Читать книгу Um Millionen - Mord inklusive! Berlin 1968 Kriminalroman Band 50 - A. F. Morland - Страница 6
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Оглавление‚Schießerei in Berlin wie einst in Chicago!‘
Die fette Balkenüberschrift der B.Z. sprang Bernd Schuster am Zeitungskiosk sofort ins Auge. Er war auf dem Weg zur Keithstraße, um seinen Freund, Inspektor Südermann, in einem aktuellen Fall aufzusuchen.
Kopfschüttelnd ließ er sich ein Exemplar geben und vertiefte sich sofort beim Gehen in die Lektüre. Typisch für die Tagespresse wurde hier wieder eine Geschichte mächtig aufgebauscht und übertrieben. Der Privatdetektiv hatte zwar damit nichts zu tun und war selbst im Laufe seiner Tätigkeit mehrfach gezwungen, seine Waffe zu ziehen – aber die Journalisten übertrieben doch mächtig.
West-Berlin mit seiner Sonderstellung hatte auch verschiedene Regelungen in Bezug auf das Waffengesetz. Und trotzdem gab es zahlreiche, nicht registrierte Schusswaffen, von denen viele noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten. Immer wieder fand man beim Räumen der Trümmergrundstücke intakte Waffen, darunter nicht nur Gewehre und Pistolen, sondern auch automatische Waffen, sogar Panzerfäuste und Minen. Die Kriminalstatistik des Vorjahres zeigte insgesamt mehr als eine Million Straftaten für die Bundesrepublik einschließlich West-Berlin.
Schuster betrat das Büro des Inspektors und legte ihm die Tageszeitung auf den Schreibtisch. Der Inspektor überflog nur kurz die Zeilen und machte dann eine abwehrende Handbewegung.
„Stelle dir nur mal vor, Bernd, dass wir in West-Berlin mit etwa zwei Millionen Einwohnern gut 120.000 Straftaten haben. Es kommt mir fast so vor, als hätte meine Abteilung mit mir alle allein aufklären müssen.“
„Na, na!“, antwortete der Privatdetektiv mit einem breiten Grinsen. „Du vergisst, dass etwa 98 Prozent der Straftaten durch mich aufgedeckt wurden.“
Inspektor Südermann tat, als würde er sich an seinem Kaffee verschlucken. „Gut, dass du mich daran erinnerst. Begleitest du mich zu meinem Treffen mit Lars Brandt?“
Schuster war mit dem Fall vertraut und stimmte sofort zu – schließlich war das der Grund für seinen frühen Besuch im Dezernat für Gewalt gegen Menschen.
Dass sie allerdings in der alten Fabrik bei ihrem Eintreffen einen sehr heißen Empfang bekamen, ahnte keiner der beiden. Beide wären jedoch froh gewesen, wenn sie nicht vollkommen allein auf sich gestellt wären, als die Maschinenpistole wieder losratterte. Aber das konnte keiner ahnen, denn eigentlich sollte es nur ein informatives Gespräch werden.
Jetzt hatten die beiden den Eindruck, mitten in eine Gangsterschlacht in einer der amerikanischen Städte geraten zu sein. Hatte die Tageszeitung doch wieder recht behalten?
Glaskaskaden flogen aus dem Fensterrahmen. Klimpernd und prasselnd verteilten sie sich über dem staubigen Boden.
Bernd Schuster zog den Kopf ein.
„Jetzt wird's ernst, Horst“, sagte er mit verbissener Miene zu Inspektor Südermann, der sich neben ihm in die Hocke begeben hatte.
Vor ihnen stand das schmutzig graue, endlos lange Gebilde einer aufgelassenen Fabrik. Bernd linste hinter seinem silbergrauen Mercedes hervor.
„Wollen wir es wagen, Inspektor?“, fragte er dann, während er seine Pistole sanft auf und ab wippen ließ. Südermann zog die Brauen missmutig zusammen.
„Wird sich wohl nicht vermeiden lassen. Immerhin ist der Kerl dort drinnen ein professioneller Killer, und ich bin Polizist. Deshalb gibt es für dieses verflucht heikle Problem nur eine Lösung: Ich muss rein in diese dämliche Fabrikhalle. Koste es, was es wolle. Ich muss rein und muss Lars Brandt herausholen.“
„Lars Brandt ist mit einer MPi bewaffnet. Und was er sonst noch bei sich trägt, entzieht sich unserer Kenntnis“, meinte Bernd Schuster.
Südermann ließ in seinem Gesicht Gewitterwolken aufziehen.
