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Kornelia Schmid Der Ton einer Harfensaite

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„Heute bist du gestorben.“

Zuerst waren die Worte nur ein Wispern und schwirrten wie eine sanfte Melodie in seine Träume. Rerik blinzelte den Schlaf aus den Augen. Die Stimme summte noch in seinen Ohren. Langsam setzte er sich auf. Unter seinem Türschlitz sickerte Glut hervor und waberte auf ihn zu. Ein hoher Ton zitterte in der Luft.

„Vielleicht bist du nicht einmal mehr hier“, sagte die Stimme. Nicht mehr leise. Sie klang direkt vor Rerik. Als stünde der Sprecher im Raum. Das sonderbare Leuchten bäumte sich auf und spie ein Paar stechender Augen aus, bevor sich um sie ein Gesicht aus rotem Licht zusammenballte. Die Hände formten sich als Nächstes, bevor der restliche Körper aus Flammen wuchs. Das Geräusch in seinen Ohren stach..

Rerik strampelte sich aus seiner Bettdecke. Der wirbelnde Umhang des Eindringlings warf Funken auf die Dielen. Würden die fremden Augen ihn verbrennen, wenn er sie zu lange ansah? Kurz war Rerik reglos, starrte nur die Erscheinung an, und schwarze Pupillen starrten zurück. Der Moment zog sich so lang, dass er die Hitze vergaß. Wenn er träumte, so musste gleich alles davonfliegen.

Der Fremde schnippte eine Flamme zu Rerik herüber. Für einen Augenblick flatterte sie wie ein Schmetterling, dann brannte sie auf seiner Hand und fraß sich in seine Haut. Vor Schmerz schrie er auf. Die letzten Reste des Traumes fielen von ihm ab, und heiß durchdrang ihn das Bewusstsein der Wirklichkeit. Es passiert tatsächlich. Blutiger Schein in seinem Zimmer. Diese Hölle brach in der Realität los. Hier in seinem Palast, in seinem Zimmer, in diesem Moment.

Rerik sprang in die Höhe und hechtete zur verschlossenen Tür. Wie war der Kerl hier hereingekommen? Ein Magier. Ein waschechter Magier, und das fünfhundert Jahre nach König Karyans Tod.

Die Wachen vor seinen Gemächern waren verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Rerik hastete über den verlassenen Flur. Eine feurige Woge verfolgte ihn und trieb ihm Schweiß auf den Rücken. Seine nackten Füße patschten über den Boden.

Der Magier trug metallbeschlagene Schuhe, die gleichmäßig auf die Fliesen klackten. Von hinten flutete Licht über Rerik hinweg und löschte das Weiß der Säulen und Bodenplatten. Keuchend erreichte er die gewundene Treppe. Als er die Stufen hinunterjagte, schirmten die Wände das Glühen vor ihm ab, doch in der Eingangshalle quoll es wieder hinter ihm auf.

Rerik riskierte einen Blick über die Schulter. Glühender Nebel um eine hochgewachsene Gestalt in kostbaren Gewändern. Der Magier hatte es offenbar nicht eilig. Hoch aufgerichtet stand er im Saal. Ein Paar funkelnder Augen verfolgte Rerik, und Flammen loderten am Boden. Seine Lippen mochten ein Lächeln formen.

Die große Tür war vor ihm. Rerik drückte den Griff und warf sich mit aller Kraft dagegen. Ein schwerer Flügel schwang auf, und Rerik schob sich ins Freie. Sein Herz hämmerte heiß in seiner Brust. Jeder Atemzug brannte.

Die beiden Wachen starrten ihn an, ohne ein Wort zu sagen. Natürlich nicht. Man sprach seinen König nicht an.

„Nehmt ihn fest“, schnappte Rerik und wies hinter seinen Rücken.

„Aber Ihr sagtet doch -“

Ich sagte?“

Über den Hof donnerte eine Explosion. Eine Hitzewelle schleuderte Rerik nach vorne. Seine Handflächen platzten beim Aufprall auf. Als er sich aufrappelte, stand der Magier nur ein paar Schritte entfernt. Das Rot zog sich allmählich zurück, sodass seine Konturen deutlich genug sichtbar wurden, um menschlich zu wirken. Auf seinem Haupt lag Reriks Krone. Der Magier hob so langsam die Hand, als würde die Zeit zerschmelzen.

Rerik ließ es nicht darauf ankommen. Er rannte, so schnell er konnte, und drehte sich erst um, als sein Palast weit hinter ihm lag.

