Читать книгу Mörderdutzend: 12 Thriller - Sammelband 1200 Seiten Krimi Spannung - A. F. Morland - Страница 100
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ОглавлениеGroße Überraschungen hatte Cantrell sowieso nicht erwartet. Aber dass Hank Marple, der Nachtportier, so gar nichts zu bieten haben würde, damit hatte der Anwalt denn doch nicht gerechnet. Die Fahrt zu Marple war das Benzin nicht wert. Der Asthmamann konnte kein einziges Mädchen so gut beschreiben, dass Cantrell damit hätte etwas anfangen können. Sossier musste die Miezen wirklich gekonnt vor dem Nachtportier versteckt haben. Cantrell erkundigte sich, ob ihm Marple wenigstens eine Zahl nennen können. Wie viele Mädchen hatte Sossier in den vergangenen beiden Monaten in seine Liebeslaube gebracht? Eine klare Frage. Eine unklare Antwort. Vielleicht zehn. Vielleicht zwölf. Vielleicht aber auch nur acht. Da Marple die Mädchen niemals genau gesehen hatte, wusste er auch nicht, ob nicht zweimal dasselbe Girl mit Sossier angetanzt gekommen war. Weiter erfuhr Tony Cantrell, dass Sossier auf keine besondere Haarfarbe spezialisiert gewesen war. Er schien alles genommen zu haben, was gut gewachsen war. Ob blond, ob braun. Sogar eine Violette war unter ihnen gewesen. Ein lächerlicher Anhaltspunkt, wenn man überlegt, was die Perückenindustrie heutzutage schon für verrückte Farben auf den Markt bringt. Nicht gerade entmutigt, aber doch ziemlich enttäuscht, verließ Tony Cantrell die Wohnung des Nachtportiers. Marple hatte angekündigt, er wolle sich gleich wieder aufs Ohr schmeißen. Cantrell wünschte ihm einen guten Tag, was in seinem Fall soviel hieß wie eine „gute Nacht.“ Im Buick zündete sich Cantrell erst mal eine Zigarette an. Dann tippte er die Nummer von zu Hause in das Autotelefon. Carol war noch nicht daheim. Auch Silk und Butch waren noch unterwegs. Cantrell schob den Hörer in die Halterung. Er hatte noch reichlich Zeit für einen Besuch bei June Sossier, der trauernden Witwe. Cantrell zupfte die Touren des Buick hoch und zischte in Richtung Evanston ab. Zwanzig Minuten nervtötende Fahrt. Sämtliche Autofahrer, die ihren Führerschein noch nicht länger als vierundzwanzig Stunden besaßen, schienen auf dieser Strecke unterwegs zu sein. Das schlaucht einen gewaltig. Cantrell war froh, als er in der Nähe des Elliott Parks aus dem Wagen klettern konnte. Der heiße Samum blies ihm, aus dem Stadtkern von Chicago kommend, ins Gesicht. Er brachte Staub mit. Das Zeug knirschte zwischen Cantrells Zähnen. Ein paar einfallslos konzipierte Reihenhäuser standen in der Gegend herum. Dann kam Sossiers Grundstück. Eine Augenweide. Groß. Cantrell schätzte es auf fünftausend Quadratmeter. Und in der Mitte ein Haus, das für UN-Sekretär Waldheim schon zu protzig gewesen wäre. Wie protzig war es dann aber erst für einen einfachen Chefdekorateur der Pamberton-Warenhäuser. Eine Wohnzeile in den teuren Bellevue-Apartments. Und hier dieses riesige Haus. Das kam nicht aus Pambertons Kasse. Aber woher hatte Sossier soviel Geld?
Mal reingehen und fragen!, entschied Tony Cantrell.
Er begrub den Klingelknopf unter seinem Daumen. Er läutete noch, als sich die Tür schon öffnete. Jemand bellte: „Reicht doch schon, oder? Die Tür ist ja auf. Was wollen Sie mehr?“ Cantrell lächelte. „Wenn ich jetzt noch Mrs. Sossier sprechen könnte, wäre ich vollauf zufrieden.“
Er machte einen Schritt auf die Tür zu. Aber das, was da im Rahmen stand, groß und mächtig, wich keinen Millimeter zur Seite. Cantrell blieb mit einem verwunderten Gesichtsausdruck erst mal stehen. Er nahm das Hindernis in Augenschein. Fleischiger Schädel. Braunes, seidiges Haar. Buschige, über der Nasenwurzel zusammengewachsene Brauen. Eisengraue, kalte Augen, voll von Ablehnung. Jetzt legte sich eine schaufelblattgroße Hand auf Cantrells Brust. Das hatte der Anwalt besonders gern: Leute, die ihn auf diese Art anfassten.