„Ich muss ihn da herausholen!“, knurrte er. Dann richtete er sich blitzschnell auf. Brandt sah ihn und zog sofort den Abzug der automatischen Waffe durch. Ein mörderisch hämmerndes Stakkato hallte durch das alle Gebäude. Bernd Schuster sah die glühenden Feuerlanzen, die aus der Maschinenpistole jagten, und feuerte mehrmals danach. Auch Horst Südermann versuchte einen alles regelnden Schuss anzubringen, doch Lars Brandt war kein Anfänger auf diesem Gebiet. Er wechselte unverzüglich die Position. Seine Schüsse kamen nun aus einem anderen Fenster. Trotzdem setzten Südermann und Schuster zum Sturmlauf an. Brandt wollte sie vom Gelände fegen. Er bestrich die Gegend mit tödlichen Garben, die Schuster und Südermann gefährlich knapp um die Ohren pfiffen. Doch die beiden anstürmenden Männer fanden zwischen den Kugeln immer wieder eine Lücke, durch die sie wieseln konnten. Mit weiten Sätzen jagten sie auf die Fabrikhalle zu.
Schuster war voran.
Südermann schnaufte hinter ihm her.
Nun hielt Lars Brandt seine MPi etwas tiefer. Ratternd ging sie wieder los. Bernd Schuster sah die Einschläge auf sich zurasen und federte reaktionsschnell zur Seite. Die Geschosse fegten pfeifend und zirpend an ihm vorbei.
Plötzlich ein unterdrückter Schrei. Bernds Kopfhaut zog sich schmerzhaft zusammen. Er wirbelte erschrocken herum. Südermanns Gesicht war verzerrt. Es war leichenblass geworden. Er fletschte die Zähne, wankte, fasste sich an den blutenden Oberschenkel, drehte sich unendlich langsam um die eigene Achse und knallte dann schwer auf den Boden, weil sich sein Bein störrisch weigerte, ihn weiter zu stützen.
„Horst!“, rief Bernd Schuster besorgt.
„Okay!“, stöhnte der Inspektor. „Ich bin okay. Lauf weiter, Bernd! Sonst erwischt er dich auch noch. Lauf weiter! Kümmere dich nicht um mich! Ich komm schon allein zurecht. Hol diesen schießwütigen Kerl da raus! Hol ihn für mich raus! Bernd, mach schnell! Schnell!“
Bernd Schuster fuhr mit granitharter Miene herum. Die Lippen fest aufeinandergepresst, setzte er zu einem geschmeidigen Panthersprung an. Südermann kroch ächzend zum Mercedes zurück.
Lars Brandt stieß seine automatische Waffe haargenau in Schusters Richtung. Er betätigte sie erneut doch Bernd hatte bereits den toten Winkel erreicht. Vorläufig war er vor den Kugeln des Verbrechers sicher.
Aber ihr Einsatz war noch nicht beendet. Der schwierigste Teil kam erst.
Bernd wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Herz hämmerte wie verrückt gegen die Rippen. Das Blut kochte förmlich in seinen Adern. Die Nerven vibrierten. ‚Kerle wie Lars Brandt sind so gefährlich wie eine ganze Kompanie Soldaten‘, dachte er. ‚Aber die, mit denen ich es als Feldjäger damals in Frankfurt zu tun hatte, schossen wenigstens nicht. Dafür schlugen sie gern mit allem zu, was ihnen in die Hände kam‘.
Schuster wiegte bedenklich den Kopf.
Junge, das konnte im wahrsten Sinne des Wortes verdammt ins Auge gehen.
Er kniff die Augen zusammen und starrte die halb offenstehende Eisentür an. Ein Schritt durch diese Tür konnte lebensgefährlich sein.
Bernd holte tief Luft. Was Lars Brandt dort drinnen inzwischen machte, konnte er sich gut vorstellen, obwohl er nicht den kleinsten Zipfel von ihm sehen konnte.
Brandt wartete nun mit seiner MPi auf die große Chance, den nächsten Gegner kaltblütig auszuschalten.
Mit einem blitzschnellen Tritt beförderte Bernd Schuster die Tür zur Seite. Sie schepperte und ächzte und gab schrille Laute von sich. Lars Brandt schoss schon, bevor Schuster sich in die Halle gehechtet hatte. Die Projektile schlugen rund um die Tür ein, rissen den Putz aus der schäbigen Mauer, ratschten über Beton und sirrten als gefährliche Querschläger davon.
Bernd Schuster flog wie katapultiert in die Halle hinein. Er riss den Kopf blitzschnell nach unten, krümmte gleichzeitig den Rücken, überschlug sich mit hart aufeinandergepressten Kiefern, wurde durch den Schwung nach vorn gerissen, wobei er über den Rücken abrollte und wie ein austrainierter Akrobat sogleich wieder auf die Beine kam. Nun rannte er vier Meter weit um sein Leben, während ihm Lars Brandts Waffe folgte. Mit den letzten Kraftreserven wuchtete Bernd seinen Körper hinter einen riesigen Metallkessel. Vier dumpf dröhnende Einschüsse zeigten, wie knapp er diesen Kugeln entgangen war.
Brandt fluchte über seine Pechsträhne.
Atemlos lehnte er sich an das kalte Metall. Nun schlug sein Herz hoch oben im Hals. Er lauschte, um zu hören, was Brandt nun machte, aber das Klopfen seines Herzens und das Pochen der heißen Schläfen machten es ihm nicht leicht, Geräusche von außerhalb wahrzunehmen. Sachte glitt er am Kessel entlang.