Um die Türme des Schlosses wand sich roter Dunst, doch ansonsten lag es ruhig da, als wäre nichts geschehen. Keine Schreie gellten aus den Fenstern. Keine Flüchtenden strömten durch die Tore. Rerik rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn. Hatte er keine Verbündeten? Seine Garde, seine Berater ...

Das rote Licht sickerte über die Wände, floss in seine Richtung. Rerik schnappte nach Luft und begann wieder zu laufen. Am Horizont leuchtete die Morgensonne unter dunklen Wolkenbahnen und tauchte den Tag in Glut.

Rerik hielt sich an den Verlauf der Straße. Vielleicht keine gute Idee. Mit Pferden mochten sie ihn schnell einholen. Aber wer waren sie überhaupt? Der Magier verfolgte ihn nicht. Warum? Rerik wischte sich Schweiß von der Stirn. Offenbar war er keine Bedrohung für ihn. Rerik stieß Luft zwischen den Zähnen aus. Wer auch immer das Geheimnis der Magie ergründet hatte, hatte es nicht aufgeschrieben. Niemand konnte ihm sagen, wie man ein Magier wurde. Oder was der Preis dafür war. König Karyan hatte der Legende nach sein Blut verkauft.

Gegen Mittag spannte sich ein grauer Himmel über die Landschaft und ließ keine Spur von Rot mehr auf seinen Wolken zu. Die Straße war belebter geworden. Händler und Kuriere taten ihre Arbeit. Regentropfen klatschten auf den Boden. Rerik schlang die Arme um die Brust und senkte den Blick. Kaum jemand beachtete ihn, während er zitternd dem matschigen Weg folgte. Die Wagen rollten gleichgültig an ihm vorbei.

Rerik biss die Zähne zusammen. Er trug eine dünne Hose, keine Schuhe, nicht einmal ein Hemd. Niemand würde ihn für einen König halten – und wenn sie es täten, mochte das sein Leben kosten. Rerik zwang sich Schritt für Schritt durch den kalten Schlamm. Die Regentropfen stachen wie Eiskristalle in seine Haut. Die brennende Berührung der roten Flamme war erloschen. Seine aufgeschürften Handflächen hingegen schmerzten noch immer.

Wolken verhüllten die Nachmittagssonne. Der Regen war abgeklungen, hatte jedoch schweren Moderduft in der Luft zurückgelassen. Reriks Haut fühlte sich wie gefroren an. Seine Muskeln waren verhärtet und schmerzten bei jeder Bewegung. Ein König fror nicht. Ein König ging nicht zu Fuß.

Grüne Hügel säumten die schmaler werdende Straße. Im Gras schimmerten Tropfen. Rerik sackte auf einen Stein am Wegrand und schloss eine Weile die Augen. Sein Herz pochte so schwach, dass ihn nur das laute Knurren seines Magens und seine wunde Kehle daran erinnerten, dass er noch lebendig war.

„Ich bin der König von Zenbara“, flüsterte Rerik. Dem König musste es doch möglich sein, irgendwo Kleidung und eine Bleibe zu finden.

Und dann? Wer würde ihm seine Krone zurückgeben können, solange sie die Stirn eines Magiers zierte? Vielleicht war der Magier ohnehin ein besserer König als er.

Rerik schüttelte den Kopf. Es spielte keine Rolle. Eine Tränenspur benetzte seine Wange. Er blinzelte gegen das Brennen in seinen Augen an. Hinter den Bäumen glomm ein blaues Licht. Nebelschwaden wirbelten heraus und trugen unruhigen Schein mit sich. Der Wind pfiff hohe Töne wie von einem Lied. Reriks verschwimmender Blick klärte sich. Sein Herz pochte schneller. Eine Melodie aus dem zarten Schwirren einer Harfensaite. Er hatte so etwas schon einmal gehört.

Langsam stemmte er sich in die Höhe. Der Wald schloss in einem gleichmäßigen Bogen an den Hügel an, als hätte jemand mit einem Zirkel einen Kreis gezogen. Wie war dieses Licht nur möglich? Rerik lauschte auf die Musik der Luft und machte ein paar Schritte auf die Bäume zu. Je näher er kam, umso lauter wurden die Klänge. Das Leuchten pulsierte stärker, färbte sich zu einem satten Türkis. Rerik streckte die Hände aus. Seine Finger zitterten. Inmitten des Dickichts lag Magie. Dort konnte er sie finden. Als Magier konnte er sein Königreich zurückerlangen. Er würde mit blauem Feuer gegen den Thronräuber kämpfen. So hatte der große König Karyan die Macht erlangt. Der letzte Magier und mächtigste Herrscher von Zenbara. Um seine Person rankten sich mehr Legenden, als in ein Buch passten.

