Читать книгу Geheimnis Schiva 2 - A. Kaiden - Страница 10
ОглавлениеKapitel 6: Sonntag, 09:02 Uhr
Gelangweilt starrte Lara in ihren dampfenden Kaffee. Sie hatte den gesamten Samstag vergebens auf eine Nachricht von Sydney gewartet. Nicht, dass sie etwas Besseres zu tun gehabt hätte. Außer Lesen hatte sie keine Hobbys und um ihre Freunde abzuzählen brauchte es nicht mehr als eine Hand. Sie hatte so gehofft, dass er sich melden würde …
Ihre Mutter stand vom Frühstückstisch auf und begann, abzuräumen. Lara hasste das. Sie war noch nicht mal annähernd fertig, hatte kaum mit dem Essen begonnen und sie räumte einfach ab. Vermutlich meinte sie es nicht böse, aber gemütlich Frühstücken und wach werden war anders. Diese Hektik am Morgen … unnötig. Als ihre Eltern dann auch noch zu diskutieren anfingen, reichte es ihr. Sie stand auf, trug ihr Geschirr in die Spüle und beeilte sich wortlos, die Küche zu verlassen. Schnell lief sie in ihr Zimmer und stierte sehnsüchtig aus dem Fenster. Irgendwie hatte sie Fernweh.
In dem Moment vibrierte ihr Handy. Perplex stand sie eine Weile da, bis sie begriff und die eingegangene Nachricht der fremden Nummer las.
Hey Lara, wie geht‘s? Sorry, dass ich mich nicht schon früher gemeldet habe, doch bei mir war einiges los und viel zu klären. Hast du heute ein, zwei Stunden Zeit für mich?
Ihr Herz vollführte aufgeregte Sprünge. Er hatte sich tatsächlich noch gemeldet! Flink tippte sie eine Antwort ein und drückte auf senden.
Kein Ding. Wann und wo?
Wäre Karlsruhe für dich okay? Ich bin noch nicht lange hier und kenne mich nicht so aus. Falls du also ein gutes Café oder ne coole Bar / Bistro kennst ;)
Lara dachte kurz nach. Ihr Lieblingscafé war sonntags bestimmt keine gute Idee. Ansonsten fiel ihr auf Anhieb nur das große Bistro am Marktplatz ein, dessen Namen sie jedoch vergessen hatte.
Karlsruhe klingt gut. Direkt am Marktplatz an der Straßenbahnhaltestelle ist ein großes Lokal, in dem man Frühstücken, Kaffee trinken und Mittagessen kann.
Das klingt gut. Sagen wir so um zwei?
Geht klar. Bis dann.
Yo, see ya.
Lara begann zu strahlen. Auch wenn die Situation seltsam war und etwas nicht stimmte – endlich würde sie Antworten bekommen und nicht mehr ganz im Dunkeln tappen. Fröhlich suchte sie sich eine Zugverbindung heraus. Sie hatte zwar ein Auto, aber sie fuhr nicht gerne in die Innenstadt von Karlsruhe. Die Parkplatzsuche entwickelte sich immer zu einer Katastrophe. Abgesehen davon war sie ohnehin aufgeregt genug, da traute sie sich die Fahrt nicht zu. Sie hatte noch etwas Zeit, bis sie losmusste. Diese wollte sie nutzen, um sich Fragen zurechtzulegen. Immerhin wollte sie alle Zusammenhänge erfahren und verstehen. Ihre Haut begann vor freudiger Aufregung zu kribbeln. Entschlossen holte sie sich einen Notizzettel und einen Stift.
*
Natürlich kam die Straßenbahn viel zu spät. Zum Glück hatte sie einen großen Zeitpuffer eingeplant, sodass sie Punkt zwei Uhr am Marktplatz ausstieg. Sie brauchte nicht lange suchen, denn er stand schon vor dem Café und wartete auf sie. Als er sie sah, kam er ihr mit einem Lächeln entgegen. Er trug dieselbe Jeans wie am Freitag und ein Shirt von einem Rockfestival. Wieder fragte sie sich, ob er wirklich Sydney war.
„Hey Lara, schön, dass du gekommen bist. Sorry nochmal, dass ich mich erst heute Morgen gemeldet habe.“
Er nahm sie zur Begrüßung kurz in den Arm. Irgendwie so ganz und gar nicht wie Sydney.