„Hier kommt nicht jeder rein, Meister!“, knurrte der Kerl.
„Ich bin nicht jeder“, sagte der Anwalt. „Mein Name ist Tony Cantrell.“
Das rief bei dem Mann in der Tür keinen Begeisterungssturm hervor. Er verzog geringschätzig die Mundwinkel. „Ich bin Neal Cameron. Nur damit Sie wissen, wer Sie gleich vom Grundstück runterbefördern wird!“
„Ich mag keine schweißigen Hände auf meiner Brust, Mr. Cameron. Sie verderben Hemd und Anzug.“
„Oh. Wie schade. Sie brauchen nur zu gehen. Ich verspreche Ihnen, meine Hand wird Sie nicht begleiten.“
„Ist Mrs. Sossier nicht da?“, fragte Cantrell.
„Doch. Sie ist da. Aber sie will Sie nicht sehen, Mr. Cantrell.“
„Woher wissen Sie das ? Ich schlage vor, Sie fragen sie zuerst mal. Sind Sie hier der Butler? Wenn ja, nehmen Sie sich verdammt viel heraus, mein Lieber.“
Neal Cameron versuchte so dreinzuschauen wie eine gereizte Tigerdogge. „Ich bin hier nicht der Butler, sondern der Bruder, Mr. Cantrell. June Sossiers Bruder. Und ich achte darauf, dass meiner Schwester Leute wie Sie nicht den Nerv töten.“
Cantrell wies sich mit der Detektivlizenz aus. Aber die machte Cameron auch nicht weich. Im Gegenteil. Er schien einiges gegen Privatdetektive zu haben. Die Hand hatte er inzwischen von Cantrells Brust genommen. Da er nun aber die Fäuste in die Seiten stemmte, war kein Platz, an ihm vorbeizukommen.
„Meine Schwester hat für heute genug vom Frage-und-Antwort-Spiel, Mr. Cantrell!“, sagte Cameron feindselig.
„Ach, haben Sie’s schon mit ihr gespielt?“
„Ich nicht. Sergeant Retcliff. Ein unmöglicher Mensch ohne Manieren. Wenn er kein Polizeibeamter wäre, hätte ich ihn in hohem Bogen aus dem Haus befördert.“
Cantrell grinste. „Wie ich höre, befördern Sie gern mal was. Haben Sie’s schon mal bei der Müllabfuhr versucht?“
„Die wird sich gleich um Sie kümmern müssen!“, fauchte June Sossiers Bruder.
Cantrell zog die Brauen zusammen. „Nicht doch, Mr. Cameron. Bloß keine leeren Versprechungen. Ich schlage vor, Sie schieben jetzt Ihren Säbel wieder in die Scheide und melden mich Ihrer Schwester, Ich bin sicher, dass sie mich empfangen wird.“
Neal Cameron baute sich auf wie seinerzeit Benito Mussolini, wenn er seine Italiener belog. „Gewinnen Sie Raum, Mann, sonst sehe ich schwarz für Ihre getönte Angeberbrille! Ich kann verdammt unangenehm zu aufsässigen Leuten sein. Besser Sie scheiden in Frieden - und ohne gebrochenes Nasenbein!“
„Ah, das nennt man eine gefährliche Drohung!“, sagte Cantrell warnend.
„Ab jetzt durch die Mitte!“, knurrte Cameron. Gleichzeitig versetzte er dem Anwalt einen harten Stoß. Cantrell wich einen Schritt zurück. Die Tür donnerte ins Schloss. Aber Cantrell ließ die Hoffnung nicht fahren. Er klingelte noch einmal.
