Читать книгу Mörderdutzend: 12 Thriller - Sammelband 1200 Seiten Krimi Spannung - A. F. Morland - Страница 98

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Harry Rollins zeichnete kleine Männchen aufs Papier. Er hatte den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt. Ein unerfreuliches Gespräch mit dem Staatsanwalt. Richard Snyder. Er wusste schon wieder mal alles besser. Rollins fing an, einen Galgen zu zeichnen. Und das Männchen, das er darunterkritzelte, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Snyder. Das gefiel Harry. Er grinste. Das Telefonat fiel ziemlich einseitig aus. Als der District Attorney schließlich doch noch zu einem Ende gekommen war, legte Harry auf und murmelte irgendetwas von „kreuzweise“.

Die Tür ging auf. Retcliff trat ein. Sein Blick fiel auf das Papier, das vor Rollins lag. „Sieht aus wie Snyder, der da am Galgen hängt, Chef.“

„Ist auch Snyder“, grinste Harry Rollins. Er knüllte das Blatt Papier zusammen und warf es in den Papierkorb.

„Gibt’s was Neues?“, wollte Rollins wissen.

„Es wird langsam, Chef.“ Retcliff rieb sich die Hände, als wäre ihm kalt. Bevor er weitersprach, ging er zum Wasserspender. Er zupfte einen Papierbecher unten raus und füllte ihn randvoll mit Wasser. Das konnte nicht gut gehen. Er verschüttete ein Viertel davon auf sein Jackett. Das war keine Eintagsfliege. Rollins war das von Retcliff gewohnt. Auch der Fluch, der darauf folgte, war immer derselbe. Der ganze Sergeant, von Kopf bis Fuß - ein Standard-Mann. Der Papierbecher landete da, wo die Männchen lagen.

„Nun?“, sagte Rollins.

„Sie hatten recht, Chef.“

„Womit?“

„Andrew Smith heißt in Wirklichkeit Alex Sossier.“

„Beide Male dieselben Initialen“, stellte Rollins fest. „A. S.“

Retcliff nickte. „Und mit diesem A. S. ist das so eine Sache.“

„Ist er mal straffällig geworden?“, fragte Rollins.

„Nein, Chef, das nicht.“

„Woher hast du seinen richtigen Namen?“, fragte Rollins.

„Er war beim Militär. Infanterie. Da jeder Mann, der eingezogen wird, seine Prints ...“

Rollins hob ärgerlich den Kopf. „Willst du mir jetzt etwa vorkauen, was ohnedies jeder weiß?“

„Also Sossier hat ein Doppelleben geführt“, sagte Retcliff. Jetzt war er beleidigt, und deshalb nur noch amtlich. „In den Bellevue-Apartments war er der Junggeselle Smith. Ein Don Juan ... Die Sache mit dem Einwegspiegel bleibt vorläufig noch ein Rätsel. Als Alex Sossier war er verheiratet. Seine Frau heißt June. Wir hatten noch nicht die Zeit, uns um sie zu kümmern.“

„Was war Sossier von Beruf?“, erkundigte sich Harry Rollins.

„Chefdekorateur der Pamberton-Warenhäuser.“

„Daher der große Geschmack beim Einrichten des Apartments.“ Rollins erhob sich. Eines der Telefone schlug an. Harry hoffte, dass es nicht wieder der übel gelaunte Snyder sein würde. Schnell nahm er den Hörer aus der Gabel. „Rollins!“

„Hallo, Harry. Hier Sinclair.“ Das war der Chef der ballistischen Abteilung.

„Ja, Sine?“

„Wir haben uns die Kugel angesehen, die den Mann im Apartment umgeschmissen hat.“

„Und?“

„Wurde vermutlich von einem 38er Smith & Wesson abgefeuert. Schriftlicher Bericht kommt umgehend.“

„Vielen Dank, Sine.“

„Keine Ursache“, sagte Sinclair. Er und Rollins legten gleichzeitig auf.

Rollins sagte zu seinem Assistenten: „Sossier wurde vermutlich mit einem 38er Smith & Wesson umgelegt.“

Retcliff nahm das mit einem kurzen Kopfnicken zur Kenntnis.

Rollins kniff nachdenklich die Augen zusammen. Seine Backenmuskel arbeiteten. „Was hat sich in diesem Bellevue-Apartment abgespielt, Cliff?“

Der Sergeant hob überfragt die Schultern. Zu sagen, auf Sossier wäre geschossen worden, wäre zu billig gewesen. Außerdem hätte eine solche Bemerkung den Lieutenant auf die Palme gebracht. Und Lieutenants auf Palmen gehören zu der gefährlichsten Sorte von Vorgesetzten.

„Ein Eifersuchtsdrama?“, fragte Rollins. Eigentlich dachte er bloß laut. Retcliff hätte nicht schon wieder mit den Schultern seine Unwissenheit dokumentieren müssen. Harry murmelte: „Ein Casanova. Er bringt laufend neue Mädchen in sein Liebesnest. Einmal, als er gerade so etwas wie einen freien Tag einlegt, kommt jemand über die Feuertreppe zu ihm und legt ihn um. Ein Könner. Einer, der einer Fliege den Rüssel abschießen könnte. Möglicherweise sogar im Flug. Warum passiert das? Warum gerade gestern?“ Von irgendwoher kam Rollins’ Blick in die Realität zurück. Der Lieutenant schaute Retcliff durchdringend an. „Hätte zu gern gewusst, was June Sossier zu alldem sagt. Du vergisst doch hoffentlich nicht, sie nach ihrem Alibi zu fragen.“

Retcliff ließ die Mundwinkel hängen. „Das ist überhaupt das Erste, wonach ich sie fragen werde!“, knurrte er. Als er sich umwandte, klopfte es. Er blieb stehen. Rollins rief; „Ja?“ Die Tür ging auf. Ein eleganter schlanker Mann mit getönter Brille trat ein. Er hatte breite Schultern und ging wie ein Raubtier, wenn es auf der Jagd ist. Seine Gesichtshaut war von der Sonne stark gebräunt. Der Maßanzug war ein einmaliges Modell von Jacques Dubois, San Francisco. Darunter ein blitzsauberes Craven-Hemd. Tony Cantrell - Rechtsanwalt und Privatdetektiv. Und ein guter Freund von Harry Rollins. Der Lieutenant streckte Cantrell erfreut die Hand entgegen.

Der Anwalt ergriff sie lächelnd. „Guten Tag, Harry.“

„Tony.“

Cantrell wandte sich an Retcliff. „Sergeant. Wie geht’s immer? Kommen Sie mit Harry aus?“

Retcliff wollte sich nicht in die Nesseln setzen, deshalb schürzte er die Lippen und meinte: „Es geht ... äh .. ich meine: Ich kann nicht klagen.“

Rollins setzte sich hinter den Schreibtisch. Cantrell nahm davor Platz. „Siehst aus, als könntest du ein paar Tage Urlaub gebrauchen, Harry.“

„Dafür siehst du so aus, als kämst du gerade von den Bahamas.“

„Wie geht’s zu Hause? Alles in Ordnung?“

Rollins lachte. „Aber ja. Helen streitet mit Sally.“ Sally war Rollins’ kleine Tochter. Helen war seine Frau. „Und wenn ich nach Hause komme, schickt Helen Sally ins Bett und streitet mit mir. Wie’s eben so in ’ner richtig glücklichen Familie zugeht.“

Cantrell wusste, dass Harry übertrieb. Rollins’ Ehe war harmonisch, geradezu mustergültig.

