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Marias Geburt

An jenem Tag war das Wetter sehr schön. Nur der Gipfel des Säntis steckte in den Wolken. Alles strahlte weiss. Ueli holte den Schlitten hervor und machte sich bereit, im Wald nach frischen Kratzbeerblättern für die Lämmer zu suchen. Rösli meinte beharrlich: «Ich habe im Haus nichts weiter zu tun, ich komme mit.» Ihre Hochzeit war gerade neun Monate her, doch nach ihren Berechnungen war es noch etwa einen Monat Zeit bis zur Geburt. Sie war vergleichsweise klein und mit ihrem dicken Bauch nun fast so hoch wie breit – fast so rund wie die Heuballen, die man von den Bergen nach unten rollte. Trotz ihres Zustandes verrichtete sie unermüdlich alle Hausarbeit der gesamten Familie Kurt und noch dazu die des Pfarrers, ohne dass etwas liegen blieb. Und obendrein war heute ihr Geburtstag. Sie wurde siebzehn. Als Einziger hatte Pfarrer Johannes an ihren Geburtstag gedacht. Zeitig früh hatte er Ueli eine Karte gegeben, auf die er ein Gebet und Glückwünsche geschrieben hatte und die Ueli seiner Frau vorlesen sollte. Dadurch wurde Ueli an den Geburtstag seiner Frau erinnert.

«Du bist hochschwanger. Bleib bei dieser Kälte doch lieber zu Hause. Leg dich ein bisschen hin, ruh dich aus. Heute ist ja schliesslich dein Geburtstag!», protestierte Ueli zwar, aber Rösli liess sich nichts sagen. Sie meinte, ein bisschen Bewegung täte ihr gut, und blieb stur. Gemächlichen Schritts machten sie sich in Richtung Wald auf. Teils ging Rösli selbst, auf ebenen Strecken zog Ueli sie mit dem Schlitten. Im Wald lag weniger Schnee. Rösli setzte sich und beobachtete eine Zeit lang ihren Mann dabei, wie er unter dem Schnee die Kratzbeerblätter abschnitt. Dann türmte er das frische Grün auf den Schlitten. Auf einmal bemerkte Rösli Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen und spürte einen heftigen Schmerz. Ueli hörte sie schreien und rannte gleich hin. Rat- und sprachlos stand er da.

«Ueli, ich glaube, unser Kind kommt! Ich hab schreckliches Bauchweh. Jetzt hilft nur, zu Gott zu beten. Lieber Gott im Himmel! Allmächtiger, steh mir bei! Mach, dass unser Kind gesund geboren wird. Nur mit Deiner Hilfe kann ich es hier im kalten Wald zur Welt bringen. Deine Allmacht und Deine Kraft lässt alles nach Deinem Willen geschehen. Hilf mir, dass mein Kind gesund auf die Welt kommt! Lieber Gott, steh mir bei!»

Anfangs flüsterte Rösli ihr Gebet noch, dann schrie sie es plötzlich laut heraus. Das versetzte Ueli noch mehr in Angst und Schrecken. Er schaute sich eilig um und stiess insgeheim einen Fluch aus. Doch dann schämte er sich geflucht zu haben, während seine Frau betete, und bat Gott um Verzeihung. Ueli Kurt war gerade siebzehn Jahre alt geworden. Bisher hatte er bloss miterlebt, wie im Stall Schafe und Ziegen geboren wurden. Und dabei hatte er nur verschämt mit vors Gesicht gehaltenen Händen zugeschaut. Wie verhielt sich eine Frau, wenn sie gebar? Wie konnte man ihr beistehen? Er war da völlig ahnungslos. Einige Zeit stapfte er hilflos im Schnee hin und her wie ein nervöses Pferd. Dann schlug er Rösli vor, sie auf dem Rücken nach Hause zu tragen oder auf dem Schlitten zu ziehen.

Aber Rösli meinte: «Ich kann nirgendwo hingehen, ich bringe mein Kind hier zur Welt. Geh du und hol die Hebamme!» Ihre Stimme zitterte, und ihr Gesicht war knallrot angelaufen. Vor Schmerzen presste sie sich beide Hände fest gegen den Bauch.