„Ähm, ja. Kein Problem. Hat ja alles gepasst“, erwiderte sie nachdenklich und betrachtete ihn nochmals eingehend. Doch äußerlich gab es keinen Zweifel.
„Wollen wir erstmal reingehen? Ich lad dich auch ein, dafür dass du warten musstest.“
Er zwinkerte ihr versöhnlich zu und sie nickte.
„Da sag ich natürlich nicht nein.“
Gemeinsam betraten sie das Café und suchten sich einen etwas ruhigeren Platz in einer freien Ecke. Sie gaben ihre Bestellung auf und schwiegen sich eine Weile unschlüssig an. Vorhin hatte sie sich alles derart leicht ausgemalt und jetzt, wo er ihr gegenüber saß, hatte sie natürlich wieder Probleme, mit der Sprache herauszurücken. Dabei wirkte er viel netter. Warum war sie nur dermaßen ängstlich? Das nervte. Unruhig rutschte sie auf ihrem Platz hin und her.
„Würdest du mich kurz entschuldigen? Ich müsste dringend noch wohin …“
„Ah, klar doch.“
Vorsichtig stand sie auf und ging die Treppe nach oben zur Toilette. Die Situation war echt seltsam. Sie wusste einfach nicht, wie sie sich verhalten sollte. Es war nicht wie früher, als sie vor Sydney Angst hatte. Sie hatte keine Angst vor ihm. Allerdings wusste sie nichts über ihn. Er verhielt sich komplett anders. Er war irgendwie wie ausgewechselt …
Lara verließ gerade wieder die Treppe, als sie unsanft angerempelt wurde. Nicht schon wieder. Wurde das mittlerweile zur Gewohnheit? Peinlich berührt blickte sie auf, im Kopf eine Entschuldigung formulierend. Jedoch kam sie nicht dazu, diese auszusprechen. Denn als sie ihr Gegenüber erkannte, erstarrte sie auf der Stelle.
„Sieh mal an, wenn das nicht unsere Süße ist. Hat dir noch keiner gesagt, dass man die Augen aufmacht, wenn man läuft?!“
Ein gehässiges Grinsen machte sich in seinem Gesicht breit und Hieronymus kam selbstsicher einen Schritt auf sie zu. Aus Reflex sprang sie einen Schritt zurück. Damit war ihre Schockstarre gebrochen. Lara schnellte vor und wollte an ihm vorbei springen, doch er erkannte ihr Vorhaben und kam ihr zuvor. Mit einem Satz schob er sich ihr in den Weg und stieß sie hart zurück.
„Findest du das nicht unhöflich, dich einfach verpissen zu wollen, ohne mal Hallo zu sagen? Schon mal was von Begrüßung und so’n Zeug gehört?“
Er stützte sich mit seinem Arm am Türrahmen ab. Ein Vorbeikommen war unmöglich. Lara schluckte und versuchte, ihren zitternden Körper unter Kontrolle zu bekommen. Sie musste agieren, aber wie? Sie wusste nicht, wie sie sich am klügsten verhalten sollte.
„Ich … hallo. Lässt du mich … bitte vorbei?“, stotterte sie unsicher und erntete von ihm ein boshaftes Lachen. Natürlich rührte er sich keinen Millimeter.
„Ich soll dich vorbeilassen? Süß. Aber weißte was? Dazu hab ich keinen Bock. Meinste nicht, dass wir uns noch einiges zu erzählen haben?“
Seine Augen funkelten sie belustigt an und sie kam sich vor wie eine Fliege im Spinnennetz.
„Nein, ich … denke, nicht. Was willst du von mir?“
Lara traute sich nicht, ihn direkt anzusehen, und schaute unsicher zu Boden. Noch immer stand Hieronymus unverändert am Fleck und verhinderte somit ihre Flucht.
„Was ich will? Ganz einfach. Fangen wir mal damit an: was willst du hier?“
„Ich bin zum Kaffee trinken verabredet …“
„Verabredet? Mit wem? Du hast keine Freunde.“
Lara zuckte zusammen. Woher wusste er das? Er musst es geraten haben. Unmöglich konnte er dermaßen genau über ihr Privatleben Bescheid wissen, oder? Er bemerkte ihre Zweifel und kicherte triumphierend vor sich hin.