Daraufhin spielte Cameron „Teufel, komm raus!“. Er fegte die Tür auf, schnellte heraus, wollte Cantrell die Faust ins Gesicht pflanzen. Aber der Anwalt war ungemein wendig. Da, wo Camerons Faust hinsauste, war Cantrells Kopf längst nicht mehr. Der Schlag verpuffte wirkungslos. Cantrell nahm die Herausforderung an. Er hätte nicht zuerst geschlagen. Aber es erfüllte ihn nun mit Genugtuung, zurückschlagen zu können. Cameron bekam zwei schallende Ohrfeigen. Sie demoralisierten ihn. Benommen starrte er den schlagfreudigen Anwalt an. Rote Flecken an den Wangen. Wut im Bauch. Ohne Orientierung. Und plötzlich ein tierhafter Wutschrei. Jetzt wollte Cameron den Anwalt durch den Fleischwolf drehen. Aber es kam nicht dazu. Eine schrille Frauenstimme sägte sich mitten in die Auseinandersetzung hinein: „Neal! Was geht hier vor?“
Cameron hielt mitten in der Bewegung inne. Er erinnerte Cantrell unwillkürlich an ein Spiel, das er gespielt hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war: „Figuren reißen“.
June Sossier kam zur Tür. Sie trug Weiß statt Schwarz. Ihr Haar hatte die Farbe, die einst Tizian so gern verwendet hatte: Rot. Ziemlich intensiv. Ihre jetzt ärgerlich blickenden Augen waren meergrün mit falschen Wimpern. Ihre wildesten Jahre hatte sie hinter sich. Auf Anhieb schätzte Cantrell, dass sie älter war als Alex, ihr Mann. Kleine Fältchen um die Mundwinkel, die nur von einem scharfen Auge zu entdecken waren, verrieten, dass Mrs. Sossier kein allzu glückliches Leben führte.
Sie starrte ihren Bruder gereizt an. Zwischen ihr und Cameron bestand nicht die geringste Ähnlichkeit. Ein Vorteil für June.
Im Ausschnitt ihres leichten Sommerkleides, das keine Ärmel hatte, wogte ein allmählich schlaff werdender Busen.
„Ich habe dich etwas gefragt, Neal!“, zischte June Sossier ihren Bruder an.
„Ich wollte dir diesen Spannemann vom Hals halten, June“, antwortete Cameron gepresst.
Mrs. Sossier schüttelte wütend den Kopf. „Wann wirst du endlich einmal erwachsen, Neal? Wann wirst du begreifen, dass man Meinungsverschiedenheiten nicht immer nur mit den Fäusten regeln kann? Du weißt, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn du dich in meinem Haus wie ein ungezogener Gassenjunge benimmst!“ June putzte ihren Bruder gehörig herunter. Und der fleischige Cameron ließ sich das alles zu Cantrells größtem Erstaunen widerspruchslos gefallen. Das brachte den Anwalt auf die Idee, dass Cameron von Junes Geld lebte.
June Sossier schob ihren störrischen Bruder zur Seite und bat Cantrell ins Haus. Der Anwalt grinste Cameron triumphierend an, Cameron platzte beinahe der Kragen. Noch einmal wies Cantrell sich aus. June, eine Frau, die über allen Dingen zu stehen schien, bot ihm Platz an. Sie schien den Schmerz nicht zu kennen. Andere Ehefrauen hätten rot geweinte Augen gehabt. Sie hätten hilflos, traurig und ratlos gewirkt. Aber June Sossier sah so aus, als wäre überhaupt nichts passiert. Eine ehrliche Frau. Sie zeigte, dass ihr Alex’ Tod kein bisschen naheging. Obwohl Tony Cantrell normalerweise eine solche Ehrlichkeit begrüßte, stieß sie ihn in diesem Fall ab. Immerhin war Alex Sossier für June kein Fremder gewesen. Sie trug seinen Namen. Sie wohnte in seinem prachtvollen Haus. Cantrell verschwendete einen Blick an seine Umgebung. Da war vor allem Neal Cameron. Er kochte auf Sparflamme, sah aus wie ein Vulkan, der jederzeit noch mal zum Ausbruch kommen könnte. Aber abgesehen von ihm gab es nur nette, teure Dinge im Livingroom. Vor dem Fenster stand ein weißer Steinway-Flügel. Noten auf dem Pult. Vermutlich hatte sich June daran erst vor wenigen Minuten erbaut. Eine Witwe! In Weiß! Die Klavier spielt! Sich vergnügt! Außer Cameron gab es nichts Billiges in diesem Raum.