«Mein Gott, wie kann ich dich denn hier allein lassen? Lieber Gott, ich fleh dich an, steh mir bei!»

Zwischen den Bäumen hindurch kämpfte er sich durch den Schnee. Als die Bäume aufhörten, wurde der Schnee tiefer. Er kam nur noch mit Mühe voran, aber als er es bis zu einer Stelle geschafft hatte, von der aus man das Dorf sehen konnte, holte er so tief Luft, wie er konnte, und stiess einen schrillen, langen Pfiff aus. Nach kurzer Zeit wurde aus dem Dorf mit einem Pfiff geantwortet. Das war sein Grossvater. Ueli war sich sicher, dass er die Nachricht verstanden hatte. Aus der Ferne konnte er sehen, dass im Dorf plötzlich ein hektisches Gerenne ausgebrochen war. Bald schon machten sich einige Dorfbewohner zum Kleinberg auf. Ueli rannte zu Rösli zurück.

«Alles in Ordnung. Sie kommen. Grossvater hat mich gehört. Er hat ganz bestimmt verstanden, was los ist.»

Er zog Jacke und Pullover aus und breitete beides über den frisch geschnittenen Kratzbeerblättern aus, um ein Lager zu richten. Verzweifelt sah er Rösli an, wenn er ihre Schmerzensschreie hörte. Er zitterte. Rösli betete weiter und rieb sich gleichzeitig Gesicht und Brust mit Schnee ein. Blut quoll ihr zwischen den Beinen hervor und färbte den Schnee rot. Ratlos stand Ueli da und betete leise.

Endlich tauchten ein paar Frauen aus dem Dorf auf, unter ihnen die Hebamme, seine und Röslis Mutter. Sie brachten Krüge voll Wasser, Tücher und runde Holzschüsseln mit.

Die Hebamme zischte Ueli an: «Seid ihr denn übergeschnappt? Was hat eine hochschwangere Frau bloss im Wald verloren? Grosser Gott, vergib ihnen ihren Leichtsinn und ihre Dummheit! Geh du jetzt zu den Männern. Wenn ich dich rufe, kannst du kommen.»

Die Ältesten der Familie Kurt und einige Dorfleute warteten mit einer hölzernen Trage. Uelis Grossvater streckte ihm die Flasche mit dem Schnaps entgegen: «Junge, du kannst jetzt einen kräftigen Schluck gebrauchen. Gott sei Dank habt ihr mir gesagt, dass Rösli mit dir in den Wald geht. Als ich deinen aufgeregten, schrillen Pfiff gehört habe, wusste ich gleich, dass ihr die Hebamme braucht. Gott ist voller Gnade und hilft den Bedürftigen.»

Ueli trank den Schnaps in grossen Schlucken, bis es ihn im Hals brannte und ihm überall heiss wurde. Der Grossvater nahm einen Gulden aus der Tasche und sagte ihm, den solle er der Hebamme geben.

Nach einer Weile rief die Frau: «Bringt die Trage her!» Sie rannten hin. Mit energischer Stimme sprach die Hebamme: «Ihr habt eine Tochter bekommen. Gott hat ein Licht in euer Leben gebracht.» Ueli wusste nicht, was er sagen sollte, griff nach der Hand der Hebamme und wollte ihr den Gulden hineindrücken, aber die Frau flüsterte: «Behalt dein Geld. Du bist jetzt Vater und wirst es brauchen. Komm mal bei mir vorbei. Ich brauche ein, zwei Bretter in meinen Schrank. Die machst du mir, dann sind wir quitt.»

Der Säugling war regelrecht zum Paket gewickelt und lag zwischen Röslis Brüsten. Die Hebamme meinte: «Tragt die beiden ganz geschwind ans warme Feuer, sonst wird keins von beiden überleben.» Dann wandte sie sich zu Uelis Mutter Anna Maria und sagte: «Geh du schnell voraus und schür kräftig das Feuer. Koch eine Milchsuppe mit Reis und mach viel Wasser warm.»