„Da hab ich wohl ins Schwarze getroffen, ʼne? Süße, also das ist jetzt wirklich nicht schwer zu erraten. Du bist so interessant wie der Arsch einer Kuh.“
Er musterte sie mit einem vernichtenden Blick, doch schon allein seine Worte reichten aus, um ihr Herz in zwei Teile zu zerreißen wie ein Blatt Papier. Sie fühlte sich klein wie ein Käfer und er war dabei, sie zu zertreten. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, brachte allerdings nur ein Krächzen heraus, was sein wölfisches Grinsen noch breiter werden ließ. Er stieß sich von der Wand ab und trat gefährlich nah an sie heran. Panik stieg in ihr auf und lähmte ihren Körper an Ort und Stelle. Auch, als er dicht vor ihr stand und sich zu ihr runter beugte. Sie spürte seinen Atem auf der Haut, als er ihr ins Ohr flüsterte: „Die Wahrheit tut weh, nicht wahr? Armes, dummes Mädchen. So gewöhnlich und unbedeutend. Wünschst du dir nicht auch manchmal, dass alles einfach endet?“
Er strich mit seinem Zeigefinger über ihre Wange. Lara zitterte wie Espenlaub und traute sich nicht, sich zu bewegen. Ihr war kalt und heiß zugleich. Ängstlich schloss sie ihre Augen, als seine Hand zu ihrer Kehle hinab glitt. Sie glaubte, ein Déjà-vu zu haben, als eine bekannte Stimme sie rettete.
„Hey, was tust du da? Lass sie in Ruhe!“
Sie hörte, wie sich schnelle Schritte näherten und Hieronymus stieß genervt die Luft aus.
„Sieh mal an, wer hat dich denn wieder ausgekotzt?“
„Ich meins ernst! Nimm deine dreckigen Pfoten von ihr!“
Lara bekam von Hieronymus einen Stoß und fiel unsanft gegen die Wand. Erst jetzt öffnete sie ihre Lider und erspähte ihren Retter.
„Hey, Lara, geht’s dir gut? Ist alles okay?“
Mark schob sich hartnäckig an Hieronymus vorbei und eilte an ihre Seite. Besorgt sah er sie an und sie konnte nicht anders, als stumm zu nicken. Sie konnte nicht fassen, dass auch er hier war. Es war einfach unglaublich.
„Jetzt chill mal! Als ob ich mir an dem Mauerblümchen die Finger schmutzig machen würde“, keifte Hieronymus und musterte Mark von oben bis unten. „Kommst dir jetzt wohl vor wie der Ritter in der goldenen Rüstung, wie? Wieso machst du’s nicht einfach wie deine liederliche Großmutter und verkriechst dich in dein Schneckenhäuschen?! Du Versager.“
„Lass meine Großmutter da raus, du hirnamputierter Volltrottel!“
„Sonst was, Blondschöpfchen?“
„Wirst schon sehen.“
Die zwei standen sich inzwischen dicht gegenüber und Lara meinte, die Spannung in der Luft sehen zu können. Nervös schaute sie sich um. Die anderen Gäste begannen sie zu beobachten und zu tuscheln, aber keiner machte Anstalten, einzugreifen.
„Du traust dich eh nicht, du Hosenscheisser!“
„Ach ja? Gib mir nur einen Grund …“
„Und dann, Marki-Boy? Du haust ohnehin wie ein Mädchen. Genauso gut könntest du meine Wange streicheln, du Lusche!“
Mark zuckte zusammen. Seine Augen wurden schmal und er hob drohend die Faust. Lara wich einen Schritt zurück. Sie wusste nicht warum, aber sie glaubte, dass Mark bei der Prügelei den Kürzeren ziehen würde. Hieronymus sah das wohl genauso, denn er grinste herausfordernd und baute sich provokant vor ihm auf.
„Lara, alles in Ordnung bei dir? Belästigen dich die beiden etwa?“
Sie hätte nicht froher sein können, als in dem Moment ihre Verabredung auftauchte und die Situation entschärfte. Auch Hieronymus und Mark wandten sich ihm zu und starrten ihn überrascht an.
