passiert da?“, fragte Naron und versuchte mehr zu erkennen. Lori hielt seine Hand fest und sah im fest in die Augen.

„Ist das wichtig? Hol mich hier heraus. Dann können wir weg. Für immer.“

„Ich will jetzt wissen, was da vorgeht“, knurrte Naron und stieß Lori von sich. Sie taumelte zwei Schritte zurück und sah, wie sich Narons Augen ungläubig weiteten.

„Runter, Mädchen“, ertönte eine befehlsgewohnte Stimme und Lori ließ sich sofort fallen.

Etwas zischte und riss Naron von den Beinen.

Lori kämpfte sich hoch und starrte Naron an. In seiner Kehle steckte ein Wurfdolch. Blut strömte aus seiner Kehle. Er versuchte etwas zu sagen, doch aus seinem Mund kam nur ein entsetzlich feuchtes Gurgeln.

Dann lag er still.

„Worauf wartest du? Los jetzt!“, erklang die gleiche Stimme wie zuvor.

Um das Gitter herum befand sich ein beinahe menschengroßes Loch in der Wand. So, als wäre ein Teil der Ziegel einfach entfernt worden.

Lori setzte sich in Bewegung, kletterte durch das Loch und stand neben einem drahtigen Mann, der ihr einen weiteren Dolch in die Hand drückte.

„Hier. Nimm das.“

„Ich kann nicht kämpfen“, gab sie zurück.

„Er ist auch nicht dafür gedacht“, meinte der Mann mit einem Lächeln, das irgendwie so wirkte, als hätte er diese Sätze schon zu oft gesagt. „Sondern für den Fall, dass man euch erwischt. Glaub mir, du willst ihnen nicht nochmal in die Hände fallen.“

Lori nickte und steckte den Dolch ein. Vermutlich hatte er die anderen schon versorgt.

„Kommt jetzt. Wir müssen hier raus. Die Patrouille ist zwar ein schlechter Witz, aber wir sind noch lange nicht in Sicherheit. Wer von euch ist Alphons Ludwig?“

„Das bin ich“, bekannte der ehemalige Minister und verbeugte sich elegant.

„Gut. Ich bin hauptsächlich deinetwegen hier. Stimmt es, dass du die Steuereinnahmen vor dem Eintreffen der Rinkonier in Sicherheit gebracht hast?“

„Selbstredend.“

Das ölige Grinsen des Ministers weckte Übelkeit in Lori. Wurden sie gerade nur deshalb gerettet, weil ein korrupter Minister Geld versteckt hatte?

„Das heißt, Ihr werdet dafür bezahlt, uns zu befreien?“

Lori hielt sich die Hand vor den Mund, als sie feststellte, dass sie das gerade laut gesagt hatte.

„Nein. Ich werde nur bezahlt, ihn zu retten.“ Der Unbekannte zeigte auf Minister Ludwig. „Euch nehme ich gratis mit. Soll ich euch lieber zurücklassen?“

„Nein“, stieß Lori aus.

„Dann folgt mir. Leise. Und nennt mich Mischka.“

Die vier Gefangenen folgten ihrem Befreier. Lori war völlig verblüfft, dass Olivia bisher noch kein einziges Wort gesagt hatte. Ihre Augen hingen wie festgewachsen an ihrem Befreier. Offenbar war ihr Selbsterhaltungstrieb doch stärker als ihr Mitteilungsbedürfnis.

„Verdammt“, fluchte Mischka. „Wir sind spät dran. Wir müssen vor der Wachübergabe am Südtor sein. Beeilt euch!“

Die Straßen waren leer. Zweimal sahen sie das Licht einer Fackel, aber immer mehrere Gassen entfernt. Ihr Befreier kannte die Routen der Patrouillen. Trotzdem trieb er sie unbarmherzig weiter an – auch als Sophia stürzte und sich das Bein aufschürfte. Max, der Koch, riss sie wieder hoch.