Anna Maria verschwand wie der Blitz.

Vier Männer schulterten die Trage. Behutsam, aber doch so schnell wie möglich gingen sie uf dem verschneiten, gewundenen Pfad zum Dorf. Einer der vier Träger rief: «Meine Herren, wir tragen doch keinen Toten! Heute ist ein schöner Tag, denn wieder wurde im Wald auf dem Kleinberg ein Kind geboren. Singen wir ein Lied!» Dann machte er gleich selbst den Anfang:

«Vor em Hüüsli of de Stege

singid ali, grooss ond chlii,

ond de Vollmoo geed de Sege

met sim milde Silberschii.

Monter chlingled ääs am ääne,

s Singe macht äm nomme müed.

S ischt so fiirlig, chöntntischt määne,

s chäm en Bsuech os jedem Lied.

Singid, singid ohni Note,

was das Herz mag use gee!

Jo, globs, du heschs verroote,

s chönntid Engel om üs see.»

Von der Trage vernahm man das gedämpfte Weinen des Neugeborenen und Röslis Stöhnen. Viele Dorfleute, die von dem Vorfall gehört hatten, kamen ihnen mit Decken entgegen, um Rösli warm zuzudecken. Andere Männer lösten die Träger ab.

Unterwegs legte die Hebamme Ueli die Hand auf die Schulter und murmelte: «Gott hat dir eine Tochter geschenkt. Gottes Gaben muss man annehmen, so wie sie sind. Wir müssen zu Ihm beten, um Ihm zu danken. Wir Knechte Gottes können den Wert Seiner Gaben nicht beurteilen. Unsere Pflicht ist es, sie mit Freude anzunehmen und Ihm dafür zu danken. Unsere Aufgabe ist es, dieses Geschenk in unsere Obhut zu nehmen, es zu behüten und zu lieben. Gott liebt und beschützt uns genauso sehr, wie wir seine Gabe lieben und beschützen.» Dann betete sie leise weiter.

Man trug Rösli und das Neugeborene bis zu ihrem Haus, das am Geissenpfad lag. Sie hatten darin drei Zimmer. Beim Ofen stand die Wiege bereit, die Ueli für sein Kind gebaut hatte. Als man das Kind hineinlegte, konnte Ueli zum ersten Mal sein Gesicht sehen.

«Mein Gott, was hat sie für lange Haare!»

Rösli flüsterte: «Du kannst Maria zu ihr sagen.»

«Weine nicht, Maria, mein schönes Schneeglöckchen!» Ueli beugte den Zeigefinger, um die Wangen des Säuglings zu streicheln. Erst eine Woche war vergangen, seit sie in dieses Haus eingezogen waren, und es fehlte noch an vielem. Das Haus war vom harzigen Geruch der Holztäfelung erfüllt. Der Grossvater hatte dem jungen Paar einen guten Ofen aus dickem Gusseisen geschenkt. Was einem im Innern des Hauses aber ins Auge stach, waren der Holztisch und die Stühle, die Wiege und der noch unfertige Kleiderschrank – Möbelstücke, die Ueli sämtlich selbst angefertigt hatte. Seit Tagen arbeitete er nur an diesem Schrank, denn ansonsten gab es für ihn nicht viel zu tun. Auf einem der beiden viereckigen Felder in der Mitte der Türen befand sich das Bild einer Kirche mit Bergen im Hintergrund. Auf dem anderen waren Männer in der Tracht beim Alpaufzug abgebildet. Sie trugen en gebogenen Schellenstecken über der Schulter, an dessen beiden Enden riesige Schellen baumelten. Alle Männer hatten rote Westen an und trugen mit Kuhmotiven verzierte Hosenträger. Wenn Ueli an dem Schrank schnitzte, liess er seiner Fantasie freien Lauf, und das bereitete ihm grosses Vergnügen. Den kleinsten Einzelheiten widmete er stundenlange Arbeit.