„Das kann doch nicht …“, entfuhr es Hieronymus und sein Grinsen entgleiste.
„Du … du bist …“, murmelte Mark ungläubig und ließ seine Faust sinken.
„Hi, ich bin Allen. Und wer seid ihr? Kennen wir uns?“
Lara sah verwirrt zu Allen. Allen … kein Sydney. Das erklärte das komplett unterschiedliche Verhalten. Doch woher kannte Mark ihn?
„Nein, ich … du …“, stotterte Mark und sah ihn noch immer verblüfft an.
Hieronymus nutzte die Gelegenheit, schlängelte sich flink an ihnen vorbei und verschwand nach unten. Lara atmete erleichtert auf. Die Anspannung wich von ihrem Körper.
„Ich was?“, fragte Allen und wartete geduldig auf eine Antwort.
Mark holte tief Luft und brauchte einige Sekunden, bis er die Worte endlich aussprechen konnte.
„Du bist der Zwillingsbruder von Sydney!“
*
Sie saß mit Allen am Tisch des Cafés und wartete darauf, dass Mark zurückkehrte. Er war zum Telefonieren nach draußen gegangen. Sie versuchte noch immer, Marks Worte zu verdauen, und Allen schien es wohl genauso zu gehen. Obwohl … er wirkte gefasster als sie.
„Ist es wahr? Bist du Sydneys Bruder?“, fragte sie zögernd und er nickte.
„Ja, das bin ich wohl.“
„Das klingt nicht ganz überzeugt …“
„Ich habe ihn nie kennengelernt.“
Ihre Augen weiteten sich überrascht.
„Woher weißt du dann, dass … ich meine …“
„Ich habe das Tagebuch meiner Mutter gefunden. Ehrlich gesagt war ich nicht sicher, ob ich alles davon glauben sollte … eine andere Welt, Schiva … klang alles zu verrückt. Die Reaktion meiner Tante war auch seltsam, als ich sie darauf angesprochen habe. Ganz als Traum oder Lüge konnte ich ihre Tagebucheinträge also nicht stehen lassen. Ich wollte herausfinden, was davon wahr war und traf dabei auf dich. Als du mich dann eindeutig mit meinem Zwillingsbruder verwechselt hast, war ich mir sicher, dass meine Mutter nicht gelogen hat.“
Laras Kopf schwirrte. Sie hatte Probleme, seinen Worten zu folgen und die Puzzleteile zusammenzufügen.
„Heißt das, dass deine Mutter auch in Schiva war?“
„Ja, genau“, bestätigte Allen. „Meine Mutter ist beim Einschlafen irgendwie nach Schiva gelangt. Dort hatte sie meinen Vater kennengelernt und wurde mit Sydney und mir schwanger.“
Lara hing förmlich an seinen Lippen. Das war einfach unglaublich. Ungeduldig wartete sie darauf, dass er weiter erzählte, aber er schien in Gedanken vertieft zu sein. Konnte sie ihn herausreißen? Wahrscheinlich war das unhöflich, aber sie konnte nicht anders. Sie musste wissen, wie es weiterging.
„Was ist dann passiert? Wo sind deine Eltern jetzt? Warum bist du von Sydney getrennt?“
Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. Ganz kurz nur, doch lange genug, damit es Lara bemerkte. Sie bereute ihre Frage sogleich, denn sie erahnte die Antwort.
„Meine Mutter hat die Geburt nicht gut überstanden. Sie ist ein paar Wochen, nachdem Sydney und ich auf die Welt gekommen sind, verstorben. Wahrscheinlich hat die Sehnsucht nach meinem … oder unserem Vater ihrer Gesundheit noch mehr geschadet.“
Er fing ihren fragenden Blick auf und nickte.
„Ja, mein Vater ist nicht von dieser Welt. Er ist ein Bewohner Schivas. Er hat sich von meiner Mutter getrennt, als er erfahren hat, dass sie schwanger mit uns war. Er verbot ihr, nach Schiva zurückzukehren.“
Lara schüttelte den Kopf. Die Geschichte war traurig und Allen tat ihr leid. Sie empfand auf einmal sogar Mitleid für Sydney. Dennoch musste sie unweigerlich leicht grinsen. Das Verbot, nach Schiva zurückzukehren, kam ihr nur allzugut bekannt vor.