„Was führt dich zu uns in die Roosevelt Road, Tony?“, fragte der Lieutenant.

„Quincy Danenberg hat mich gefragt, ob ich mithelfen möchte, den Mord an Andrew Smith aufzuklären. Danenberg ist ein guter Freund von Butch, deshalb habe ich ihn nicht zur Konkurrenz geschickt. Eigentlich hatte ich vor, mit Carol für ein paar Tage in die Berge zu fahren.“

Rollins lachte schrill. „Machst du Witze? Ich sagte doch vorhin schon, dass du aussiehst, als würdest du von den Bahamas zurückkommen.“

„Carol und ich waren tatsächlich auf den Bahamas, Harry. Aber nicht zum Vergnügen“, erwiderte der Anwalt. „Wir waren beruflich da. Und wir hatten eine heiße, harte Zeit auf den Inseln. Keine Minute Urlaub. Wir waren hinter dem Chef eines Falschgeldringes her.“

„Habt ihr ihn erwischt?“, fragte Rollins.

„Leider nein. Die Haie waren schneller als wir. Er kenterte mit dem Boot. Wir konnten ihm nicht mehr helfen.“

„Und kaum heimgekehrt, wartet bereits das nächste Abenteuer auf dich..

Cantrell lächelte. „Ich will hoffen, dass wir die Sache gemeinsam so schnell wie möglich hinter uns bringen. Carol ist ein wenig abgeschlafft. Die macht mir schlapp, wenn ich ihr den wohlverdienten Urlaub noch ein paar Tage vorenthalte.“

Harry ließ die Augenbrauen nach oben schnappen. „Ich hab eine prima Idee, Tony. Warum setzen wir Carol, Helen und Sally nicht einfach in einen Wagen und schicken sie irgendwohin raus aufs Land?“

Cantrell schüttelte den Kopf. „Da würde Carol nicht mitspielen. Sie hat zwar nichts gegen Helen und Sally. Du kennst sie. Aber sie will dabei sein, wenn wo was los ist. Auch dann, wenn sie schon knapp am Umkippen ist.“

Rollins nickte. ,Ach ja. Was red ich denn. Helen würde ja auch nicht ohne mich wegfahren, Womit haben wir solche Frauen verdient, Tony.“

„Ich bin mit der meinen zufrieden.“

Rollins seufzte. „Komisch. Ich mit der meinen auch. Es liegt wohl an uns, dass sie so sind, wie sie sind.“

„Vermutlich. Darf ich jetzt mal hören, was ihr im Fall Smith bisher rausgekriegt habt?“

Der Lieutenant grinste. „Würde dem Attorney aber ganz und gar nicht gefallen, wenn er erfährt, an wen wir unser Wissen weitergeben.“

Cantrell winkte schmunzelnd ab. „Snyder ist ein Studienfreund von mir. Da kann nichts passieren. Außerdem arbeiten wir in diesem Fall nicht gegeneinander, sondern miteinander. Wenn man’s genau betrachtet, kriegst du ab sofort vier weitere Mitarbeiter zur Verfügung gestellt. Ist das nichts?“

Harry verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich zurück und sagte: „Hier die Facts, die wir bisher ausgegraben haben: Erstens, Smith hieß nicht Smith, sondern Sossier. Alex Sossier. Beruf: Chefdekorateur der Pamberton-Warenhäuser ...“

Rollins ließ nichts unter den Tisch fallen. Alles, was er wusste, bekam Tony Cantrell auf Silber serviert. Der Anwalt aus Western Springs versprach, sich bei Gelegenheit für die wertvollen Hinweise zu revanchieren. Dann verließ er das Police Headquarters und begab sich unverzüglich an die Arbeit. Sobald er in seinem schwarzen Buick Electra 225 saß, griff er nach dem Hörer des Autotelefons. Er fuhr die Roosevelt Road entlang. Das Polizeigebäude blieb hinter ihm. Trotz der getönten Brille, die er trug, stach ihm die Sonne in seine lichtempfindlichen Augen, mit denen er sogar nachts wie ein Falke sehen konnte. Cantrell war nachtsichtig. Es hatte da mal ein Säureattentat auf ihn gegeben. Er war vorübergehend blind gewesen. Ein junger Augenspezialist hatte die gefährliche Netzhauttransplantation gewagt. Die Operation war ein voller Erfolg gewesen. Seither konnte Cantrell auch nachts sehen. Ein feiner Kranz weißer Narben erinnert heute noch an jenes folgenschwere Attentat.

Zwei Straßen lagen zwischen dem Buick und dem Police Headquarters Building, als sich Carol Cantrell im Bungalow in Western Springs meldete. „Ich hätte auf meinen Vater hören und diesen Ingenieur aus Philadelphia heiraten sollen“, seufzte die junge Frau des Anwalts, nachdem Cantrell ihr eröffnet hatte, dass sie bereits alle mitten in der neuen Arbeit steckten.

Cantrell schmunzelte. In Situationen wie dieser holte Carol immer diesen Schlappschwanz aus Philadelphia aus der untersten Schublade raus, um ihn ihm vor die Nase zu halten.

Der Anwalt gab lachend zurück: „Als ich das letzte Mal von deinem Ingenieur hörte, war er gerade dabei, mit Pauken und Trompeten bankrott zu machen, Darling.“

„Er wäre mit mir in die Berge gefahren!“

„Mit welchem Geld denn? Und was glaubst du, wie schön es in den Bergen ist, wenn hinter jedem Felsen ein Gläubiger lauert. Sind Butch und Silk da?“

„Butch fängt gerade an, sich zu betrinken, Silk steht unter der Dusche.“

„Sag Butch, er soll auf Milch umsteigen. Er wird heute noch gebraucht. Kann ich ihn mal haben?“

„Aber gern.“ Carols Stimme verschwamm. Vermutlich hielt sie Jack jetzt den Hörer hin. Cantrell zwang seinem Buick einen südwestlichen Kurs auf. Er lenkte das Fahrzeug mit einer Hand. Mit der anderen telefonierte er. Butch kam. Er räusperte sich in Cantrells Ohr. „Ja, Chef?“, meldete er sich dann. Der Anwalt brannte sogleich ein Auftrags-Feuerwerk ab. Jack O'Reilly und Morton Philby - den sie wegen seines Seidenticks Silk nannten - sollten sich an Alex Sossiers Arbeitsplatz mal umsehen und umhören ... Plötzlich ein Lkw von links. Cantrell musste blitzschnell auf die Bremse latschen und das Lenkrad kräftig nach rechts herumreißen. Er benötigte dafür beide Hände. Der Telefonhörer klapperte auf den Wagenboden. Cantrell presste die Zähne zusammen, als der Buick auszubrechen drohte. Mit viel Geschick verhinderte er ein Schleudern und damit eine große Katastrophe, denn es waren eine Menge Fahrzeuge unterwegs. Mindestens eines davon hätte er frontal gerammt, wenn er nicht so blitzartig reagiert hätte. Der Fahrer des Lkw verwechselte Gas mit Bremse. Dazu hupte er.