„Möchten Sie einen Drink haben, Mr. Cantrell?“, fragte June mit einem unbekümmerten Lächeln. Alex schien in der Tat weniger für sie gewesen zu sein als der Würstchenmann an der Ecke. Cantrell lehnte den Drink ab. June schnippte mit dem Finger. Cameron gehorchte wie ein Leibeigener. Er brachte der Witwe einen Sherry und zog sich dann wieder auf seinen Beobachtungsposten zurück. Cantrell gefielen die rosigen Backen, zu denen er dem stürmischen Burschen verholfen hatte.
June nippte am Sherry.
Cantrell sagte: „Wie ich hörte, war Sergeant Retcliff schon hier.“
„Offen gestanden, ein ruppiger Mensch!“, sagte June im Beschwerdeton.
Cantrell lächelte. „Ich kenne ihn. Er meint es nicht so.“
„Sie kommen aus demselben Grund hierher, Mr. Cantrell?“
Der Anwalt nickte. „Ich versuche, in Gemeinschaft mit der Polizei, den Mord an Ihrem Mann aufzuklären, Mrs. Sossier.“
June blickte Cantrell über den Rand ihres Glases zweifelnd an. „Meinen Sie, dass Sie das schaffen?“
Cantrell schmunzelte. „Ich bin kein Anfänger, Mrs. Sossier.“
June seufzte. „Na schön. Stellen Sie schon Ihre Fragen, Mr. Cantrell.“ Auf dem Tisch stand eine kleine goldene Zigarettenschatulle. June nahm ein Stäbchen heraus. Cantrell gab ihr Feuer. Sie dankte ihm mit einem sanften Kopfnicken.
„Ein prachtvolles Haus“, sagte Cantrell.
„Oh ja. Es gefällt mir auch.“
„Muss ein kleines Vermögen gekostet haben.“
„Schon möglich“, sagte June.
„Wissen Sie den Preis?“, fragte Cantrell.
„Das war Alex’ Sache.“
„So viel Geld kann man als Chefdekorateur der Pamberton-Warenhäuser nicht verdienen, Mrs. Sossier.“
„Vermutlich nicht.“
„Woher kommt das Geld?“, wollte Cantrell wissen.
June hob die Schultern. „Dafür habe ich mich nie interessiert. Alex’ schaffte es ran. Wie er das machte, war sein Problem.“
Über dem offenen Kamin hing das Hochzeitsbild. Cantrell wies darauf. „Eine Liebesheirat, Mrs. Sossier?“
June lächelte ein wenig bitter. „Natürlich. Was denken Sie denn? Aber die Liebe hielt nicht lange vor. Ich meine, von meiner Seite aus würde es sie immer noch geben. Aber Alex war ein Mann, der sich schnell für etwas begeistern konnte. Und ebenso schnell verlor er dann auch wieder das Interesse an der Sache.“ June nahm einen Schluck vom Sherry. „Danach war ich meinem Mann nur noch ein Klotz am Bein. Er fing an, sich für andere Frauen zu interessieren. Zuerst heimlich, dann immer ungenierter, nicht mehr versteckt ... Ich versuchte nicht, ihn zu halten. Alex konnte man nicht halten. Er war von einem unbändigen Freiheitsdrang beseelt. Den konnte ihm und durfte ihm niemand nehmen.“
„Was wäre geschehen, wenn Sie es versucht hätten?“, fragte Tony Cantrell.
„Es hätte eine Katastrophe gegeben“, erwiderte June.
„In welcher Form?“
„Kann ich nicht sagen. Vermutlich hätte er mich auf die Straße gesetzt.“
Cantrell winkte lächelnd ab. „Moment, Mrs. Sossier. So einfach geht das nun auch wieder nicht. Wir haben Gesetze, die die Rechte der Frau klar umreißen und schützen!“
June Sossier blickte Cantrell mitleidig an. „Man merkt, Sie kannten Alex nicht. Er erreichte immer, was er wollte. Er hatte einen unheimlich harten Dickschädel. Es war klüger von mir, ihn an einer langen Leine laufen zu lassen.“
„Wussten Sie von seiner zweiten Wohnung?“, fragte Cantrell.
June nickte. „Ich glaube, er hat es mir mal gesagt.“
„Warum hat er das Apartment als Andrew Smith gemietet?“, erkundigte sich Cantrell.