Später am Tag von Marias Geburt nahm die Hebamme ihn zur Seite und sagte: «Du musst zwei Wochen lang im Elternhaus wohnen. Ich bleibe mit euren beiden Müttern hier. Rösli und das Kind brauchen uns. Es reicht, wenn du uns genug Brennholz und Wasser bringst.»

Eine Woche nach Marias Geburt eröffnete der Grossvater ihm: «Sieh mal, mein Junge. Maria ist nicht ganz gesund geboren worden. Die Hebamme hat gesagt, dass ihre Beine nicht richtig entwickelt sind. Sie wird nie laufen können. Vielleicht überlebt sie nicht. Wir müssen akzeptieren, was Gott uns gegeben hat. Das Einzige, was wir tun können, ist beten. Eine andere Wahl haben wir nicht. Alles kommt von Gott, alles geht zu Gott. Wir müssen Gott für alles danken, was er uns gibt. Du weisst ja, dass diese Geburt deine Frau sehr mitgenommen hat und dass wir auch für sie beten müssen.»

Ueli rannte sofort zu seinem Haus am Geissenpfad. Er löste Marias gewickelte Beine, betastete sie und küsste sie. Die Frauen im Raum beobachteten ihn staunend. Rösli lag erschöpft im Bett. Sie konnte die Erregung und Sorge ihres Mannes nachvollziehen. «Gott steh uns bei, denn es ist unser Kind. Der Allmächtige hat es uns gegeben», murmelte sie und blickte ihm eindringlich in die Augen.

Ueli wollte an Röslis Bett treten und ihre Hand halten, aber weil die Frauen im Raum ihre Augen an ihn geheftet hatten, liess er es sein. Stattdessen rannte er zurück ins andere Haus zu seinem Grossvater. Der alte Mann sass am Ofen und war damit beschäftigt, aus Tannenholz kleine Kühe zu schnitzen.

«Sag, Grossvater, ist die Kleine behindert, weil sie im Wald geboren wurde?»

Der Grossvater hob die Späne auf, die sich am Boden angesammelt hatten und warf sie in den Ofen. Die Flammen loderten auf, und der Geruch nach Tannenholz verbreitet sich im Raum. «Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Das halbe Dorf ist im Stall oder im Wald geboren. Auch dein eigener Vater kam in der Hütte auf der Schwägalp zur Welt. Und die Hebamme war noch dazu ich. Oder nein, das stimmt eigentlich nicht. Ich hatte Angst und habe eine Nachbarin aus der Hütte auf dem Berg weiter oben gerufen. Alles geschieht nach Gottes Willen. Maria wurde zu früh geboren, sie ist nicht voll entwickelt und deshalb behindert. Aber sagen wir besser trotzdem, dass Gott es so gewollt hat.»

«Warum sagen wir immer, wenn uns etwas Schlechtes zustösst, Gott hat es so gewollt? Warum macht Gott uns das Leben nur schwer statt leichter, statt uns zu beschützen? Ist Gott für die vielen schlimmen Dinge verantwortlich, die passieren? Bedeutet das denn nicht, Gott zu beschuldigen?»

«Sieh mal, mein Junge. Gott hat uns reichlich Brennholz gegeben, aber es ist im Wald. Wir müssen es holen, sonst erfrieren wir. Das Holz kommt nicht von alleine her. Wenn wir im Wald Holz fällen, kann es uns passieren, dass wir einen Arm oder ein Bein verlieren. Oder wenn man einen Haufen schweres Holz auf dem Buckel schleppt, kann man ausrutschen und von dem Holz erschlagen werden. Das alles geschieht mit Gottes Billigung.»

Manchmal verstand Ueli überhaupt nicht, was sein Grossvater sagen wollte. Trotzdem nickte er zustimmend mit dem Kopf. «Hm, ja. Wenn wir das Holz nicht im Wald holen, bestraft uns Gott, indem er uns vor Kälte erfrieren lässt. Wenn wir einen gesunden Baum fällen, bestraft Gott uns auch. Hast du das gemeint?»