Cantrells Buick verfehlte er. Aber den nachkommenden Chrysler erwischte er dafür voll. Ein gewaltiger Aufprall. Die Chryslertüren. sprangen auf. Der Beifahrer flog in hohem Bogen aus dem Fahrzeug. Der Fahrer wäre wahrscheinlich auch davongeflogen, wenn ihn das Blech nicht eingeklemmt hätte. Der Lkw schob den Chrysler fünf Meter vor sich her. Dann stoppte er. Als der Laster stehen geblieben war, sprang dessen Fahrer heraus. Der Mann hatte ein rotes Schnapsgesicht und stand unsicher auf den Beinen. Aufgebrachte Leute kamen von allen Seiten angerannt. Sie fielen über den Mann her und wollten ihn lynchen. Cantrell hielt den Buick an. Möglicherweise brauchte der Lkw-Fahrer jetzt Hilfe. Aber da schrillten schon Polizeipfeifen. Zwei Cops kamen gelaufen. Sie warfen sich mit einer wahren Todesverachtung in die wabernde Menschenmenge, wühlten sich durch die Leiber hindurch, bis zum Kern des Ärgernisses vor. Der Lkw-Fahrer war bereits übel zugerichtet. Aber es ging ihm noch besser, als es ihm in fünf Minuten gegangen wäre. Den Cops fiel die undankbare Aufgabe zu, den unverantwortlichen Lkw Fahrer vor den wütenden Leuten in Schutz zu nehmen. Cantrell setzte seine Fahrt fort. Ein Streifenwagen wimmerte heran. Und dann flog ein Rettungsauto durch die Straße, dem Unfallort entgegen.

Cantrell angelte den Hörer des Autotelefons wieder hoch. Butch war nicht mehr dran. Der Anwalt tippte noch einmal die Rufnummer seines Bungalows in den Apparat. Butch war augenblicklich wieder da. „Was war denn auf einmal los, Chef?“

„Ein Lkw wollte mich als Kühlerverzierung haben“, sagte Cantrell trocken. „Betrunkener Fahrer ...“

„So ein Schwein!“, ereiferte sich O'Reilly.

„Er hat bereits gekriegt, was er verdiente“, erwiderte Cantrell. „Du weißt Bescheid. Sobald Silk unter der Dusche hervorkommt, macht ihr euch auf die Socken.“

„Okay, Chef.“

„Gib mir jetzt Carol.“

„Hier ist sie schon“, sagte Butch.

„Ja, Tony?“

„Du kennst doch die Bellevue-Apartments.“

„Natürlich.“

„Setz dich in deinen VW und fahr da mal hin. Unterhalte dich ein wenig mit dem Tagportier. Steck ihm Geld zu. Das macht solche Leute in der Regel sehr gesprächig.“

„Was will ich von ihm wissen?“, fragte Carol.

„Lass dir alle Mädchen beschreiben, die Alex Sossier in letzter Zeit angeschleppt hat. Vielleicht ist ein Girl dabei, das wir durch Zufall kennen. Während du den Tagportier anzapfst, mache ich dasselbe beim Nachtportier. Jeder Hinweis kann wichtig sein. Selbst der kleinste.“

„Ich weiß, worauf es ankommt“, sagte Carol.

„Umso besser. Also dann, Darling. An die Arbeit.“

Die Pamberton-Warenhäuser hatten eine zentrale Verkaufsförderungsabteilung. In der Praxis hieß das, dass die Schaufenstergestaltung an einem einzigen Ort entworfen, die Dekorationen für sämtliche Schaufenster zentral angefertigt und später an alle Pamberton-Häuser ausgeliefert wurden. Das sparte Zeit, Geld und Nerven. Und es gab die Garantie, dass sämtliche Pamberton-Auslagen überall in Chicago wie ein Ei dem anderen glichen. Hermitage Street 2635. Das war die Anschrift der Zentrale.

Ein schlanker Bau aus Glas und Beton. Die Fenster waren nicht zu öffnen. Die Luft, die die Klimaanlage erzeugte, war weit besser als die, die von draußen reingekommen wäre. Eine Luft, mit Ionen aufgeladen, mit Ozonen angereichert. Eine Luft wie in den Rocky Mountains, ziemlich hoch oben, weit über der Baumgrenze. Ideale Arbeitsbedingungen also. Drei Geschosse dieses Hauses gehörten Pamberton. Hier saß die Nervenzentrale der Verkaufsförderungsabteilung, Hier wurde in nächtelangen Sitzungen entschieden, wie die Schaufenster zu Ostern, Pfingsten, Weihnachten und dazwischen auszusehen hatten. Und Alex Sossier hatte hier das große Zepter geschwungen. Bis gestern. Heute saß er vermutlich auf Wolke sieben und dachte darüber nach, was er falsch gemacht hatte.

Butch und Silk falteten sich aus dem schwarzen Chevrolet Chevelle Malibu Coupe. Philby - er sah aus wie ein sensibler Künstler, hatte aber brettharte Handkanten - richtete die elegante Krawatte. Blau mit weißen Tupfen. Ein gleichfarbiges Stecktuch in der Brusttasche des gut geschnittenen Sommeranzugs.

O'Reilly war die adrette Aufmachung seines Freundes ein Dorn im Auge. Er selbst trug Jeans und ein T-Shirt, das seinen Muskelpaketen kaum Herr wurde. Grinsend stichelte er: „Bist ja schon schön genug, Kleiner. Und die Krawatte hat sich seit unserer Abfahrt von Western Springs um keinen Millimeter verschoben. Also was soll die dämliche Herumfummelei?“

Morton Philby warf dem Freund einen ärgerlichen Blick zu. „Hör auf, an mir herumzunörgeln. Jeder soll auf seine Art glücklich werden. Habe ich mit einem Wort erwähnt, dass du aussiehst wie ein Penner?“

Butch blieb stehen. Er ließ die Faust wie einen Hammer auf und ab wippen. „Den Penner nimmst du jetzt auf der Stelle zurück!“

„Aber ja“, sagte der drahtige Detektiv. Er grinste. „Die Wahrheit ist eben nicht jedermanns Sache.“

Silk ging weiter. Butch folgte ihm wie ein Straßenräuber. „Dir gewöhne ich dein loses Mundwerk auch noch mal ab!“, schnaubte der blonde Hüne.

„Ich hab mich nur verteidigt“, erwiderte Philby. Sie erreichten den gläsernen Eingang des Glas-Beton-Hauses. Ein Portier mit Holzbein plusterte sich vor ihnen auf und zeigte ihnen, dass er sein Gehalt nicht umsonst bekam. Sie wiesen ihre Detektivlizenzen vor, sprachen von Sossier und dass sie gern mit einigen seiner Kollegen reden würden. Der Portier nickte gnädig und gab ihnen einen Leitfaden mit auf den Weg.

Im Erdgeschoss befanden sich die Werkstätten. Hier wurden die entworfenen Dekorationselemente angefertigt.

Im ersten Stock gab es Probekojen, die Schaufenstergröße hatten. Hier wurde sozusagen der Dekorationsprototyp aufgebaut. Wenn die Leute mit der Arbeit fertig waren, kam Mr. Pamberton höchstpersönlich hierher. Und er sagte dann entweder: „Gut!“ oder: „Scheiße!“. Im ersten Fall breitete sich die Dekoration binnen 48 Stunden dann in Chicago wie eine Seuche aus. Im zweiten Fall gab es Ratlosigkeit unter den Angestellten, heiße Köpfe, hitzige Debatten, neue Vorschläge und andere Entwürfe sowie Überstunden bis in die späte Nacht hinein, damit die Termine nicht über den Haufen geschmissen wurden, denn das hätte ein mächtiges Chaos ausgelöst. Aber dazu war es in all den Jahren, in denen diese Verkaufsförderungsabteilung hier schon tätig war, noch kein einziges Mal gekommen. Und darauf waren die Angestellten mit Recht stolz.