June nahm einen Zug von der Zigarette und zuckte mit den Achseln. „Das kann ich Ihnen nicht sagen, Mr. Cantrell. Ich kann nur vermuten, dass ...“
„Was?“
„Sehen Sie, Alex war es ziemlich egal, ob ein Mädchen verlobt oder verheiratet war. Wenn sie ihm gefiel, machte er ihr den Hof. Und dann brachte er sie in dieses Apartment. June leerte das Sherryglas. „Er hatte wenigstens so viel Takt, mir seine Nutten nicht ins Haus zu bringen. Der zweite Name war wohl für sein zweites Leben gedacht. Ich nehme an, er wollte das eine vom anderen streng trennen.“
„Sie haben sein Doppelleben also gutgeheißen.“
„Ich habe es natürlich nicht gutgeheißen“, widersprach June. „Aber was hätte ich denn machen sollen? Sehen Sie sich um, Mr. Cantrell. Was sagen Sie dazu?“
„Ein - wie ich bereits bemerkte - herrliches Haus“, erwiderte Cantrell.
June nickte. „Hätte ich auf das alles verzichten sollen? Auf das Haus, auf das prachtvolle Grundstück, auf den Luxus, den ich mir mit Alex’ Geld leisten konnte. Für mich starb Alex Sossier an dem Tag, wo er mich zum ersten Mal betrog. Deshalb kann ich heute auch nicht mehr um ihn trauern. Er lebte ja schon lange nicht mehr, als er umgebracht wurde. Für mich existierte nur noch sein Geld. Das hielt mich hier fest. Alex war nicht kleinlich ... Jetzt halten Sie mich für berechnend, nicht wahr?“
Cantrell hob die Schultern. „Jeder wird mit seinen Problemen auf seine eigene Weise fertig, Mrs. Sossier.“
June lächelte matt. „Das haben Sie schön gesagt. Ohne sich irgendwie festgelegt zu haben, Mr. Cantrell.“ Sie zog noch einmal an der Zigarette. Dann drückte sie sie in den Ascher. Ein Ding aus Murano-Glas. „Alex hat mich laufend betrogen. Ich gebe zu, am Anfang hat das sehr wehgetan. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles. So wie sich der Hund an die Schläge gewöhnt. Allmählich stumpfte ich ab. Ich fing an, mich umzustellen, richtete mein Leben anders ein. Alex und ich lebten nicht mehr miteinander, sondern nur noch nebeneinander. Wir trachteten, das so erträglich wie möglich hinzukriegen.“
Cantrell leckte sich die Lippen. „Und Sie, Mrs. Sossier ...“ Die Frage war etwas delikat. „Haben Sie Ihren Mann nicht betrogen? Ich meine, Sie sind eine attraktive Frau ... Ich frage mich, ob Sie so einfach auf die Liebe verzichten konnten.“
Neal Cameron machte sich mit einem unangenehmen Schnaufer bemerkbar. „Verdammt noch mal, Cantrell, was nehmen Sie sich meiner Schwester gegenüber heraus?“
„Ich habe diese Frage gewiss nicht gern gestellt“, sagte der Anwalt.
„Sie hätten sie überhaupt nicht stellen dürfen!“, schrie Cameron. Er kam schon wieder in Fahrt.
Aber June Sossier stellte ihn mit einer unwilligen Handbewegung ab. „Sei bitte still, Neal. Warum soll ich mit Mr. Cantrell nicht darüber reden? Er möchte sich ein Bild von mir machen, dazu braucht er auch die Antworten auf solche Fragen.“ June wandte sich an Cantrell. „Ich gebe zu, es war nicht leicht, auf die Liebe zu verzichten. Und wenn Sie mich fragen, ob ich meinen Mann mal betrogen habe, muss ich gestehen, dass ich es ein einziges Mal versuchte. Es hat nicht geklappt. Ich hatte es gewollt. Richtig gewollt. Aber als es dann dazu kommen sollte, hat bei mir etwas ausgehakt. Ich hab’s einfach nicht fertiggebracht. Weiß der Himmel, was mich davon abgehalten hat. Danach ließ ich es nicht mehr so weit kommen. Ich suchte mir Hobbies, die mich für das, was ich nicht kriegen konnte, entschädigen sollten. Ich lerne Sprachen, ich versuche einfach, nicht an das zu denken ... Sie sehen: Ich bin nicht enttäuscht, bin nicht verbittert, verspüre keine Rachegelüste. Ich stehe und stand allem, was Alex tat, gleichgültig gegenüber. Nun ist er tot. Der Geldstrom ist versiegt. Ich werde sehen müssen, wo ich bleibe.“
Cantrell schlug ein Bein über das andere. „Ich nehme an, Sergeant Retcliff hat Sie bereits nach Ihrem Alibi für die Tatzeit gefragt.“
June schmunzelte. „Sie denken doch nicht im Ernst, dass ich ... Nach alldem, was ich Ihnen über mich und Alex erzählt habe! Ja, Retcliff hat mich nach meinem Alibi gefragt.“
„Konnten Sie ihm eines anbieten, das ihn zufriedenstellte?“, erkundigte sich Tony Cantrell.