„Wir sind da. Bleibt hinter mir. Wir sind gleich raus.“

Mischka trat auf die Metalltür mit dem kleinen Fenster zu und klopfte. Zweimal kurz, einmal lang, zweimal kurz.

Die Klappe ging kurz auf, schloss sich wieder, danach öffnete sich die Tür.

„Schnell“, brummte eine tiefe Stimme. „Die Ablösung ist überfällig. Ihr müsst hier raus.“

„Aber klar doch“, entgegnete ihr Befreier und warf dem Mann einen Beutel zu. Es klimperte. Münzen. „Bis zum nächsten Mal, Olaf.“

Der Mann bedeutete den Gefangenen, durch das Tor zu gehen.

„Was ist da los?“, rief plötzlich eine Stimme. Jung, kraftvoll und selbstbewusst.

„Gar nichts, gar nichts“, erwiderte Torwächter Olaf. „Hier gibt es nichts zu sehen.“

„Unsinn“, rief der andere und zog sein Schwert aus der Scheide. „Lässt du wieder Schmuggler aus der Stadt? Ich habe dich gewarnt, dass ich kein Auge mehr zudrücken werde.“

„Ach komm schon, Garron. Das sind Freunde von mir. Du kannst doch dieses eine Mal darüber hinwegsehen, oder?“

„Ganz bestimmt nicht. Ihr werdet mich alle zur Hauptwache begleiten, und …“

Der Mann stutzte.

„Das sind keine Schmuggler. Das sind die kowarischen Gefangenen.“

Er blickte Olaf etwas verwirrt an. „Du bist also nicht nur käuflich, sondern auch ein Verräter.“

Seine Stimme wurde hart. „Übergib mir dein Schwert, dann werde ich dafür sorgen, dass du einen fairen Prozess bekommst.“

„Ich störe ja nur ungern“, mischte sich Mischka ein. „Aber wir haben keineswegs vor, mit euch zu kommen. Vergesst, was ihr hier gesehen habt, und ich werde euch dafür entlohnen.“

„Das hättet ihr wohl gerne.“ Garron lachte und machte einige Probeschwünge mit dem Schwert. „Ich werde euch töten. Die Gefangenen werden wie geplant aufgeknüpft, und der gute Olaf wird ihnen Gesellschaft leisten.“

„Das kann ich leider nicht zulassen.“ Auch ihr Befreier zog sein Schwert. Er bewegte sich nicht, sondern wartete darauf, dass der Wachmann näherkam.

Er tat ihm den Gefallen und drang mit seinem Anderthalbhänder auf ihn ein.

Lori zog scharf die Luft ein, als sie sah, mit welcher Wucht der Wachmann angriff.

Alles ging sehr schnell. Ihr Befreier blockte zwei der Hiebe ab, drehte sich unter einem dritten hindurch. Er bewegte sich elegant und tödlich, sein Schwert blitzte auf, und der Wachmann blickte ungläubig auf die Klinge, die in seiner Seite unter seiner Achsel steckte.

Mischka drehte die Klinge mit einem Ruck. Garron stöhnte, bäumte sich noch einmal auf und brach dann zusammen.

Dann drehte sich Mischka zu Olaf um und rammte ihm das Schwert ebenfalls in die Brust.

„Es tut mir leid. Ist nichts Persönliches. Aber Geschäft ist eben Geschäft.“

Er nahm den Beutel mit seiner Bezahlung wieder an sich und wandte sich an die anderen.

„Kommt jetzt“, rief er. Wir müssen hier endlich weg. Zum Fluss.“

Als sie außer Sichtweiter des Stadttors waren, dachte Lori, dass sie nun wirklich eine Chance hatten, zu entkommen.

Zumindest, bis sie den Hufschlag hörte, der sich von hinten näherte.

„Runter von der Straße“, rief Mischka und drängte die befreiten Gefangenen seitlich über die Böschung. Doch Lori wollte sehen, was passierte. Sie kauerte sich an die Kante und sah zu.