Rerik schnaubte. Er war sich ziemlich sicher, dass in fünfhundert Jahren niemand mehr über ihn sprechen würde. Er war schließlich nur ein bedeutungsloser Monarch, jung gekrönt und ebenso jung gestürzt.

Magie also. Vielleicht musste auch er dafür sein Blut opfern, ganz wie Karyan es getan hatte. Rerik nickte und machte einen weiteren Schritt vorwärts.

„Nicht, mein Junge!“ Ein bärtiger Mann sprang auf ihn zu und patschte ihm eine große Hand auf die Schulter.

Rerik starrte den Fremden an und fragte sich verzweifelt, wie dieser es nur wagen konnte, so mit einem König zu reden. Aber er war kein König mehr. Konnte man es dem Mann verdenken, dass er nur einen verdreckten Jungen sah? Mit allerweltsbraunen Haaren und zerschlissen genug gekleidet, um nirgendwo anders hin als auf die Straße zu gehören.

Der Mann hingegen trug ein Wams aus Leinen und eine saubere Hose. Sein breitkrempiger Hut schützte ihn vor dem Wetter, und sein Bart war ordentlich gestutzt – alles im Gegensatz zu Rerik.

Er holte tief Luft. „Was soll ich nicht tun?“

„Der Wald ist verflucht“, sagte der Mann.

Der türkisfarbene Schein sah nicht bösartig aus. Ganz anders als das Glutlicht des Thronräubers. Rerik deutete auf die Nebelschwaden. „Was ist das?“

Der Mann blickte nur kurz hinüber. „Der Wald der Seelen. Mächtige Magie ist dort am Werk.“

„Welche Art von -“

„Welche Art? Wann hat uns Magie jemals etwas Gutes gebracht?“ Der Fremde schüttelte den Kopf. „Was auch immer du vorhast, lass es bleiben. Auf meinem Hof gibt es keine Magie, dafür ehrliche Arbeit.“

Als er Hof hörte, musste Rerik lachen. Hatte es an seinem Hof auch ehrliche Arbeit gegeben? Er hustete gegen das Kratzen in seinem Hals. Wie ein Bauer sollte er arbeiten, dabei war er doch ein König. Gewesen.

Rerik nickte langsam. „Vielen Dank.“ Seine Stimme war ein Krächzen.

Er sah noch einmal zu den Bäumen hinüber, doch der leuchtende Nebel war verschwunden. Der Fremde atmete hörbar aus und murmelte etwas, das Rerik nicht verstand. Als er zurück zu seinem Wagen ging, folgte ihm Rerik.

Die Arbeit trieb ihm Schweiß auf die Stirn und ließ seinen Rücken schmerzen. Während er das Feld von Derias Vater pflügte, vergaß Rerik oft, dass er eigentlich ein König war. Erst abends, wenn er der Straße bis zum Waldrand folgte, dachte er wieder daran, dass die Magie auf ihn wartete.

Leider hatte er den blauen Schein seit dem Tag vor drei Jahren nie wieder gesehen. Genauso wenig wie die Soldaten seines Palastes, seine Berater oder den Thronräuber. Niemals hatte er das Küchenmesser, das er immer bei sich trug, zur Verteidigung ziehen müssen. Das war vermutlich gut so, aber wenn er die Kneipe des Dorfes aufsuchte und kein einziges Gerücht über seinen Sturz hörte, schmerzte seine Bedeutungslosigkeit wie ein Stich in die Eingeweide. Sie sprachen zwar vom „König“, nannten ihn aber nie beim Namen, kannten diesen vermutlich auch gar nicht. Ein fremder Fürst sollte letzten Monat vor ihm gekniet haben.

Rerik schirrte das Pferd ab und führte es zurück in den Stall. Im angrenzenden Haus brannte Licht. Derias Mutter hatte das Abendessen vorbereitet. Rüben, vermutlich. Oder Kohl. Rerik schloss die Tür ab und lief zur Straße. Es dauerte nicht lange, bis er den Stein erreichte, auf dem er damals gesessen hatte, frierend und schmutzig. Die Hügel wölbten sich wie zuvor, und die Bäume raschelten im Abendwind. Der Schein der untergehenden Sonne durchdrang ihr Laub. Sonst nichts.

Rerik war schon oft hineingegangen. Ein Wald wie jeder andere. Das spektakulärste, was er gefunden hatte, war ein verrostetes Schwert in der Erde. Ansonsten nur einen vermodernden Wegweiser, dessen Schrift unleserlich geworden war, und ein leeres Fass, das irgendjemand zwischen Baumwurzeln zurückgelassen hatte. Rerik rieb sich fröstelnd die Oberarme. Was war damals anders gewesen als jetzt? Warum hatte er auf Derias Vater gehört?