Der Grossvater klemmte sich den Stumpen zwischen die Zähne und murmelte kaum verständlich etwas Zustimmendes: «Genau so hab ich das gemeint.»

Im Ofen knisterten die Tannenscheite. Der alte Mann schnitzte nun wieder an der kleinen Kuhfigur, die er fest mit der linken Hand umklammert hatte.

Auch Ueli Kurt zog das Klappmesser hervor und machte sich daran, eine Kuh aus den Tannenholzstücken zu schnitzen, die der Grossvater bereitgelegt hatte. Es machte ihm grossen Spass, die kleinen Holzstücke in der Hand zu halten und daraus eine Kuh entstehen zu lassen. Beim Schnitzen mit dem kleinen Klappmesser konnte er stundenlang die Gedanken schweifen lassen. Doch eine seiner allerliebsten Beschäftigungen war es, je nach Lust und Laune etwas in das braune Heft zu notieren, das er ständig bei sich trug. Manchmal brachte er viele Stunden damit zu, die treffenden Worte zu suchen, um seine alltäglichen Erlebnisse dem Heft zu überantworten.

Sein Grossvater hatte einmal gesagt: «Dieses Heft ist dein Zwillingsbruder. Es weicht dir nicht von der Seite und denkt vielleicht dasselbe wie du. Mich würde schon sehr interessieren, was da für Geschichten drinstehen. Warum lässt du es niemanden lesen?»

Uelis Antwort war immer gleich: «Lass gut sein, Grossvater. Das ist eine kleine Welt, die ich mir auf dem Papier gebaut habe. Ich möchte nicht, dass jemand dort eindringt, und das kann sogar der Mensch nicht ändern, den ich am meisten lieb hab, nämlich du.»

Mit der Zeit akzeptierte der Grossvater Uelis Entscheidung und gab die Hoffnung auf, in dem Heft lesen zu dürfen. Er wurde sogar – neben Ueli selbst – zum grössten Beschützer des Tagebuchs. Wenn der Enkel es einmal an einem Ort liegen liess, an dem sie zusammengearbeitet hatten, war die erste Tat des Grossvaters, das braune Heft an sich zu nehmen und es dem Enkel auszuhändigen.

Auch Rösli war sehr neugierig auf den Inhalt des Hefts. «Was hast du bloss davon, den ganzen Tag etwas in das Heft zu schreiben? Manchmal denke ich, du schreibst von deiner Liebe zu Julia! Woher soll ich wissen, dass das nicht stimmt? Los, sag, hab ich etwa Unrecht? Oder stimmt es nicht, dass du dieses hochnäsige, herausgeputzte Mädchen mehr liebst als mich? Mich liebst du ja gar nicht. Anstatt in diesem Heft herumzukritzeln würdest du besser in der Heiligen Schrift lesen! Dann würdest du wenigstens von Gott erleuchtet und könntest auch mich erleuchten. Für mich ist es schwer, dass ich nicht in die Schule gegangen bin und nicht lesen kann. Dabei würde ich so gern in der Bibel lesen. Und ich möchte wissen, was du in das Heft kritzelst. Der einzige Grund, warum ich so im Hintertreffen bin, ist mein Vater. Wenn er nicht gedacht hätte, wozu soll ein Mädchen denn lesen und schreiben lernen, das hilft ihr doch nicht bei der Arbeit, sondern mich zur Schule geschickt hätte, könnte ich die Heilige Schrift und dein Heft lesen», beklagte sie sich.

Nach Marias Geburt begann eine schwere Zeit für das junge Paar. Maria entwickelte sich schlecht, wuchs nur langsam und war ständig krank. Sie bekam schwer Luft. Uelis Mutter kochte Tee aus allen möglichen Kräutern, die sie in den Bergen sammelte, und flösste ihn Maria ein. Ueli versuchte, die Leiden des Töchterchens zu lindern, indem er in den nächstgelegenen grösseren Ortschaften, Appenzell und Herisau, von Arzt zu Arzt lief und keinen Mönch oder Naturheiler ausliess. Jeder, an den er sich in seiner Not wandte, meinte, er hätte als Einziger das Patentrezept, um das Kind zu heilen. Ihnen allen musste Ueli Geld geben, und das war schwer. Deswegen schleppte er neben dem Kind noch Stühle und Schemel, geschnitzte Kühe und andere Tierfiguren auf dem Rücken mit, um sie den Heilern als Lohn anzubieten. Es gab sowieso wenig Arbeit für Zimmerleute und Schreiner, und die paar Gulden, die er verdiente, reichten nicht einmal, um die Familie satt zu bekommen.