„Das hat wohl nicht funktioniert, oder?“
Er sah von seinem Espresso auf und nickte erneut.
„Richtig. Woher weißt du das?“
„Sagen wir mal, ich hab es geahnt, da es mir ähnlich erging.“
Allens Augen wurden groß und er stellte seine Tasse wieder auf den Tisch, die er gerade zum Trinken angehoben hatte.
„Du warst in Schiva?“
„Ja, mehr als einmal und auch mir wurde es nach einer Weile verboten. Genau genommen von Sydney, deinem Bruder.“
Seine Miene wurde für einen Moment starr, bevor er vor Freude zu Strahlen anfing.
„Du musst mir unbedingt alles erzählen. Von Schiva und vor allen Dingen von ihm.“
„Natürlich, alles was du willst“, gab sie mitfühlend zurück und spürte, wie Wärme ihre Wangen flutete. „Ähm … wie ging es eigentlich weiter? Ich meine, deine Mutter ist trotzdem noch nach Schiva. Konnte sie mit deinem Vater reden?“
Allen seufzte und trank seinen Espresso in einem Zug.
„Tja … laut Tagebuch ist er ihr aus dem Weg gegangen. Sie hat sehr darunter gelitten. Und nach der Geburt … sie hat uns in Schiva geboren. Die medizinische Versorgung war nicht sehr gut und nicht fortgeschritten. Sie musste zurück in ihre Welt. Sie konnte meinen Bruder und mich nicht gleichzeitig mitnehmen. Deswegen wollte sie zweimal kommen, um uns zu holen. Mich nahm sie als erstes mit. Sydney blieb bei unserem Vater. Als sie dann Sydney ein paar Stunden später holen wollte, ging es plötzlich nicht mehr. Egal wie oft sie es probierte, sie konnte auf einmal nicht mehr nach Schiva zurück. Ich bin mir nicht sicher, ob sie nicht einfach nur zu geschwächt war.“
„Nein, es lag an der Versiegelung.“
Allen und Lara drehten sich um, als hinter ihnen Marks Stimme erklang. Der steckte gerade sein Handy in seine ausgebleichten Jeans und setzte sich zu ihnen.
„Meine Großmutter hat mir davon erzählt. Es war eine der ersten Versiegelungen nach langer Zeit.“
„Aber warum wurde die gerade zu dem Zeitpunkt errichtet?“, fragte Lara traurig. „Allens und Sydneys Vater … hat er denn nichts gesagt?“
„Es tut mir leid, doch er war derjenige, der die Versiegelung angeordnet hat“, gestand Mark und senkte leicht den Kopf.
Laras Gedanken flogen wild umher. Allens Vater war für die Versiegelung zu dem damaligen Zeitpunkt verantwortlich? Obwohl er eindeutig wusste, dass die Mutter seiner Söhne und einer davon in der anderen Welt waren? Das würde ja bedeuten, dass er sie absichtlich getrennt hatte. Ein Schauer jagte ihr über den Rücken. Das war einfach zu grausam.
„Ich komm gerade nicht mit“, schaltete sich Allen sichtlich verwirrt ein, „was zum Henker meint ihr denn mit einer Versiegelung?“
Allen kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und wirkte ziemlich hilflos. Lara musste lächeln. Dass ein so großer Kerl dermaßen unbeholfen wirken konnte, war irgendwie süß. Wenn nur nicht diese frappierende Ähnlichkeit mit Sydney wäre.
„Versiegelung bedeutet bei uns, dass wir durch ein Ritual eine Sperre verhängen, damit keiner aus eurer Welt mehr nach Schiva gelangen kann“, erläuterte Mark sachlich.
„Und mein Vater hat dies veranlasst, obwohl mein Bruder bei ihm und ich bei meiner Mutter waren?“
„Offensichtlich … ja.“
Allen verstummte und starrte verbissen auf den Tisch. In Lara stieg das Bedürfnis auf, ihn tröstend in den Arm zu nehmen. Natürlich tat sie es nicht. Das wäre mehr als merkwürdig, oder etwa nicht?
Als ihr die Stille und Marks musternder Blick unangenehm wurden, versuchte sie, das Gespräch wieder aufzunehmen.