„Schon wieder hier?“

Rerik zuckte zusammen und wandte sich um. Derias Augen waren blau wie der verborgene Schein. Ihr Lächeln zauberte Grübchen in ihre Wangen. Rerik schluckte und spürte, wie ihm Blut in die Wangen schoss. Er hatte noch nicht einmal ihre Schritte gehört.

„Ich wollte nur -“

„Die Bäume anstarren, wie immer.“ Deria verschränkte die Arme. Sie lächelte noch immer, aber die Grübchen waren verschwunden, und ihre Augen blickten ernst.

Rerik holte Luft und deutete auf die Bäume. Sie ragten gerade auf, und keine Spur von Nebel oder Licht schwebte zwischen ihnen. Ein Eichhörnchen sprang einen Stamm hinauf. Vögel zwitscherten. „Ich weiß, dass dort der Wald der Seelen liegt.“

Deria rollte mit den Augen. „Und was willst du dort? Selbst der mächtigste Magier, der jemals gelebt hat, ist im Wald der Seelen gestorben.“

Rerik rieb sich die Hände. „Es heißt, König Karyan wäre unsterblich.“

Deria zuckte mit den Schultern. „Aber er ist nicht mehr hier, oder? Sonst würde er noch immer über Zenbara herrschen.“

Die Sonne war am Horizont untergegangen und hatte einen Streifen roten Lichtes am Himmel zurückgelassen. Rerik blickte auf das Gras zu seinen Füßen. Ein Windzug schaukelte die Halme. Er hatte nicht oft auf Wiesen gestanden, als er noch König gewesen war. Oder er hatte es nicht zur Kenntnis genommen. Er hatte noch keine Angst vor rotem Leuchten gehabt. „Ein anderer Magier regiert nun Zenbara“, sagte er.

Deria trat neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ist doch egal. Solange er sich nicht um uns schert. Könige kommen und gehen.“

Wenn er doch nur wieder gehen würde. Wohl kaum. Er baute ein gewaltiges Viadukt, eine halbe Tagesreise entfernt. Die Menschen fanden das wunderbar. Rerik schüttelte den Kopf. „Was könnte den mächtigsten Magier, der jemals gelebt hat, töten?“

„Die Magie im Seelenwald ist anders“, sagte Deria. Ihre Nägel krallten sich in sein Fleisch. „Rerik ...“, sagte sie in einem Tonfall, der ihn aufschauen ließ. Derias Augen fixierten ihn, als wollten sie ihn einfrieren. „Dein Leben findet nicht in irgendwelchen alten Geschichten statt. Die bringen uns nicht weiter.“

„Der Wald der Seelen ist Realität. Ich habe ihn gesehen“, sagte Rerik rau. „Und Karyan war auch real.“

„Ich habe den Seelenwald noch nie gesehen. Wahrscheinlich will er meine Seele nicht.“ Deria lächelte schief und zog ihre Hand zurück. „Vielleicht ist sie zu glücklich für ihn.“

Sie wandte sich um und ging zurück zur Straße. Natürlich erwartete sie, dass er ihr folgte. Also warf er noch einen letzten Blick zum einsamen Waldrand und schloss dann zu ihr auf.

Ein weiterer Abend senkte sich finstergrau auf die Landschaft. Wind peitschte über die Hügel und verwirbelte Reriks Haar. Er weilte auf seinem Stein und blinzelte mit tränenfeuchten Augen zum Wald hinüber. Als Deria kam, setzte sie sich neben ihn, obwohl kaum Platz auf dem Felsen war. Ihr Körper war warm und könnte vielleicht die Kälte vertreiben. Rerik faltete die Hände und zwang sich zu einem Lächeln, doch Deria sah ihn nur ernst an.

„Ich hatte gehofft, du würdest mich irgendwann fragen, ob ich dich heiraten möchte“, sagte sie nach einer Weile.

Rerik schluckte. „Das werde ich auch.“

„Aber wann denn?“ Auf Derias Stirn erschienen zornige Falten. „Ich warte seit drei Jahren.“

„Ich muss vorher etwas erledigen“, sagte Rerik matt.

Deria sprang auf. „Vergiss den verdammten Seelenwald! Vergiss Karyan und die Legenden.“

„Du verstehst nicht“, sagte er.