Putz knirschte unter Brandts Schuhen. Jetzt wusste Schuster genau, wo sich der Killer befand. Brandt hatte die Position gewechselt. Bernd hatte den Eindruck, der Verbrecher wollte sich absetzen.
„Brandt!“, schrie Bernd Schuster laut. Der Klang seiner Stimme wurde vom leeren Gebäude mit einem eindrucksvollen Hall verstärkt. „Geben Sie auf, Brandt! Hier kommen Sie ja doch nicht raus!“
„Abwarten, Schuster!“, schrie Brandt wütend zurück. „Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen! Südermann musste bereits die Segel streichen. Und wenn ich Ihre Nasenspitze sehe, sind auch Sie dran. Möchte bloß wissen, wer mich dann noch daran hindern sollte, von hier zu verduften.“
„Sie schaffen's nicht. Brandt! Nehmen Sie doch Vernunft an!“
„Wetten, dass ich ohne einen Kratzer wegkomme, Schuster? Sie hatten bisher verdammt viel Glück. Aber das hält sich nicht. Eine einzige Kugel kann alles ändern. Das wissen Sie. Ich nehme an, Sie haben bereits Schiss! Deshalb wollen Sie mich zur Aufgabe überreden, aber daraus wird nichts, mein Bester. Sie müssen schon um den Sieg kämpfen, und, verdammt, ich werde es Ihnen nicht leichtmachen!“
„Ich sage Ihnen zum letzten Mal, es ist nichts mehr drin für Sie, Brandt!“, rief Schuster mit angespannten Nerven.
Brandt lachte frostig.
„Ich will, dass Sie mir das beweisen!“
„Können Sie haben!“, schrie Bernd und federte urplötzlich hinter der Deckung hervor.
Lars Brandt stand auf einer Eisenbrücke, die gefährliche Waffe im Anschlag. Als Bernd auftauchte, drückte er ab. Schuster ging blitzschnell in die Hocke. Dadurch bot er den Kugeln nur wenig Ziel. Er stützte die Schusshand mit der Linken und zog dreimal kurz hintereinander wie beim Scheibenschießen durch. Zwei Kugeln streiften Brandt nur. Doch die dritte saß in der Brust des Verbrechers. Entsetzen weitete Lars Brandts wasserhelle Augen. Sein Gesicht wurde zu einer schmerzlichen Grimasse. Ungläubig starrte er auf das Loch in seiner Brust. Seine Finger erschlafften. Die Maschinenpistole wurde ihm zu schwer. Er konnte sie nicht mehr halten. Sie entfiel seinen Händen und klapperte von der Eisenbrücke herunter. Mit zitternden Händen klammerte er sich an das Geländer. Seine Knie wurden weich. Er knickte ein, doch er fiel nicht, sondern richtete sich trotzig wieder auf. Wankend schlich er über die Brücke, auf eine Eisenleiter zu. Er schleppte die Schuhe über den Metallboden, als wären sie mit Bleiplatten beschwert.
Schuster folgte ihm vorsichtig. Die Pistole behielt er in der Hand, denn gerade jetzt war Lars Brandt am gefährlichsten.
Mit federnden Schritten strebte Bernd der eisernen Brücke zu. Brandt hatte inzwischen die Leiter erreicht. Mit unsagbar matten Bewegungen griff er nach den Sprossen. Er wollte sie erklimmen, doch seine Kräfte reichten dazu nicht mehr aus. Leichenblass wandte er sich um.
Bernd stand nun am anderen Ende der Brücke.
Brandts Mienenspiel ließ deutlich erkennen. dass er begriffen hatte, wie es um ihn stand. Er wusste, dass er in eine Sackgasse geraten war, aus der es für ihn kein Entkommen mehr gab. Er wusste, dass er dieses Hasardspiel verloren hatte. Bernd Schuster war der bessere Mann gewesen. Brandt sah die Stationen im Geist, die nun vor ihm lagen: Krankenhaus, U-Haft, Gericht, Zuchthaus - und zwar lebenslänglich. Das hieß bis zum Tod.
‚Bis zum Tod!‘, dachte Lars Brandt, und es erfüllte ihn mit einer unbegreiflichen Freude, dass er es noch in der Hand hatte, wann die Stunde seines Todes sein sollte. Er entschied sich für diesen Augenblick.
Ehe es Bernd Schuster verhindern konnte, riss Brandt eine Handgranate aus der tiefen Innentasche seines Jacketts.
„Brandt!“, schrie Bernd erschrocken, als er begriff, was der Mann vorhatte.
Doch da hatte Brandt die Granate bereits mit einem spöttischen, geradezu triumphierenden Grinsen scharfgemacht.
„Noch drei Sekunden bis zur Ewigkeit, Schuster“, röchelte er, während er sich die Handgranate verkrampft an den Bauch presste. „Noch zwei, noch eine ...“
Ein ohrenbetäubender Donnerschlag erschütterte das aufgelassene Fabrikgebäude.
Bernd Schuster wandte sich angewidert um. Hier war für ihn nichts mehr zu tun.
Erschüttert verließ er die trostlose Halle.