Der Tod des Grossvaters war für Ueli Kurt ein schwerer Schlag. Er war ihm Freund und Meister, einfach alles gewesen. Ihm kam es vor, als sei ihm die Orientierung im Leben abhandengekommen. Der Ast war gebrochen, an dem er sich festhielt, der Pfad verschwunden, auf dem er ging; es war, als sei er mutterseelenallein in einer Einöde zurückgeblieben.

Als Ueli klein war, versammelten sich an kalten Wintertagen alle Kinder der ganzen Sippe um den Grossvater, um atemlos den Geschichten zu lauschen, die er erzählte. Uelis Mutter konnte ihren Kindern keine Geschichten erzählen, weil sie stotterte. Aber der Grossvater imitierte beim Erzählen die Stimmen von Mensch und Tieren aller Art und zog die Zuhörer in seinen Bann. Doch der Grossvater hatte Ueli nicht nur Geschichten erzählt und sein Handwerk gelehrt, sondern ihn auch in allen Facetten in die Geheimnisse des Lebens eingeführt. Zeitlebens hatte Ueli alles Erdenkliche von ihm gelernt. Der Grossvater wurde niemals müde, sein ganzes Wissen wieder und wieder vor dem Enkel auszubreiten. Wenn er über die Geheimnisse des Handwerks sprach, pflegte er zu sagen: «Was du bei mir lernst, sind keine unverrückbaren Gesetze der Zimmerei und Schreinerei. Es liegt in deiner Hand, das Handwerk weiterzuentwickeln, und das kannst du so tun, wie es dir richtig erscheint. Das ist der goldene Weg zum Erfolg. Führe das, was du von anderen gelernt hast, so aus, wie es dein Gespür dir sagt. Lass nicht zu, dass andere sich da einmischen. Aber vergiss nicht: Wir sind nicht die besten Experten auf unserem Gebiet. Es gibt Leute, die es noch besser können. Hör auf sie und nutze ihr Wissen und Können für dich. Und tu deine Arbeit nicht nur für Geld. Tu sie mit deiner ganzen Seele und werde glücklich dabei. Sei mit Freude bei der Arbeit. Und vergiss auch das nicht: Du musst dich daran gewöhnen, dass deine Arbeit dir nicht viel Geld ins Haus bringt. Deine Frau wird dann meckern und dir den Kopf voll schwatzen, daran musst du dich gewöhnen. Du musst lernen, dass dir solches Genörgel zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hinausgeht.»

Der schlagende Beweis dafür, dass der Grossvater lebenslang nicht um des Geldes willen gearbeitet hatte, war der Menschenauflauf anlässlich seiner Beerdigung. Nicht nur aus den nahe gelegenen Dörfern, auch aus entfernteren Ortschaften strömten die Menschen herbei. In Urnäsch erlebte man einen solchen Andrang zum ersten Mal. Kutschen und Pferde fanden keinen Platz mehr zum Halten.

Pfarrer Johannes eröffnete seine lange Ansprache mit den Worten: «Zum ersten Mal erlebe ich, dass jemand in solch einer grossen Trauergemeinde beigesetzt wird. Der Grund dafür ist, dass es in der ganzen Gegend kein Haus gibt, in das der Zimmermann Kurt keinen Nagel geschlagen hätte, und dass der materielle Gewinn für ihn nicht im Vordergrund stand. Das ist die höchste Gnade, die man von Gott empfangen kann. Möge Gott uns allen gnädig sein. Trotz dieses Regenwetters seid ihr aus grosser Ferne zu dieser Trauerfeier gekommen. Gott hat euch mit den Wohltaten des Zimmermanns Kurt beschenkt, und Gottes Lohn ist der höchste Lohn. Möge Er uns allen einen solchen Abschied bescheren.» Da der Pfarrer nun schon einmal einer so grossen Gemeinde gegenüberstand, nutzte er die Gelegenheit für eine sehr, sehr lange Predigt.