Dritter Stock: Büros. Eines davon natürlich das größte - war Sossiers Office gewesen. Heute war es leer, Silk und Butch fragten sich quer durch das Erdgeschoss. Die Angestellten sprachen nicht gut und nicht schlecht über Sossier. Sie sagten alle, dass sie privat kaum Kontakt mit dem Chefdekorateur hatten. Dass er verheiratet war, wusste sogar der kleinste Laufbursche. Dass er ein Doppelleben geführt hatte, war ihnen ausnahmslos neu. Und kein Mensch hatte davon eine Ahnung, dass Alex Sossier hin und wieder auch in den Bellevue-Apartments gewohnt hatte.

Im zweiten Stock fanden die Detektive einen Mann mit roten Haaren. Mittelgroß. Grüner Anzug. Rote Fliege. Er erweckte den Eindruck, als wollte er unbedingt komisch aussehen. Sein linkes Lid zuckte ununterbrochen. Und damit das Lid nicht allein auffiel, zuckte auch hin und wieder seine rechte Schulter. Ein Nervenbündel ersten Ranges. Und mit einer Stimme gesegnet, für die sich sogar ein Eunuche geschämt hätte.

„Ich hab’s heute Vormittag im Radio gehört“, sagte der Rothaarige in hohem Diskant. Dazu: Lidflattern. Schulterzucken.

„Was war Ihr erster Gedanke?“, fragte Butch den Mann.

„Oh, verdammt.“

„Und der zweite Gedanke?“

„Ach, du dickes Ei!“

„Und wann fingen Sie an, was Vernünftiges zu denken?“

„Nach dem dritten Whisky.“

„Und was dachten Sie da?“, wollte Butch wissen.

„Erst mal, dass ich noch einen vierten Whisky vertragen könnte.“ Lidflattern. Schulterzucken.

Butch drehte die Augen nach oben. Geduld war etwas, was er nur in geringem Maße hatte. Er explodierte leicht. Seufzend ließ er Dampf ab. Und dann nickte er dem nervlich stärkeren Silk zu. Er sollte mit der Befragung weitermachen.

Silk erkundigte sich: „Wurde was aus dem vierten Whisky?“

„Beinahe“, erwiderte der Rothaarige, Schulterzucken. „Aber dann dachte ich, ich könnte mir doch auf den Schreck keinen antrinken.“ Lidflattern. „Ich rief ein paar Kollegen an. Sie hatten es nicht gehört. Sie dachten, ich wollte sie auf den Arm nehmen, aber mit so etwas spaßt man doch nicht. Herrje, war ich durcheinander.“ Schulterzucken. „Ich bin es eigentlich noch immer.“ Lidflattern. „Alex Sossier ... Sie müssen wissen, er hat den Pamberton-Schaufenstern sozusagen seinen ganz persönlichen Stempel aufgeprägt. Es gab nichts, was nicht seine Handschrift trug. Ein großartiger Fachmann. Dabei ein Realist. Und über einen Ideenreichtum verfügte er, sage ich Ihnen. Der war einfach nicht in Verlegenheit zu bringen.“

„Er war wohl sehr gut angeschrieben bei Mr. Pamberton“, meinte Morton Philby. O'Reilly betrachtete eine der leeren Kojen. In den Holzwänden steckten Klammern und Nadeln. An einigen von ihnen hingen zarte Nylonfäden. Überreste von der letzten Dekoration.

„Pamberton hat ihn mal ein Genie genannt. Vor allen Angestellten.“ Der Rothaarige zuckte mit der Schulter. „Wer Mr. Pamberton kennt, weiß, wie sparsam er mit Lob umgeht.“

„Woran wird gerade gearbeitet?“, erkundigte sich Silk.

Zuerst kam ein Lidflattern. Dann die Antwort: „Dekoration für den Sommer-Räumungsverkauf. Natürlich wieder nach Entwürfen von Alex Sossier.“

„Wie war seine Bezahlung?“

„Da hatte keiner von uns Einblick. Aber Pamberton ließ sich bestimmt nicht lumpen. Wenn er jemandes fachliche Qualifikation anerkennt, dann drückt sich das in klingender Münze aus.“

Silk schob eine Hand in die Hosentasche. „Nun verraten Sie uns mal, ob Sie sich nicht - als Sie die Nachricht von Sossiers Tod hörten - überlegt haben, wer den Chefdekorateur umgebracht haben könnte.“ Schulterzucken.

Butch konnte das schon nicht mehr sehen. Die Sache war ansteckend. Er war beinahe daran, ebenfalls damit anzufangen.

Der Rothaarige antwortete mit seiner Sopranstimme: „Überlegt habe ich mir schon etwas ... Aber ...“ Ein Blick über die zuckende Schulter. „Aber ich möchte nicht darüber reden.“

„Sie sind also auf jemanden gekommen, dem Sie den Mord zutrauen würden“, hakte Philby sofort nach.

Lidflattern. „Sehen Sie, ich habe hier einen prima Job. Ich tu mir nicht weh und verdiene ein hübsches Stück Geld. Soll ich mir das alles verderben?“

„Ich kann schweigen wie ein Grab“, versprach Silk.

Der Rothaarige nickte. „Ich auch.“

„Wie standen Sie zu Sossier?“

„Ich stand seiner Arbeit absolut positiv gegenüber.“

„Und wie sahen Sie ihn als Mensch?“

„Nun ja. Er hatte seine Schwächen. Irgendetwas haben wir ja alle, nicht wahr? Deshalb sage ich immer: Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollen.“

„Ein schöner Spruch“, lobte Silk.

„Was für Schwächen hatte Sossier?“

„Er war launisch. Wie das Wetter im April war er. Mal schien die Sonne. Dann gab’s gleich wieder ein Donnerwetter. Und eine Viertelstunde später schien wieder die Sonne.“

„Aber Sie kamen trotzdem gut mit ihm aus, nicht wahr?“

„Ich kann mich anpassen.“ Lidflattern.

„Das ist viel wert. Wer von der Verkaufsförderungsabteilung kann das nicht?“

„Kennison“, sagte der Rothaarige wie aus der Pistole geschossen. „Frederick Kennison.“ Kaum war es draußen, da machte das Nervenbündel ein belämmertes Gesicht. Lidflattern und Schulterzucken steigerten sich in der Frequenz. „Verdammt, ich will niemanden Schwierigkeiten machen, verstehen Sie? Am allerwenigsten Kennison. Ich bin ein Mensch, der nirgendwo gern aneckt. Ich schwimme niemals gegen den Strom, behalte meine Meinung für mich, zeige nicht zu viel Rückgrat, wenn ich jemandem gegenüberstehe, der ein paar Ränge über mir schwebt. Gewiss, Sie könnten mich jetzt ein dummes Charakterschwein nennen. Aber ich bin daraufgekommen, dass es besser ist, mit den Wölfen zu heulen, als wegen jedem Dreck, der einem in die Nase stinkt, gleich eine Revolution anzuzetteln. Die Vorgesetzten haben mich gern, weil ich sie akzeptiere, und weil ich ihnen nicht widerspreche. Ich mache zwar meine Vorschläge, aber ich beharre nicht darauf. Wenn der Vorgesetzte meint, es wäre Blödsinn, was ich sagte, dann geht das für mich in Ordnung. Schließlich ist er der Vorgesetzte. Er wird schon wissen, warum er dies für gut und das für schlecht hält. Soll ich mir vielleicht auch seinen Kopf zerbrechen? So viel kriege ich nun auch wieder nicht bezahlt.“

„Als Sie hörten, dass Sossier nicht mehr lebt, haben Sie unwillkürlich an Mr. Kennison gedacht, wie?“, bohrte Silk unermüdlich weiter.