Es waren drei Reiter, die auf Mischka zukamen und offensichtlich kein Interesse daran hatten, die Flüchtigen lebend zu fangen, denn der erste der Reiter hielt mit vollem Tempo auf ihn zu und schwang sein Langschwert.

Mischka wich dem eher plumpen Schlag aus und führte stattdessen einen Hieb gegen die Beine des Pferdes, das wiehernd stürzte, sich überschlug und seinen Reiter unter sich begrub.

„Das war nicht sehr ritterlich.“

Die anderen beiden hatten ihre Pferde angehalten und stiegen gerade ab. Der Sprecher trug die Uniform eines Hauptmanns.

„Warum sollte ich ritterlich handeln?“ Mischka ging langsam auf die beiden zu.

„Weil ich nur zu gut weiß, wer Ihr seid. Was ich nicht verstehe, ist, warum Ihr das tut. Einfache Gefangene befreien. Korrupte Minister.“

„Für Geld natürlich. Auch ich muss leben.“

„Dann werde ich wohl einen Schlussstrich unter Eure Laufbahn setzten, Sir. Und da Ihr auf Ritterlichkeit verzichtet habt, werden wir das auch tun.“

Er bedeutete dem andern Soldaten, sich einige Schritte zu entfernen. „Wir nehmen ihn in die Zange. Auf meinen Befehl hin angreifen.“

Einige Augenblicke lang umkreisten die beiden Mischka, dann verlor der zweite Soldat die Fassung und schwang seinen Streitkolben mit beiden Armen.

Der Hauptmann brüllte vor Wut auf und drang mit seinem Schwert ebenfalls auf Mischka ein. Zu spät für seinen Untergebenen.

Mischka riss das Schwert gerade noch rechtzeitig aus der Brust des sterbenden Soldaten, um den Hieb des Hauptmanns abzublocken. Der Schlag prellte ihm jedoch das Schwert aus der Hand, das klappernd davonschlitterte. Mit einem Fluch rollte er sich ab, und der nächste Schlag ließ Funken aus dem Kopfsteinpflaster fliegen.

„Halt still und stirb wie ein Mann!“, brüllte der Hauptmann.

Lori griff in den Gürtel und zog den Dolch hervor, den ihr Mischka gegeben hatte.

Dieser rettete sich gerade mit einem verzweifelten Sprung von einem weiteren Angriff.

„Mischka, hier!“, rief Lori und warf dem Krieger die Waffe zu.

Ihr Wurf war schlecht gezielt, und der Dolch prallte eine Manneslänge neben ihm auf den Boden.

Doch der Aufprall lenkte den Hauptmann der Wache ab, der einen Moment aufsah. Zeit genug für Mischka, den Dolch aus der Scheide zu reißen und zu werfen.

Der Hauptmann erstarrte und drehte sich halb herum. Aus seinem linken Auge schien ein Horn gewachsen zu sein.

Dann brach er zusammen.

Mischka erhob sich, riss den Dolch aus dem Auge, wischte ihn an der Kleidung des Toten sauber und gab ihn Lori zurück.

„Danke. So war es einfacher.“

Dann holte er sich sein Schwert und übernahm wieder die Führung.

Als sich das Floß in Bewegung setzte, nahm Lori all ihren Mut zusammen.

„Ihr heißt nicht Mischka.“

Der Mann, der sich ihnen gegenüber als Mischka vorgestellt hatte, wandte sich ihr zu.

„Sondern? Wie heiße ich?“

„Ich denke, Euer wahre Name ist … Botharogas.“

Der Mann zuckte mit keiner Wimper.