Maria war gerade vier, Ueli zwanzig Jahre alt geworden. Zuletzt hatte Ueli zwei Jahre zuvor im kleinen Ort Heiden den Doktor Leuenberger aufgesucht. Dank des Sirups, den der Arzt dem Kind gegeben hatte, waren ihre Atemwegprobleme verschwunden. Lediglich die Schmerzen in ihren verkrüppelten Beinen nahmen von Zeit zu Zeit ein unerträgliches Ausmass an. Die beste Behandlung waren Umschläge aus Maismehl nach dem Rezept von Uelis Grossmutter. Sobald die Schmerzen häufiger auftraten, wurden diese Umschläge gemacht.

Maria war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Das kräftige, blonde Haar fiel ihr über die blauen Augen und die gerade Nase wie ein Vorhang, der ihr Gesicht verbarg. Trotz ihrer Gehbehinderung konnte sie – dank der Knieschoner, die Doktor Leuenberger ihr gegeben hatte – auf Berge rutschen, Brennholz sammeln, die Kuh melken und ihrer Mutter bei Hausarbeiten aller Art zur Hand gehen. Morgens stand sie in aller Herrgottsfrühe auf und noch bevor ihre Eltern aus den Federn kamen, beobachtete sie die Umgebung, um später in allen Einzelheiten zu berichten, wer vorbeigegangen war und wessen Kühe oder sonstiges Vieh schon in den Wald getrieben worden war. Am liebsten hätte sie den ganzen Tag im Freien verbracht. Wenn es regnete und sie nicht nach draussen konnte, sass sie vor dem zum Bach gelegenen Küchenfenster und sah stundenlang dem dahinfliessenden Wasser zu. Gab es Hochwasser, schrie sie jedes Mal auf, wenn Baumstämme vorbeitrieben, womit sie ihre Mutter heftig erschreckte. Hinter dem Haarvorhang spielte stets ein heimliches Lächeln um ihren Mund. Sie hatte einen unglaublichen Verstand. Von der Herstellung von Käse über Butter bis hin zum Brotteig erteilte sie ihrer Mutter Lektionen, wie man diese Nahrungsmittel schmackhafter zubereiten konnte. Sie ermahnte die Familie sogar, Scheite nicht senkrecht, sondern waagrecht in den Ofen zu legen, damit sie nicht so schnell herunterbrannten und man Brennholz sparen konnte.

Die Mutter wunderte sich: «Maria, woher weisst du das alles bloss? Von mir kannst du es ja nicht haben, denn ich höre es von dir zum ersten Mal.»

«Vom Grossvater, von der Grossmutter, von den alten Leuten, von allen möglichen Leuten hab ich das halt.»

«Alle diese Leute kenne ich ja nicht einmal! Warum erfahre ich solche Sachen nicht?»

«Was weiss denn ich? Vielleicht fragst du nicht danach. Aber ich will alles wissen, und Gott hilft mir dabei.»

Pfarrer Johannes meinte: «Gott hat dem Kind die Energie fürs Laufen ins Hirn gegeben. Das Mädchen sieht und spürt vielleicht viele Dinge, die wir gar nicht bemerken. Warum hat Gott nicht dich oder mich, sondern sie krank werden lassen? Darüber müssen wir nachdenken. Sie ist eindeutig etwas Besonderes. Und damit ist die Antwort auf unsere Frage auch einfach: Gott liebt dieses Kind ganz besonders. Gott hat sie auserwählt und sie vielleicht für eine heilige Aufgabe erschaffen.»

Diese Worte des Pfarrers machten Maria in den Augen ihrer Eltern zu einem noch wertvolleren Geschöpf.

Der Pascha aus Urnäsch

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