Deria schnaubte laut. „Du denkst, wenn du deine Seele und dein Blut für ein Königreich verkaufst, bist du glücklicher? Was ist mit deinem Leben hier? Ist das so schlecht?“

Rerik starrte sie an. Ihr Gesicht war auch im Zorn noch hübsch, und ihre blauen Augen blickten so klug, dass es wehtat. „Seit wann weißt du es?“

Deria verschränkte die Arme und holte tief Luft. Dann war ihre Stimme wieder ruhiger. „Es ist das mindeste, wenn man jemanden liebt. Du hättest es mir selbst sagen sollen.“

Rerik fixierte die Grashalme. Im Dämmerlicht verloren sie ihre Farbe. Er hatte immer gewusst, was sie sagen würde. Dass er sein altes Leben vergessen solle. Aber das konnte er nicht. Der Magierkönig hatte den Barbarenführer von der Südklippe besiegt. War selbst in die Schlacht geritten. Die Menschen jubelten.

„Wenn ich zurückkomme, werde ich dich zu meiner Königin machen“, sagte Rerik.

„Ich will keine verdammte Königin sein, du dämlicher ...“ Deria stampfte auf und atmete dann durch. „Bin ich nicht jetzt schon deine Königin?“

„Es tut mir leid.“ Die Worte klangen schon hohl, bevor sie seinen Mund verließen.

Deria funkelte ihn noch einen Moment lang an, dann wirbelte sie herum, sodass ihr Zopf flog, und stapfte über die Straße davon. Diesmal folgte Rerik ihr nicht. Der Wald begann zu leuchten, und sein Blut erstarrte. Blaue Wirbel kringelten sich in die Luft. Das Laub der Bäume hing still. Nebel waberte um ihre Stämme.

Rerik erhob sich zitternd von seinem kalten Stein. Der Wind um ihn herum sang. Das Lied schwirrte durch seine Ohren direkt hinter seine Stirn und verursachte einen stechenden Schmerz. Mit jedem Schritt wurde es lauter.

Der Nebelschein teilte sich vor ihm und schloss sich hinter seinem Rücken. Als Rerik den Kopf wandte, konnte er weder den Hügel noch Deria erkennen, nur ein Dickicht aus Bäumen und Dunst. Das Licht strömte über ihn hinweg, ohne zu seiner Quelle zu führen. Er blinzelte langsam und schluckte die Bitternis in seinem Hals hinunter. Dann begann er seine Wanderung in den Wald der Seelen.

Je weiter er ins Unterholz vordrang, umso dunkler wurde es. Es gab keinen Weg, aber manchmal schien es ihm, als würden die Bäume eine Gasse formen. Stille umschwebte ihn und wurde mit jedem Schritt dichter. Ein Schwarm grüner Glühwürmchen flatterte über ihn hinweg. War es schon Nacht geworden? Das Blätterdach über seinem Kopf war so dicht, dass er keinen Himmel erkennen konnte.

Obwohl er eine geraume Weile umherirrte und seine Füße in den Schuhen schmerzten, hatte er weder Hunger noch Durst. Ein neuer Schein führte ihn auf eine Lichtung, die die Finsternis verschont hatte. Rerik näherte sich langsam und begriff, dass er nicht mehr allein war.

Ein Mann saß an einen Baum gelehnt. Er trug ein kostbar besticktes rotes Wams. Die Haare, die ihm in die Stirn fielen, waren grau und verrieten lediglich anhand einiger Strähnen noch einen rötlichen Schimmer. Auf ihnen lag eine Krone. Golden und schlicht, bis auf die Rubinsplitter in den Zacken. Rerik ballte die Hände zu Fäusten. Seine Krone! Der Fremde trug seine Krone. Hatte irgendeine Laune des Schicksals ausgerechnet den Thronräuber in den Seelenwald verschlagen?

Rerik hielt kurz die Luft an und starrte hinüber. Der Mann regte sich nicht. Sein Kopf war ein wenig zur Seite gesackt. Eigentlich hätte die Krone herunterfallen müssen. Doch sie tat es nicht. Rerik zwang sich dazu, ruhig zu bleiben, und führte seine Hand langsam zu dem Messer an seinem Gürtel. Der Holzgriff fühlte sich viel zu kalt unter seinen schwitzenden Fingern an.

Wenn das wirklich der Thronräuber war, dann konnte er mächtige Magie bewirken. Sobald er einen Angreifer bemerkte, würde er ihn mit Feuer vernichten. Rerik setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Ein Zweig knackte unter seiner Sohle. Ein warmer Windzug streifte seine Wange.

Rerik näherte sich mit klopfendem Herzen, ohne dass der Mann auf ihn reagierte. Erst als er direkt vor ihm stand, erkannte er, warum. Blut aus einer Wunde am Kopf verklebte seine Haare und besprenkelte das Metall der Krone. Der Schatten hatte die Verletzung von weitem verborgen. Rerik atmete aus und steckte zitternd sein Messer weg.