Schulterzucken. „Mann, ich will niemandem Schwierigkeiten ma...“

„Sie haben gedacht, Kennison könnte mit dieser Sache was zu tun haben!“

Der Rothaarige wand sich wie ein getretener Wurm. „Vielleicht!“, sagte er. Das war mehr, als er zugeben wollte. O'Reilly begann langsam zu kochen. Er hätte gern mal kräftig zugelangt, um dem Rothaar sein Wahrheitsserum ins Gesicht zu klatschen.

„Wer ist Kennison?“, fragte Silk. Butch konnte nicht verstehen, woher sein Freund so viel Geduld nahm. „Was für einen Job hat er?“

„Er ist Sossiers Stellvertreter“, antwortete der Rothaarige. Dazu flatterte er mit dem Lid. „Kennison ist vier Jahre länger bei der Firma als Sossier.“

Silk spitzte die Ohren. „Und trotzdem ist er nur Sossiers Stellvertreter?“

„Jetzt wird er der neue Chefdekorateur.“

„Warum war er es nicht schon lange?“, fragte Silk.

„So etwas bestimmt natürlich Mr. Pamberton. Und Mr. Pamberton fand, dass Alex Sossier der bessere Mann war. Seine Entwürfe hatten mehr Niveau und zeigten mehr Geschmack. Sie waren mit geringem Einsatz - sowohl an Arbeitszeit als auch an Material - zu realisieren. Und sie schlugen sich in guten Verkaufsziffern nieder. Lauter Pluspunkte, die Kennison nicht in diesem Ausmaß zu erreichen imstande war.“

„Wie haben sich Kennison und Sossier denn vertragen?“, forschte Philby.

Schulterzucken. „Wie Hund und Katze.“

„Gab es häufig Streit zwischen den beiden?“

„Fast jeden Tag.“

„Persönliche oder berufliche Differenzen?“, fragte Silk.

„Das lässt sich nicht so scharf trennen. Es fing zwar fast immer wegen irgendeines beruflichen Problems an. Aber bald schon verlagerte sich der Streit auch auf die private Ebene. Mann, was haben die beiden sich nicht alles an den Kopf geworfen. Einmal ... Also einmal schrie Kennison mit hochrotem Gesicht, er würde Sossier noch mal wie einen räudigen Köter erschlagen ... Aber das hätte ich wohl besser für mich behalten, wie?“

„Durchaus nicht“, lächelte Silk. „Sie haben uns sehr geholfen.“

Der Rothaarige leckte sich mit einem hilflosen Ausdruck die Lippen. „Sie gehen jetzt zu Kennison, stimmt’s?“

„Ein logischer Schritt“, sagte Silk. „Schaffen Sie’s, mich aus dem Spiel zu lassen? Ich will keine Schwierigkeiten haben. Und - Kennison ist jetzt der erste Mann bei uns.“

Philby lachte. „Wenn er was mit Sossiers Ende zu tun hat, ist er’s nicht mehr lange.“

„Bis dahin möchte ich mit ihm aber nicht auf Kriegsfuß stehen. Er kann den Leuten, die auf seiner persönlichen Abschussliste stehen, das Leben verdammt sauer machen.“

Silk grinste. „Sagte ich nicht, ich kann schweigen wie ein Grab?“

„Hoffentlich tun Sie’s auch“, seufzte der Rothaarige.

„Wo finden wir Kennison?“, fragte Philby.

„Gehen Sie durch diese Tür hinaus. Dann links. Dann rechts. Und dann stoßen Sie direkt an seine Tür. Es steht sein Name drauf. Sie können sie nicht verfehlen.“ Zum Abschied gab es noch mal ein kräftiges Lidflattern und Schulterzucken. Die Detektive schritten durch die gezeigte Tür. Butch schüttelte den Kopf.

„Wenn ich mit dem Rotschopf einen Tag beisammen sein müsste, hätte ich nach zwölf Stunden unter Garantie dasselbe Leiden wie er. Möglicherweise noch ausgeprägter als er.“ Sie wandten sich nach links. Dann nach rechts. Frederick Kennisons Tür. Butch hämmerte dagegen. Drinnen ein Gepolter, als wäre jemand mit dem Stuhl umgefallen. Ein krächzendes „Ja!“, quälte sich durch die Tür. „Herein!“

„Das lasse ich mir nicht zweimal sagen“, grinste O'Reilly. Er machte die Tür auf.

Das Büro hatte schätzungsweise sechzehn Quadratmeter. Jeder Millimeter war ausgenützt. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing so etwas Ähnliches wie ein Produktionsfahrplan. Grüne und gelbe Kärtchen steckten darin. Dazwischen gab es mehrere schwarze, ein paar rote und wenige blaue. Einschlägiges Fotomaterial lag auf einem Mahagonitisch. Vier Aschenbecher darum herum. Alle voll. Vermutlich hatte vor wenigen Minuten erst eine kleine Konferenz hier drinnen stattgefunden. Eine Konferenz, in der Kennison seinen Mitarbeitern klargemacht hatte, dass nun er den vakant gewordenen Thron besteigen würde.

Kennison erhob sich und kam hinter seinem Schreibtisch hervor.

Dass Sossier mit dem nicht auskommen konnte, war kein Schlechtpunkt für ihn, sondern ein zusätzlicher für Kennison.

Der Mann war groß, schlank, mit schmalen Schultern und spitzen Knien, die sich bei jedem Schritt durch die Kordhose bohrten. Er sah so streng aus wie Dracula, wenn er hungrig war. In seinen Augen lag ein hinterhältiges Glitzern. Jetzt faltete er die Hände, als wollte er beten. Blasphemie. Er kam näher. Seine Haltung war irgendwie lauernd. Er misstraute wohl jedem. Möglicherweise sogar seinem Spiegelbild. Dem allerdings mit gutem Grund. Je näher er kam, desto deutlicher waren die groben Poren an seinen Wangen zu erkennen. Sein Haar war schwarz. Er trug es glatt zurückgekämmt. Das unterstrich seinen strengen Ausdruck. Seine Augen flogen wie Pingpong-Bälle zwischen Silk und Butch hin und her.

„Was kann ich für Sie tun, Gentlemen?“ Rundfunksprecher konnte er mit der Stimme nicht werden. Die reichte höchstens, um ein Schauermärchen zu erzählen.

Silk machte es kurz. Er wies sich aus, sagte, dass auch O'Reilly eine solche Lizenz hätte, und kam dann gleich zum Thema. Als zum ersten Mal der Name Sossier fiel, schlug die gespielt freundliche Art Kennisons in eine gespielt scheinheilige Art um. Er legte den Kopf schief. Und er war den Krokodilstränen nahe. Oh Gott, wie litt er doch unter dem Verlust. Sossier, ein Mann, den man einfach gern haben musste. Ein brillanter Kopf. Ein Mann voller Ideen. Ein Kerl, wie ihn die Welt noch nicht erlebt hatte. Kein einziges böses Wort fiel. Kennison hob Sossier geradezu in dem Himmel. Er lobte ihn über den grünen Klee. Er sprach von einer vorbildlichen Zusammenarbeit und dass man Sossier sowohl menschlich als auch fachlich voll akzeptieren musste. Sossiers unverhoffter Tod - der größte Verlust, den die Firma je haben konnte. Hatte der Rothaarige vorhin gelogen? Fast sah es so aus. Frederick Kennison war ein hervorragender Komödiant. Er setzte Mimik und Gestik gekonnt ein. Leute ohne die reiche Menschenkenntnis, wie Silk und Butch sie hatten, wären prompt auf dieses bühnenreife Schauspiel hereingefallen.