„Und wenn dem so wäre?“

„Dann sind wir Euch zu großem Dank verpflichtet. Obwohl …“

„Was?“

„Obwohl ich mich dann schon fragen würde, warum ein Held, der dem Hochkönig von Rusonir auf den Thron verholfen, die Nord-West-Passage von Seedrachen befreit und dafür gesorgt hat, dass die Zwillingsprinzen ihre große Liebe heiraten durften, weitgehend unwichtige Gefangene aus einem winzigen Gefängnis befreit.“

„Das habe ich doch schon gesagt. Des Geldes wegen.“

„Aber Ihr müsst doch reich sein. Unzählige Menschen stehen in eurer Schuld.“

„Reich? Hast du eine Ahnung, was das Leben als Held so kostet? Man reist von einem Ende der bekannten Welt zum anderen. Die meisten sind der Meinung, dass es genug wäre, einen Helden zum Ritter zu schlagen. Oder eine Parade zu veranstalten. Oder ihm ein Schwert mit goldenem Griff oder ein besonders edles Pferd zu schenken.“

Er verzog verächtlich das Gesicht.

„Erstaunlich, wie leicht man dann am Schwertgriff erkannt wird oder wie schnell das Pferd aus dem nächsten Stall verschwindet. Manche versprechen einem dann, bei den nächsten Steuereinnahmen zu zahlen. Dann ist die Ernte schlecht oder der Schatzmeister weiß nichts von den Anweisungen. Und da hat man dieses Kastell, dass einem irgendein Fürst geschenkt hat, mitsamt Personal und Bauern, das auf regelmäßiges Einkommen angewiesen ist. So landet man dann auf einem Floß, um einen kleinen Minister zu befreien, der angeblich die Steuereinnahmen von zwei Jahren … in Sicherheit gebracht hat. Für ein Zehnt davon.“

„Und dafür begebt ihr euch so tief in feindliches Gebiet?“

„Mir bleibt nichts anderes übrig. Wobei feindliches Gebiet immer relativ ist. Wer so lange wie ich …“

Plötzlich brüllte Botharogas auf und brach in die Knie. Er tastete nach hinten, wo ein Messer steckte.

„Ja“, sage die Haushälterin Olivia. „Wer so lange wie Ihr im Geschäft ist und für den Meistbietenden arbeitet, hat schon auf jeder Seite gekämpft. So wie letztes Jahr. Auf Seiten der Rinkonier.“

Bist du verrückt, Weib?“, brauste der Minister auf. „Er muss uns hier herausbringen!“

Max, der Koch, hielt ihn zurück. Er wog ungefähr doppelt so viel wie der dürre Minister, also fiel ihm das nicht so schwer.

„Zurück mit dir! Hier geht es um etwas Persönliches.“

„Mein Sohn war der Kommandant der Palastwachen. Du hast ihn eigenhändig getötet, als du die Truppen zum König geführt hast. Ich habe es gesehen!“

Botharogas stöhnte. Er hatte sichtlich Schmerzen. Aber vor allem wirkte er müde.

Sehr müde.

„Ich habe so viele getötet. Keine Ahnung, von wem du redest. Aber er stand eben auf der anderen Seite.“

„Ja“, erwiderte Olivia. Und heute stand ich hinter dir, du Held.“

Sie wandte sich an Max. „Gib mir deinen Dolch. Ich mache dem jetzt ein Ende.“

Botharogas schloss die Augen. „Es ist vielleicht besser so. Besser so, als irgendein namenloser Soldat in irgendeiner Schlacht. Aber …“

„Kein Aber!“, brüllte Olivia und versenkte den Dolch in Botharogas‘ Brust.

Doch sie war nicht schnell genug, denn er packte ihr Handgelenk und zog sie zu sich.

„Da ist noch eine Kleinigkeit…“, stöhnte er.

Das Floß trieb in der Mitte des Flusses, als der befestigte Wachposten in Sicht kam. In der Morgendämmerung war es zwar kaum zu sehen, aber irgendjemand hatte es wohl doch entdeckt. Ein Horn erschallte.

Hoch aufgerichtet stand Botharogas in der Mitte des Floßes. Er hatte einen Arm um einen provisorischen Mast geschlungen, und eine Hand ruhte an seinem Schwertgriff. Er stand auch noch, als sich die ersten beiden Pfeile in seinen Brustkorb bohrten. Erst der dritte, der ihn seitlich in den Hals traf, fällte ihn und ließ ihn auf einen der braunen Leinensäcke stürzen, der auf der Ladefläche lag.