Ein Toter trug seine Krone. Das Blut glänzte noch feucht und hatte die Hälfte seines Gesichtes mit Schlieren überzogen. Rerik schluckte die aufkeimende Übelkeit hinunter. Her mit der Krone! Es war seine. Vorsichtig griff er an eine der Zacken und versuchte, sie so vom Kopf des Mannes zu streifen, doch es wollte nicht gelingen. Fluchend nahm er die zweite Hand zu Hilfe und berührte versehentlich die Haut der Leiche.

Warm. Seine Stirn war warm. Rerik zuckte zurück. Der Mann musste eben erst gestorben sein. Dann war sein Mörder womöglich noch hier.

Über ihm raschelten Blätter. Ihre Zwischenräume offenbarten Sprengsel wie glimmende Kohlen. Die Luft lastete wie Drachenatem auf ihm. Das Messer entglitt seinen Fingern. Rerik bückte sich langsam.

Kein Flammeninferno ging auf ihn nieder. Ein Ton wie von einer Harfensaite schwirrte über ihn hinweg. Dann bemerkte er, dass sich die Brust des Fremden kaum merklich hob und senkte.

Rerik schluckte ein paarmal. Er bildete es sich nicht ein. Der Mann war am Leben. Wie war das möglich? Rerik lachte unwillkürlich auf. Er befand sich im Wald der Seelen und fragte sich, wie etwas möglich sein sollte? Wegen der Magie war er doch hergekommen. Rerik trat entschlossen einen Schritt vor, schnappte sich die Krone und zog sie dem Verwundeten von der Stirn. Dann wirbelte er herum und rannte.

Er folgte einem Geflecht aus Wurzeln. Vielleicht war es ein Pfad, eigens für ihn. Vielleicht auch nicht. Seine Schuhe platschten durch Pfützen. Einige Blätter wirbelten an ihm vorbei.

Nach einer Weile war Rerik außer Atem und das rote Funkeln mitsamt dem Verwundeten hinter ihm verschwunden. Außerdem war er noch am Leben und hatte seine Krone wieder. Rerik lachte auf. Leider noch nicht sein Königreich.

Sie fühlte sich seltsam schwer an. Am Blut konnte es nicht liegen. Rerik drehte sie in der Hand. Es war so dunkel, dass er bis auf einen metallischen Schimmer kaum etwas erkennen konnte. Blassgrüne Lichtreflexe.

Rerik folgte dem Schein. Dessen Quelle lag nun vor ihm am Boden und verdichtete sich nach wenigen Schritten. Dort breitete sich ein Teich aus, die Oberfläche so glatt, als bestünde sie aus Glas. Die Farbe schimmerte unter dem Wasser und nicht vom Himmel herab. Rerik näherte sich langsam, um die Krone in den matten Glanz zu tauchen. Im Wasser trieben leuchtende Schlieren, ohne die Oberfläche aufzuwühlen. Das Metall war zu schwer. Die Zacken zu lang. Das Gold summte zu heiß. Wann hatte es jemals gesummt? Das konnte nicht sein.

„Ahh“, sagte Rerik in die Stille des Waldes hinein. Es war nicht seine Krone. Seine war eine Nachbildung anhand eines Porträts des legendären Karyan, weil die echte verschollen war. Auf diesem Bild blickte ein jüngerer Mann über den Betrachter hinweg, aber er mochte zwanzig Jahre später vielleicht so aussehen wie der Verwundete.

Der Wald der Seelen. Rerik nickte. Die Magie war hier anders. Bot Möglichkeiten. Es war sogar möglich, eine Legende zu erwecken und sein Königreich zurückzugewinnen.

Rerik drehte den Metallreif in den Händen. Als erster seit gut fünfhundert Jahren vermutlich. Das Blut war fast trocken. Der Teich leuchtete heller. Oder war es nur Einbildung? Rerik senkte die Krone hinab zur Oberfläche, und die Luft schwirrte wieder. Der Harfenton. Er war noch nie angenehm gewesen. Hinter ihm lag irgendwo der sterbende Körper des legendären Königs, dem er seine Krone gestohlen hatte. Musste er zurück?

Das Wasser schwappte über das Gold und spülte das ganze Blut herunter. Ein roter Faden trieb in die Tiefe und verwirbelte zu einem Strudel. Andere Farben flossen hinein und vermengten sich zu einem unruhigen Bild.