„Ich denke schon. Neal war hier.“
„Kam das öfter mal vor?“
„Mehrmals die Woche.“
„Konnte Ihr Bruder Ihren Mann leiden?“, fragte Cantrell. Er stellte die Frage absichtlich nicht Cameron selbst, um zu vermeiden, dass der Bursche gleich wieder hochging.
June lachte. „Er konnte ihn nicht ausstehen.“
„Dann ist er vermutlich jetzt froh, dass es Alex nicht mehr gibt.“
June verschränkte die Finger. „Sagen wir, er ist nicht traurig über Alex’ Ende.“
„Was haben Sie beide gestern Abend hier gemacht?“, wollte Cantrell wissen.
„Karten gespielt. Ich spiele leidenschaftlich gern Karten“, sagte June Sossier.
„Bis wann?“
„Zwei Uhr früh.“
„So lange? Lässt da die Leidenschaft nicht langsam nach?“, fragte Cantrell.
„Nicht bei Neal und mir“, erwiderte June.
„Möchten Sie hören, wie die Polizei in einem solchen Fall am Anfang denkt?“ June nickte. Cantrell fuhr fort: „Ein Mann mietet unter falschem Namen ein Apartment, das er ohne Zweifel als Liebesnest benützt. Er betrügt wiederholt seine Frau. Irgendwann mal hat die Gattin von dieser fortwährenden Missachtung den Kanal voll. Sie lässt sich etwas einfallen, um die erniedrigenden Zustände zu beenden ...“
„Was Sie uns anhängen wollen, wissen wir, Cantrell!“, schrie Neal Cameron sofort wütend. „Zum Henker, nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass meine Schwester mit diesem Mord nicht das geringste zu tun hat!“
Cantrell grinste eiskalt. „Und wie steht's mit Ihnen?“
Cameron japste nach Luft. „Ich hör’ wohl nicht richtig. Verdächtigen Sie etwa mich ...?“
„Ich könnte mir vorstellen, dass Sie mit Ihrer Schwester Mitleid hatten, dass Sie es nicht mehr mit ansehen konnten, was Alex Sossier, Ihr Schwager, den Sie nicht ausstehen konnten, seiner Frau zumutete!“ Camerons Augen wurden schmal. Er kam angestampft. Er schnaufte. Er ballte die Fäuste.
„Sag das noch mal, du halbirrer Privatdetektiv-Darsteller! Dann nehme ich dich auseinander und verstreue deine Einzelteile in alle Himmelsrichtungen!“
Cantrell bleckte die Zähne. „Meine Frau sagt immer: Wer schreit, hat unrecht, Mr. Cameron!“
„Das war dein letztes keckes Wort!“, brüllte Cameron. Er wollte auf Cantrell eindreschen.
„Neal!“, schrie June Sossier ärgerlich. „Reiß dich zusammen! Lass Mr. Cantrell in Ruhe. Ich verlange mehr Beherrschung von dir. Willst du uns in Schwierigkeiten bringen?“ Wütend wischte sich Cameron den Schweiß von der Stirn. Er begab sich dorthin zurück, wo er die ganze Zeit gestanden hatte. Krächzend sagte er: „Vielleicht ist Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, Mr. Cantrell, dass June Ihnen sagte, sie hätte gestern mit mir bis zwei Uhr früh Karten gespielt. Das heißt, dass nicht nur sie für die Tatzeit ein Alibi hat, sondern auch ich.“
Cantrell grinste. „Na also. Warum regen Sie sich dann dermaßen auf? Wenn doch ohnehin alles in bester Ordnung ist.“