„Und wieso konnte er das ohne Widerstand veranlassen? Muss für solche Entscheidungen bei euch nicht abgestimmt werden oder so?“
Mark schüttelte entschieden den Kopf.
„Nein, damals nicht. Es wurde das gemacht, was das Oberhaupt von Schiva beschlossen hatte.“
„Ja, aber warum … oh“ Lara stockte, als sie eine Ahnung befiel.
„Er war Schivas Oberhaupt.“
Allens Miene verfinsterte sich augenblicklich und er schloss für einen Moment seine Lider. Als er sie wieder öffnete, blickte er Mark entschlossen an.
„Dann ist er schuldiger als ich angenommen hatte. Keine Ahnung, ob ich diesen Mistkerl wiedersehen möchte.“
Mark sah betroffen zu Seite und fuhr sich durch seine schulterlangen Haare.
„Na ja, das wirst du ohnehin nicht, denn … er ist schon einige Jahre tot.“
„Pfh …“, Allen ließ sich in die Lehne des Sitzes zurücksinken. „Selbst vor einer Konfrontation drückt sich der Penner. Ist doch echt zum Kotzen. So werde ich nie erfahren, was er sich dabei gedacht hat.“
„Was ist denn passiert? Ich meine, so alt wird er nicht gewesen sein, oder?“, fragte Lara und schaute Mark neugierig an.
„Mmh … ich glaube er dürfte ungefähr Mitte dreißig gewesen sein. Es gab damals schon einen Aufstand. Er ist dabei ums Leben gekommen. Seitdem hat Schiva kein Oberhaupt mehr und die Punks haben sich gebildet und gewütet.“
„Hey, steck uns doch nicht alle unter eine Decke. Das könnt ich glatt persönlich nehmen!“, erklang eine amüsierte Stimme hinter ihnen. Allen und Lara drehten sich zeitgleich um, während Mark nur eine abwinkende Handbewegung tätigte.
Zwei junge Männer kamen auf sie zu. Der hintere war ihr völlig unbekannt, aber der vordere ... Sie musterte ihn von oben bis unten und zurück. Springerstiefel, eng anliegende rot karierte Hosen mit Ketten, Nietengürtel, ein enganliegendes schwarzes T-Shirt mit einem roten Stern darauf, himmelblaue Augen und giftgrün gefärbte Haare. Die eine Seite abrasiert und die andere dafür umso strubbliger …
„Oh mein Gott … Kralle?“, japste Lara und erhob sich automatisch von ihrem Stuhl. Ihr Gegenüber fing an zu grinsen und nahm sie herzlich in die Arme.
„Hey, na? Wie geht es dir? Alles fit? Du hast die Haare anders, oder?“
„Gut, danke. Ich hoffe dir auch? Oh mein Gott, ich kann’s kaum glauben, dass du vor mir stehst. Nach vier Jahren … deine Haare sind auch anders. Und da sind ein oder zwei Piercings mehr als vorher, oder?“ Sie betrachtete sich ihn nochmal eingehender und nickte schließlich überzeugt.
„Du siehst noch genauso aus wie damals“, meinte Kralle lächelnd und ließ sie schließlich los. Sie ertappte sich dabei zu schnuppern, denn er musste ein gutriechendes Parfüm oder Aftershave benutzen, das sie an eine Wildwiese erinnerte.
„Das ist jetzt aber nicht gerade das, was man als Kompliment bezeichnet“, meldete sich seine Begleitung zu Wort, die Lara total vergessen hatte. Er war recht blass, hatte sandelholzbraune Augen und hellbraune Haare, die einen so wuscheligen Schopf bildeten, dass sie es kaum als Frisur bezeichnen konnte. Er trug dieselben Hosen wie Kralle, nur dass seine blau-schwarz kariert waren, und ein schwarzes Hemd, das seine Blässe noch mehr betonte. Im Gegensatz zu Kralle trug er abgewetzte Chucks.
„Nicht, wenn es bedeutet, dass sie noch immer so jung und frisch wie damals aussieht“, erwiderte Kralle und zwinkerte ihr zu.
„Mensch, du hast das Flirten nicht raus. Du hättest sagen müssen, dass sie in den vergangenen Jahren noch schöner geworden ist.“
Kralle lachte leise, aber herzhaft und schob seinen Begleiter nach vorne.