Silk hatte die Geduld, sich all die Lügen wortlos anzuhören.

Nicht aber O'Reilly.

Dem blonden Hünen platzte sehr bald schon der Kragen. „Sagen Sie, für wie blöde halten Sie uns eigentlich, Kennison?“, schrie er den schmalen Mann wütend an.

Frederick Kennison verlor für einen Augenblick den Faden. Er stockte und starrte Butch verdattert an. „Ich fürchte, ich verstehe nicht ...“

„Warum geben Sie nicht zu, dass Sie Sossier hassten?“

„Wie kommen Sie denn darauf, Mr. O'Reilly?“, krächzte Kennison erschrocken.

„Sie sind vier Jahre länger bei Pamberton. Aber Sie haben’s nur bis zu Sossiers Stellvertreter gebracht. So etwas nagt doch bei einem Ehrgeizling wie Ihnen an den Eingeweiden.“

„Sossier hatte die bessere Qualifikation. Das habe ich akzeptiert.“

„Weil Pamberton Ihnen das nahegelegt hat. Wahrscheinlich hat er Ihnen gesagt, entweder Sie sind mit Sossier einverstanden, oder Sie suchen sich einen anderen Job.“

„Sie sehen das völlig falsch!“, krächzte Kennison.

„Sie haben versucht, Sossier mit ’nem Nervenkrieg mürbe zu machen. Vielleicht dachten Sie, er würde davon eines Tages genug haben, kapitulieren, seine Siebensachen packen und das Feld für Sie räumen. Aber Sossier war hart im Nehmen.“ Frederick Kennison fuhr sich nervös über das bleiche Gesicht. Seine Hand zitterte. „Wie kommen Sie dazu, mir diese Dinge zu unterstellen, Mr. O'Reilly?“

Butch grinste. „Ich unterstelle Ihnen nichts. Ich sage einfach die Wahrheit, mein Guter. Das ist alles. Während Sie sich zum Hanswurst machen und uns den zerknirschten Kameraden vorspielen.“

Kennison richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er sah lächerlich aus, aber er dachte, er würde Furcht erwecken. „Ich verbiete Ihnen, in diesem Ton mit mir zu reden, Mr. O'Reilly!“

Butch bleckte die Zähne. „Wissen Sie, was Sie sind? Ein ganz mieser Heuchler sind Sie, Mann. Vorhin haben Sie um Sossier beinahe echte Tränen vergossen. Finden Sie das nicht zum Lachen? Ausgerechnet Sie heulen um Sossier? Sie, der jeden Tag mit ihm gestritten hat. Sie, der ihn hasste, weil er Ihnen vor die Nase gesetzt wurde. Sie, der allen Grund hat, sich über Sossiers Tod zu freuen, denn nun kriegen Sie seinen Posten ...“

„Kein Wort mehr, O'Reilly!“, brüllte Kennison. Jetzt bebte er am ganzen Körper. Er war um Fassung bemüht. Während er schrie, traten ihm die Adern wie dicke Striche aus dem Hals. Aber das machte auf O'Reilly keinerlei Eindruck. Butch ging solchen Auseinandersetzungen niemals aus dem Weg. Im Gegenteil. Er suchte sie sogar. „Verlassen Sie auf der Stelle mein Büro!“, verlangte Kennison.

Butch kniff die Augen zusammen. „Ich gehe, wenn ich mit Ihnen fertig bin, Kennison.“

„Wir haben miteinander nichts mehr zu reden!“

„Oh doch. Ich habe noch ein bisschen was auf dem Herzen. Zum Beispiel das: Geben Sie zu, dass Sie Sossier auf den Tod gehasst haben!“

„Das ist doch überhaupt nicht wahr!“, schrie Kennison außer sich vor Wut. „Das saugen Sie sich doch aus den Fingern!“

Butch grinste. „Ein guter Finger, Mr. Kennison. Und die gesamte Verkaufsförderungsabteilung hat mir bestätigt, was da beim Saugen herauskam. Soll ich Ihnen mal was verraten? Wenn ein Mord verübt wurde, dann fragt man sich immer: 'Warum wurde er begangen?' Und man fängt an, einen Grund zu suchen, ein Motiv, verstehen Sie? Als Nächstes stellt man sich die Frage, wem ein solcher Mord am meisten nützt. Und nun sehen Sie mal an, mir fällt im Moment niemand besseres ein als Sie!“

Das warf Kennison beinahe um. Er plärrte: „Sie sind ja nicht bei Trost, O'Reilly! Sie haben einen Vogel!“ Er tippte sich aufgeregt an die Stirn. „Wie kommen Sie dazu, mir den Mord an Sossier anhängen zu wollen?“

„Gänzlich unverständlich, wie? Wo Sie ihn doch so sehr geliebt haben, den guten Sossier.“ Das spöttische Grinsen verschwand aus Butchs Gesicht. Er wurde todernst. „Wie oft haben Sie sich seinen Tod gewünscht, Kennison?“

„Niemals!“, schrie der schmale Mann fassungslos. „Ich bin kein Killer!“

„Wirklich nicht?“

„Hören Sie, O'Reilly ...“

„Haben Sie zu Sossier gesagt, Sie würden ihn mal wie einen räudigen Hund erschlagen, Mr. Kennison?“

„Jetzt reicht’s mir aber!“

„Mir reicht’s schon lange!“, bellte O'Reilly zurück. „Haben Sie sich zu einer solchen Äußerung hinreißen lassen oder nicht, Mr. Kennison?“

Der schmale Mann schluckte. Er nagte an der Unterlippe und scharrte mit dem Fuß auf dem Boden. „Im Zorn sagt man so etwas schnell!“, gab er schließlich zu. „Aber das war doch nicht ernst gemeint, um Himmels willen. Okay, ich gebe zu, Sossier und ich hatten hin und wieder Differenzen ...“

Butch grinste. „Das klingt schon besser.“

„Er und ich ... wir waren zu verschieden. Es gab fast nichts, wovon wir dieselbe Auffassung hatten. Jeder beharrte auf seinem Standpunkt. Und dann gab es eben ab und zu mal Funken, wenn wir aneinandergerieten, Aber es wäre mir deshalb niemals in den Sinn gekommen, Sossier umzubringen. Das müssen Sie mir glauben, O'Reilly. Zu solch einer Tat wäre ich gar nicht fähig.“

Jack O'Reilly nickte. „Sie werden’s nicht für möglich halten, aber ich glaube Ihnen. Sie hätten Sossier vielleicht im Affekt erschlagen. Aber das, was gestern passierte, war vorsätzlicher Mord. Und dazu haben Sie nicht das nötige Kaliber.“

Kennison stieß geräuschvoll die Luft aus. „Na also. Sind Sie immer so schwer zu überzeugen?“

Butch bleckte sein kräftiges Gebiss. „Wer sagt denn, dass ich schon überzeugt bin?“

„Sie sagten doch eben ...“

„Ich sagte, dass ich Sie nicht für Sossiers Mörder halte.“

„Eben. Das heißt doch ...“

„Das heißt für mich noch lange nicht, dass Sie mit diesem Mord nichts zu tun haben, Mr. Kennison!“, sagte Butch eiskalt.