Dann lag die Oberfläche des Teichs wieder still. Das Gesicht, das sich darin spiegelte, war nicht das von Rerik. Es gehörte dem Verwundeten. Vermutlich. Blass, aber nicht totenbleich. Die Haare kupferfarben und nicht von Blut verklebt, sondern ordentlich gekämmt. Die Haut glatt, die Augen hellwach. Vielleicht war es der grüne Schleier der Wasseroberfläche, der sie so grell erscheinen ließ. Rerik wandte einen Moment lang das Gesicht ab und sah, dass der Schein des Teiches auch die umliegenden Bäume erfasste. Funken wirbelten durch die Luft. Vielleicht waren es Glühwürmchen. Rerik warf die Krone ins Gras.

„Interessant.“ Die Lippen des Mannes bewegten sich, aber seine Stimme schien von überall her zu kommen und drang durch Reriks Kopf hindurch bis in seine Brust hinab.

„Karyan?“, fragte er.

Die Lippen des Mannes kräuselten sich. „Keine Ahnung. Ich bin eben erwacht.“

„Du bist nur ein Geist“, stellte Rerik fest. Das grüne Licht drückte auf seine Schultern. „Ich dachte, du wärst real.“

„Geister sind also nicht real.“ Karyan blinzelte langsam und schirmte damit für einen Moment das stechende Grün seiner Augen vor Rerik ab.

Rerik holte tief Luft. „Es ist-“

Spritzer schossen aus dem Wasser auf ihn zu und regneten wie ein Schwarm sterbender Glühwürmchen zurück auf die Oberfläche. Karyans weiße Finger schlossen sich um Reriks Handgelenk und gruben ihre Nägel in seine Haut. Ein stechender Schmerz pulsierte durch seine Adern. Rerik schrie auf und versuchte, sich loszureißen. Das Gesicht im Teich lächelte. „Real genug für dich, toter König?“

Rerik schnappte nach Luft. Karyans Züge glätteten sich. Seine Finger glitten zurück unter Wasser. Rerik machte einen Satz rückwärts und stolperte über die Krone, sodass er im Gras landete.

„Ein schönes Gefühl, die Realität, nicht wahr? Wer sie so sehr liebt wie ich, wird Magier.“

Rerik schluckte. Seine Kehle schmerzte. Er zwang sich, aufzustehen und wieder am Ufer in die Hocke zu gehen, sodass er in Karyans grelle Augen blicken konnte.

„Du musst mir helfen.“

Karyans Gestalt zuckte mit den Schultern. „Ich bin ein Geist. Die Zeit, in der ich etwas musste, ist vorbei.“

Rerik strich sich verschwitzte Haare aus der Stirn. „Mir wurde mein Königreich geraubt. Von einem Magier.“

Karyan lachte auf. „Oh, dann bin ich also ein Magier. Wie passend.“

„Du weißt wirklich nicht mehr, wer du bist.“ Rerik schüttelte verzweifelt den Kopf. Nach drei Jahren der Suche fand er zurück in den Wald der Seelen, fand die Magie, die er so dringend brauchte, und dann sollte alles nichts genutzt haben? Hatte Karyan seine Fähigkeiten hier drinnen verloren, so wie sein Gedächtnis? „Du bist Karyan. Der große König von Zenbara. Deine Nachkommen haben mein Reich regiert, bevor mein Urgroßvater den Thron bestieg.“

Karyan legte den Kopf schief. „So? Und warum sollte ich jemandem helfen, der meinen Nachkommen die Krone weggenommen hat?“

Rerik befeuchtete sich die Lippen. „So war es nicht. Sie sind gestorben.“

„Wie denn das?“ Er lachte leise. „Nein, du musst es nicht erklären, Junge. Natürlich wartet dein Königreich auf mich. So wie du.“

„Willst du Blut?“, fragte Rerik leise.

„Mindestens“, sagte Karyan.

Auf einmal war es nicht nur Reriks Kehle, die schmerzte. Auch die Übelkeit kehrte in seinen Magen zurück. Das Porträt besaß nicht diese Augen. Hätten sie ihn schon einmal angeblickt, wäre er vielleicht nicht gekommen. Schweiß rann über seine Stirn. Irgendwo die Harfe. Nur schriller. Wie am Anfang. Die Luft dampfte heiß.

„Du wirst mir helfen?“, fragte Rerik.

Wellen liefen über die Oberfläche des Teichs, doch sie berührten Karyans Gesicht nicht. Das grüne Licht schwoll an. Die Funken waren gelb geworden und kreisten langsam um Rerik herum.