„Sorry, ich habe euch noch gar nicht vorgestellt. Lara, das ist Lycastus.“
„Hi, freut mich. Ich hab schon einiges von dir gehört.“ Er hob ihr eine ringbesetzte Hand entgegen und Lara starrte überrascht auf die tätowierten Finger, bevor sie seine Hand ergriff.
„Und du musst Allen sein. Krass, die Ähnlichkeit ist einfach gigantisch!“, meinte Kralle und begrüßte Sydneys Bruder. Lycastus tat es ihm gleich. Danach setzten sie sich erst einmal zu ihnen. Mark berichtete kurz vom Gesprächsverlauf, sodass die beiden auf demselben Stand waren.
„Dann hast du die beiden angerufen als du draußen warst?“, fragte Lara und Mark bejahte.
„Ist ja alles schön und gut, aber wer seid ihr jetzt eigentlich genau? Ich steh ziemlich auf dem Schlauch.“ Allen betrachtete sich die drei Bewohner aus Schiva näher.
„Oh Shit, sorry. Ganz vergessen. Wir gehören zur Fraktion von Sydney. Er ist unser Kumpel und Chef, sozusagen“, erklärte Kralle und Lycastus nickte gähnend.
„Und du?“ Allen wandte sich Mark zu. „Gehörst du auch dazu?“
Mark runzelte die Stirn und sah ihn verständnislos an.
„Gewissermaßen ja. Wir stehen auf derselben Seite. Wieso?“
„Na ja, du passt äußerlich so ganz und gar nicht dazu …“
Lara musste grinsen und verkniff sich ein Prusten. Mark reagierte sogleich, wie sie es erwartet hatte. In der Hinsicht schien sich rein gar nichts geändert zu haben.
„Ich bin doch kein verfluchter Punk! Gott bewahre. Wir kämpfen nur gemeinsam für dieselbe Sache.“
„Er spuckt das wieder dermaßen verachtend aus ... Alter, ich schwör, ich hau dir gleich eine rein“, knurrte Lycastus und schaute Mark genervt an. Kralle nahm seine Aussage relativ gelassen hin. Er zuckte mit den Schultern und schüttelte nur leicht den Kopf.
„Wer ist eigentlich dieser Hieronymus?“, unterbrach Lara die unangenehme Situation, bevor Mark noch etwas sagen konnte, das die Stimmung verschlechterte.
Kralle und Lycastus sahen sich einen Moment lang an, dann nickten sie schließlich im Einklang.
„Hieronymus ist Rubens Nachfolger. Er leitet Rebellen anstatt seiner. Er war vorher einer seiner Untergebenen. Sie stehen noch immer im Dienst von Lucie und Amboss und erledigen die Drecksarbeit für die Wirtsleute.“
„Jeder, wie er es gern hat“, kommentierte Lycastus die Erläuterung von Kralle und grinste. „Apropos gern haben … ich glaube, wir müssen langsam los.“
Mark und Kralle warfen einen flüchtigen Blick auf die Wanduhr und standen eilig auf.
„Du hast recht. Sorry Leute, wir müssen. Sonst kommen wir zu spät und verpassen den Zug“, entschuldigte sich Kralle.
„Ihr könnt doch jetzt nicht einfach gehen!“, rief Allen und sprang, ebenso wie Lara, auf. „Ihr habt mehr Fragen aufgeworfen, als beantwortet.“
„Ja, zum Beispiel, wie es sein kann, dass ihr hier seid. Ich dachte, ihr könnt nicht in meine Welt und ihr hättet Lucies und Ambosses Plan vereitelt. Wie kommt es dann, dass ihr hier seid?“
„Tschuldige, aber wir müssen wirklich los. Ein andermal, ja?“, mischte sich Mark ein. Er wartete keine Antwort ab und begab sich zügig zur Kasse und zum Ausgang.
„Hier“, Kralle reichte ihr einen Zettel und lächelte ihr aufmunternd zu. „Ich geb dir meine Nummer. Schreib mich an, damit ich deine habe, und lass uns nochmal in Ruhe treffen. Du auch.“ Damit nickte er Allen zu und folgte Lycastus und Mark nach draußen.