Kennison blickte Morton Philby verzweifelt an. „Mein Gott, er ist tatsächlich verrückt!“

„Sie könnten einen Killer angeheuert haben!“, sagte Butch gleichmütig.

„Teufel noch mal, ich habe mit dem Mord an Sossier nichts zu tun. Weder direkt noch indirekt. Vielleicht bin ich froh darüber, dass es Sossier nicht mehr gibt, dass ich nicht mehr zu streiten brauche, dass mir sein Posten jetzt in den Schoß fällt. Aber ich habe an dieser Sache keinen Millimeter gedreht. Es ist alles von allein passiert. Tut mir leid, O'Reilly. Sie bellen den falschen Baum an.“

Butch hob die Schultern. „Da bin ich nicht ganz so sicher wie Sie, Mr. Kennison.“ Er machte Silk ein Zeichen. Sie gingen. Vor der Tür blieb O'Reilly noch einmal stehen. Er wandte sich um. Kennison wischte sich das Gesicht mit dem Stecktuch trocken. „Da kommt man ganz schön ins Schwitzen, was?“, grinste O'Reilly. „Ich habe das Gefühl, wir sehen einander noch mal wieder, Mr. Kennison. Beschaffen Sie sich in der Zwischenzeit etwas für die Nerven. Kann bestimmt nicht schaden.“ Butchs Hand flog auf den Türknauf. Er öffnete die Tür. Da sah er einen Schatten, der gerade um die Ecke huschte. O'Reilly schaltete sofort den Schnellgang ein. Er erreichte die Ecke. „Nanuchen, nanuchen! Wohin denn so eilig?“, fragte er grinsend. Das Mädchen blieb abrupt stehen. Langsam wandte es sich um.

Sie hatte wunderschöne Augen. Groß und leicht schräg gestellt. Tiefblau wie ein See in den Bergen. Die Nase war klein. Das lange, jettschwarze Haar umrahmte ein liebreizendes Puppengesicht. Butch ging auf die Kleine zu. Sie trug einen weißen Arbeitsmantel, vorne offen. Im Pulli schaukelten große Brüste. Ihre Taille war schmal. Sie trug Jeans, die unheimlich stramm saßen. Da hatte keine Kinderhand mehr Platz. And den Füßen trug das Girl hellbraune Mokassins. Damit konnte sie so lautlos gehen, dass man meinte, sie würde schweben.

„Wen haben wir denn da?“, fragte O'Reilly schmunzelnd.

„Wie bitte?“, fragte das Mädchen mit heiserer Stimme zurück. Silk gesellte sich zu ihnen.

„Darf ich um Ihren Namen bitten?“, sagte Butch höflich. Das Püppchen gefiel ihm. Sie trug keinen Verlobungsring und war auch nicht verheiratet. Also war sie vogelfrei für jeden Junggesellen.

„Ich heiße Micaela Bannister“, sagte das schwarzhaarige Girl scheu.

Butch blickte auf sie hinunter, wandte sich dann an Silk und sagte schmunzelnd: „Das gute Kind hat gelauscht.“ Und zu dem Mädchen sagte O'Reilly: „Tut man denn so etwas?“

Micaela schämte sich. Sie blickte zu Boden. Und sie glaubte, sich rechtfertigen zu müssen. „Ich kam an Mr. Kennisons Büro vorbei und hörte ihn brüllen. Ich wollte wissen, weshalb er sich schon wieder so aufregt.“ Micaelas Augen strahlten O'Reilly nun begeistert an. „Sie haben es ihm ganz schön gegeben. Das gönne ich ihm. Er ist ein Ekel. Jetzt, wo Sossier nicht mehr ist, werde ich besser die Firma wechseln. Ich kann mit Kennison nicht zusammenarbeiten.“

„Mit Sossier konnten Sie’s?“, erkundigte sich Morton Philby. Um bei dem Mädchen mehr Eindruck zu machen als Butch, straffte er etwas den Rücken, damit er größer wirkte.

„Alex war ein großartiger Fachmann. Dem kamen Ideen, die Kennison niemals haben wird.“

„Silk hob eine Brauen. „Alex?“, fragte er.

Micaela nickte. „Wir haben uns geduzt.“

„Aha“, sagte Silk.

„Nichts, aha!“, sagte Micaela scharf. Sie schob trotzig ihr Kinn vor. „Da war nichts, dessen ich mich schämen müsste!“

Butch schaltete sich ein. „Wir wollen mal ganz offen darüber reden, Micaela. Alex Sossier war so etwas wie ein ... Nun, er war ein Don Juan. Er hatte zwar eine Ehefrau, aber er führte trotzdem ein recht flottes Leben. Wissen Sie das?“

„Er hat es bei allen Mädchen, die hier arbeiten, mal versucht“, sagte Micaela.

„Also auch, bei Ihnen“, meinte Butch.

„Natürlich.“

„Woran lag es, dass es nicht geklappt hat?“, fragte Silk.

„An mir. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn zwar nett finde, dass er sich aber das, was er haben wollte, von seiner Frau holen sollte.“

„Wie hat er darauf reagiert?“, wollte Butch wissen.

„Ganz vernünftig. Er hat mich von diesem Moment an in Ruhe gelassen. Er begnügte sich damit, ein paar Fotos von mir zu schießen.“

„Wozu denn das?“, fragte O'Reilly erstaunt.

Micaela schaute ihn an, als wäre sie ihm auf eine eklatante Bildungslücke draufgekommen. „Wissen Sie das denn nicht?“

„Ich bitte um Verzeihung - nein. Was denn?“, fragte Butch.

„Alex war ein begeisterter Hobbyfotograf.“

„Aktaufnahmen?“, fragte Butch. Micaela schüttelte das hübsche Köpfchen. Sie wurde Butch immer sympathischer. Er dachte schon an ein Abendessen zu zweit. Irgendwo in einem verschwiegenen kleinen Restaurant. Wo statt elektrischem Licht Kerzen verwendet wurden.

„Für Aktaufnahmen hätte mich Alex nicht vor die Fotolinse gekriegt“, sagte Micaela.

„Obwohl Sie offensichtlich eine prima Figur haben“, sagte Butch.

„In der Beziehung bin ich ein bisschen prüde“, gestand das Mädchen. „Vielleicht das Ergebnis einer falschen Erziehung. Mag sein, dass diese Erziehung aber auch richtig war.“

Butch grinste. „Ich habe absolut nichts gegen Mädchen, die sich weigern, die Hüllen vor einem Mann fallen zu lassen, den sie nicht mögen ... oder nicht genug mögen. - Übrigens: Ich bin Butch. Und der Kleine, der mir da aus der Hosentasche hängt, ist Silk.“

Micaela nickte Philby freundlich zu. „Möchten Sie die Fotos sehen, die Alex von mir gemacht hat?“

„Sehr gern sogar“, sagte Butch. „Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir auf eines hinten Ihre Telefonnummer draufschreiben würden, damit wir uns mal einen netten Abend machen könnten.“ Micaela kicherte. „Nichts dagegen einzuwenden, Butch. Darf ich meinen Freund mitbringen?“

Wumm! Der Tiefschlag saß genau da, wo er sitzen sollte. Und Silk grinste auf Breitwand dazu.