Niemand sah, wie der Sack dadurch ins Rutschen kam und ins Wasser stürzte. Wie etwas im Sack zappelte, als dieser versank. Und wie sich etwas in einem anderen Sack kurz aufbäumte, als ein schlecht gezielter Pfeil ihn durchbohrte.

Lori streifte den Leinensack ab. Man konnte nicht einfach über die Grenze spazieren, hatte Botharogas gesagt. Und ihnen seinen Plan verraten.

Drei Pfeile steckten in seinem Körper.

Er hatte Recht behalten. Niemand hatte sich weiter um das Floß gekümmert, nachdem er gestürzt war. Sie erhob sich. Längst war der Wachposten außer Sicht.

Ihr gegenüber erhob sich der Minister und warf den Sack naserümpfend von sich.

„Wo ist Max?“, fragte Lori.

„Keine Ahnung“, erwiderte Minister Ludwig. „Aber das hier sieht nicht gut aus.“

Er deutete auf einen Pfeil, der in einem anderen Sack steckte und um dessen Eintrittstelle Blut zu sehen war. Viel Blut.

„Oh nein“, stieß Lori aus und zerrte an dem Pfeil. Er löste sich mit einem Ruck. Die Spitze war rot. Sie sah in den Sack und blickte in Olivias gebrochene Augen. Der Pfeil hatte sich in ihren Hals gebohrt.

Doch Lori hatte nicht lange Zeit, sie entsetzt anzustarren, denn Minister Ludwig versetzte ihr einen Tritt, der Olivia ins Wasser schlittern ließ.

„Ausgleichende Gerechtigkeit“, meinte Ludwig und zuckte mit den Schultern. „Sie hat Botharogas‘ Tod zu verantworten.“

„Er hat uns trotz allem noch beschützt“, sagte Lori, die den toten Kämpen auf den Rücken drehte.

„Ja. Das war seine letzte Heldentat“, stimmte Ludwig zu. „So werden wir es den Leuten erzählen. Er starb, um uns zu retten. Und zum Glück wird er nie erfahren, dass das mit dem Geld nur ein Gerücht war. Ich habe es gestreut, damit man uns am Leben lässt. Dass man uns befreit hat, das war gewissermaßen ein Bonus.“

Lori blickte Ludwig verblüfft an, der sich bereits abgewandt hatte und das Wasser vor ihnen betrachtete. In wenigen Stunden würden sie in Ediala ankommen, Botharogas Heimatstadt. Würde der ehemalige Minister damit davonkommen?

Eine gute Zofe war ein Statussymbol. Und Lori hatte für einen König gearbeitet. Dementsprechend hatte sie schnell eine neue Anstellung gefunden. Jemanden wie sie konnte man brauchen – im Gegensatz zu einem Alphons Ludwig, der letztendlich für Meineid und Pflichtvergessenheit gehenkt worden war.

Lori blickte auf die Statue, die man zu Ehren von Botharogas errichtet hatte. Sie war noch da, auch zwei Jahre nach seinem Tod, und zeigte den Helden überlebensgroß, auf einem gewaltigen Streitross. Vermutlich war das jenes Ross, dass man ihm gemeinsam mit dem Schwert mit Goldgriff und dem Adelstitel geschenkt hatte. Nachdem seine Krypta zum dritten Mal geplündert worden war, hatte man seinen Leichnam eingeäschert und die Asche in die Königsgruft gebracht. Es wurden kleine Figuren von ihm verkauft, und man sprach in den höchsten Tönen von seinem Edelmut, seinem galanten Umgang mit Frauen und von seinem Kampfgeschick, das ihm letztendlich gegen drei Pfeile nichts genutzt hatte. Nur manchmal fluchte der eine oder andere Händler, dass ihm der große Held Botharogas noch Geld geschuldet habe.

Seine letzte Heldentat war zu einer Legende geworden.

Lori schüttelte den Kopf.

Es war nicht leicht, in der echten Welt ein Held zu sein.

Tod des Helden

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