„Hier bin ich gestorben“, sagte Karyan. „In diesem Augenblick. Das ist der Augenblick meines Todes. Sonst könntest du nicht mit mir sprechen.“

Rerik schmeckte Salz auf seinen Lippen. „Es ist ...“

„Aber der Tod hat keine Bedeutung. Im Wald der Seelen existiert keine Zeit. Wusstest du das nicht?“, fragte Karyan gelassen. „Vielleicht hast du dein Königreich verloren, weil du zu wenig weißt, mein lieber Junge.“

Rerik schüttelte den Kopf, hörte die körperlose Stimme, sah die rotglühende Gestalt vor seinen Augen und fühlte das Brennen der Flammen. „Nein, er kam mit Magie und ...“

Karyans Gesicht schien ein wenig näher zu rücken. „Erinnerst du dich nicht? Wann war der Zeitpunkt, an dem du dein Königreich verloren hast? Hier gibt es keine Zeit. Du verlierst es jetzt. In diesem Augenblick. Im selben Augenblick, in dem ich sterbe. Im selben Augenblick, in dem du stirbst.“

Die Funken leuchteten schon orangerot und wirbelten immer schneller. Rerik richtete sich auf und machte einen Schritt rückwärts. „Du sagtest, du würdest dich nicht erinnern ...“

„An meinen Tod? Was auch immer ich sagte ... Magie kommt immer erst danach.“ Karyan lächelte schief. Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen. Dieses schreckliche Grün. Blutende Adern auf Weiß. Rerik sprang zurück. Karyan erhob sich aus dem Teich.

Kochendes Wasser regnete auf Rerik und fraß sich in seine Haut. Er kniff die Augen zusammen und schlug sich schreiend durch rote Wirbel. Seine Füße stolperten über Wurzeln und durch Gestrüpp. Zweige peitschten gegen seine Beine. Als er den Kopf wandte, sah er hinter sich die durchscheinende Gestalt des Geistes ruhig am Teich stehen. Die grünen Augen bohrten sich in seinen Rücken.

Rerik beschleunigte seine Schritte. Er sprang über einen moosbewachsenen Felsen, schlug Gestrüpp beiseite und arbeitete sich immer weiter weg von dem grün-roten Lichtschein, hinein in die Dunkelheit. Hinter ihm regte sich nichts. Aber vermutlich folgten Geistertritte immer lautlos.

Wozu ein Königreich? Geh nicht in den Wald der Seelen. Wann hat uns Magie jemals etwas Gutes gebracht? Rerik spuckte bitteren Speichel auf den Boden. Legenden sprachen von großen Taten, nicht von guten Menschen. Wie hatte er glauben können, ein wenig Blut würde einer Legende genügen? Wie hatte er glauben können, der Preis für Magie könnte so niedrig sein?

Vor ihm gab der Wald eine Lichtung frei. Rote Funken schwirrten in der Luft. Rerik bremste seinen Lauf ab und taumelte zwischen zwei Baumstämmen hindurch.

Karyans Körper lehnte noch immer an dem Baum. Doch diesmal waren seine Augen offen und folgten Rerik. Das Blut schimmerte noch immer feucht. Der Geist stand mit verschränkten Armen neben ihm. Er trug dasselbe bestickte Gewand. Seine durchscheinende Hand hielt die Krone, die Rerik am Teich zurückgelassen hatte.

„Du weißt doch, hier gibt es keine Zeit. Heute bist du gestorben. Kein Grund wegzulaufen“, sagte Karyans Geist lächelnd.

Seine Stimme ließ ihn erstarren. Rerik krallte die Fingernägel in Baumrinde. Karyans Geist kam langsam auf ihn zu. Als er direkt vor ihm stand, lächelte er entschuldigend und setzte Rerik die Krone auf den Kopf. Das Metall war so glühend heiß, dass er glaubte, es würde seine Stirn schmelzen. Karyans durchscheinende Gestalt verschwamm in einem Tränenschleier. Rerik wollte noch ein letztes Mal schreien, doch aus seiner Kehle drang kein Ton mehr.

Als Karyan in seinen Körper fuhr, hatte Rerik begriffen. Er dachte noch an sein ruhiges Leben mit Deria, das vergeblich auf ihn gewartet hatte.

Karyans todwunder Köper zerfiel im Wald der Seelen zu Staub, während sein Geist sich einen neuen aneignete. Als er den Wald verließ, war sein Schritt sicher, und der Schlag des fremden Herzens in seiner Brust nahm seinen gewohnten Rhythmus an. Als er durch das Tor des Palastes marschierte, glühte sein Körper in roter Magie. Als Rerik an diesem Morgen seine Stimme hörte, starb er im Wald der Seelen. Über dem Teich summte der Ton einer Harfensaite.

Tod des Helden

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