In Micaelas kleinem Büro hingen die Poster von männlichen Filmgrößen an der Wand. Obwohl Kennisons Büro größer und schöner eingerichtet war, fühlten sich die Detektive hier drinnen wesentlich wohler. Sie setzten sich ungezwungen irgendwohin und warteten auf die Fotos. Micaela kramte sie aus ihrer Schreibtischschublade, teilte das Paket in zwei Hälften und übergab die Fotoberge an Silk und Butch. Dazu sagte das schwarzhaarige Mädchen: „Alex hatte einen richtigen Fototick. Er hat fotografiert, was ihm in die Quere kam. Hunde, Autos. Polizisten. Briefträger ...“

„Auch Frederick Kennison?“, fragte Butch grinsend.

„Den nicht“, erwiderte Micaela. „Er sagte mal zu mir, für Kennison wäre ihm sein Film zu schade.“ Sie kicherte hinter der vorgehaltenen Hand.

Butch und Silk wühlten sich durch die Fotos. Künstlerisch wertvolle Aufnahmen. Micaela am Arbeitsplatz, als Schaufensterpuppe, im Bikini ... Die Figur war wirklich erstklassig.

Sie gaben die Aufnahmen zurück.

„Sagen Sie mal, wo hat er denn diese Fotos alle ausarbeiten lassen?“, wollte O'Reilly wissen.

Micaela schüttelte den Kopf. „Da hat er niemanden rangelassen. Das hat er alles selbst gemacht. Entwickeln. Kopieren. Ausschnittvergrößerungen.“

„Wo hat er das denn gemacht?“, erkundigte sich Morton Philby. „Zu Hause?“

„Nicht doch. Er sagte, zu Hause hätte er dazu keine Ruhe. Alex hat sich hier in der Nähe ein Fotolabor eingerichtet. Da war er oft viele Stunden. Wenn er in seinem Labor war, vergaß er die Zeit.“

Butch schaute Silk an. „Dieses Labor sollten wir uns mal von innen ansehen, was meinst du?“

„Wie ist die Adresse?“, fragte Philby das Mädchen.

„Seeley Street 4235“, antwortete Micaela. Sie blickte Butch erstaunt an. „Sagen Sie, brauchen Sie dazu nicht so etwas wie einen Haussuchungsbefehl, oder wie man das nennt?“

„Wir sind keine Polizeibeamten, Kind“, schmunzelte O'Reilly.

„Ja ... Aber müssten nicht eigentlich auch Sie ...“

Butch erhob sich. „Sehen Sie, Micaela, Alex Sossier ist das Schlimmste zugestoßen, was einem passieren kann. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, Sossiers Mörder zur Strecke zu bringen. Dagegen kann Alex doch nichts haben, oder?“

Das hübsche Girl hob die Schultern. „Ich bin sicher, Sie wissen, was Sie tun.“

„Wie wahr, wie wahr“, nickte Butch. Er tippte Silk auf die Schulter und wies auf die Tür. Schon fast draußen, rief O'Reilly noch: „Grüßen Sie Ihren Freund von uns beiden. Und ... sollte er Sie mal versetzen - man weiß ja nie -, wir wohnen bei Tony Cantrell. Anruf genügt. Wir kommen ins Haus.“

Sie holten den Chevrolet weg von seinem kostbaren Parkplatz und hofften, zwei Straßen weiter noch mal soviel unverschämtes Glück zu haben. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Silk steuerte das Fahrzeug dreimal um denselben Block. Dann stellte er den Malibu in zweiter Spur ab. Butch grinste. „Das sage ich Harry Rollins, damit er’s an die Verkehrspolizei weiterleitet.“

Silk zuckte gleichgültig mit den Achseln. „Etwaige Strafmandate gehen an den Fahrzeugbesitzer. Und das ist Tony Cantrell.“

Während Butch ausstieg, sagte er: „Hör mal, wie finde ich dich denn? So was wie dich nennt man doch Parasit.“

„Du kannst gern den Block weiter umkreisen, während ich mir Sossiers Fotolabor ansehe“, feixte Silk.

„Wofür hältst du mich denn? Für ’nen Sputnik?“

„Dafür bist du zu schwer.“

„Jeder kann eben nicht ’ne Speiseröhre haben, die nach nirgendwohin führt“, knurrte Jack. Er warf die Tür zu. Der Wagenschlag schmatzte ins Schloss. Auf der anderen Seite dasselbe Geräusch. O'Reilly betrachtete die Fassade von Haus Nummer 4235. Die guten Zeiten waren hier längst vorbei. Die schlechten Zeiten gingen bereits ins zweite Dezennium. Das Haus war von der Steinpest befallen. Butch rümpfte die Nase. „So hoch das Pendel bei den Bellevue-Apartments nach oben ausschlägt, so tief schlägt es hier nach unten aus. Zu wenig und zu viel. Das ist des Narren Ziel!“ Sie begaben sich ins Haus. Jack rieb sich mit mürrischem Gesicht die Magenpartie. „Ich weiß nicht, wie’s dir geht. Ich habe Hunger.“

„Ich nicht“, sagte Silk.

„Jetzt bin ich sicher. Mit dir stimmt irgendetwas nicht.“

Vor ihnen lag ein düsterer Korridor. An dessen Ende eine ächzende Holztreppe. Silk sagte zu Butch: „Mach dich so leicht wie möglich, sonst kommen wir da nicht hinauf.“

„Soll ich Ballast abwerfen?“, knurrte Butch.

Silk grinste. „Wäre nicht übel.“

„Dann fliegst als Erster du!“, blaffte Jack. Die Treppe sah schwächer aus, als sie war. Sie gab zwar abenteuerliche Laute von sich, aber sie brach nicht, als sie von Silk und Butch belastet wurde. Hunderte Kinderhintern hatten das Geländer glatt poliert. Kinder, die heute erwachsen waren und selbst schon wieder Kinder hatten, denen sie es verboten, über solche Geländer zu rutschen. Oben gab es zwei Türen.

Vor der einen hing ein Vorhängeschloss. An der anderen stand Ludmilla Baker.

„Also ist es hier!“, sagte Butch. Er wies auf das Schloss.

Silk beugte sich darüber.

„Das Ding reicht nicht mal mehr zur Zierde!“, sagte Philby.

„Wieso nicht?“, fragte O'Reilly. „Kaputt. Wurde aufgebrochen.“ Plötzlich richtete sich der blonde Hüne wie ein Elefantenbulle auf, wenn er Witterung aufnimmt. „Sag mal, Silk, riechst du das nicht auch?“

Morton Philby nickte. „Brandgeruch!“

„Verdammt, es brennt!“, zischte O'Reilly. Er wies auf die Tür. „Und zwar da drinnen!“ Unter der Tür krochen die ersten Rauchschwaden heraus.

„Machst du mal ein bisschen Platz!“, knurrte Butch aufgeregt. Er warf sich gegen die Tür. Sie war der Aufprallwucht nicht gewachsen. Butch wog immerhin zwei Zentner. Die Tür flog zur Seite, als wäre ein Bus dagegengedonnert. Feuer tanzte vor ihnen. Gierige Flammen leckten ihnen entgegen. Butch fauchte gepresst: „Du kannst Micky Maus zu mir sagen, wenn der Brand nicht gelegt wurde.“

Mörderdutzend: 12 Thriller - Sammelband 1200 Seiten Krimi Spannung

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