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Die ersten Gehversuche als Zimmermann

Es war im September 1838. Bei ungewöhnlicher Hitze sammelten Ueli und sein Grossvater im Wald Pilze.

«Mein Gott, so eine Hitze, und das zu dieser Jahreszeit!», stöhnte der Grossvater. «Das hat nichts Gutes zu bedeuten. Dieser warme Föhnwind dörrt alles aus. Es ist erst eine Woche her, da hat es ununterbrochen geregnet, aber jetzt ist schon alles wie versengt. Dass die Pilze so aus dem Boden schiessen, muss an diesem warmen Wetter liegen.»

Genau in diesem Moment sahen sie am Horizont dicke Rauchschwaden aufsteigen, es musste im Dorf Heiden sein. Ueli merkte, wie der Grossvater vor Furcht zitterte.

«Was für ein Qualm! Ich hab mein Lebtag kein so grosses Feuer gesehen.»

Sofort machten sie sich auf den Rückweg. Einen Korb Pilze hatten sie gesammelt, beim Tragen wechselten sie sich ab. Auf dem Heimweg sprach der Grossvater rhythmisch vor sich hin, als sänge er ein Lied:

«Meine Damen, meine Herren!

Die Speisekarte für diesen Winter:

Pilzsuppe hmmm

Eingelegte Pilze hmmm

Gebratene Pilze hmmm

Graupen mit Pilzen hmmm

Jawohl, wie man schon sieht

Diesen Winter gibt’s sonst nichts

Als lauter Pilze!»

Ueli fügte hinzu: «Etwas hast du aber vergessen, Pilzgrossvater!»

«Was denn?»

«Pilzschnaps!»

«Du bist doch erst zwölf, du kleiner Pilzkopf, aber du weisst wohl schon alles!»

«Das liegt vielleicht daran, dass ich dein Enkel bin!»

Sie kicherten.

Schlechte Nachrichten verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Heiden lag sieben Stunden Fussmarsch entfernt. Doch jedermann weit und breit wusste bereits, dass in der Werkstatt des Schmieds Konrad ein Brand ausgebrochen war, dessen Flammen auf das ganze Dorf übergegriffen hatten, so dass die aneinander gebauten Häuser sämtlich abgebrannt waren.

Sofort am Tag nach dem Brand versammelte der Grossvater die ganze Familie Kurt um sich, um zu verkünden: «In einer solchen Lage kann man die Heidener nicht im Stich lassen. Wir gehen gleich morgen dorthin. Niemand weiss, wie lange wir bleiben werden. Für euch hier wird das Leben vielleicht mühselig, solange wir weg sind» – als er das sagte, wandte er den Blick den Frauen zu, um sie eindringlich anzusehen – «aber ihr habt wenigstens ein Bett und ein Dach über dem Kopf. Die Obdachlosen dort haben nicht einmal das. Der Winter steht vor der Tür. Wenn wir ihnen nicht helfen, erfrieren sie. Und in den Augen unseres Herrgotts sind dann auch wir gestorben.»

Am nächsten Morgen ritten Ueli Kurt, der Grossvater, der Vater und der Onkel auf den fünf Rössern, die es im Dorf gab, nach Heiden. Die Besitzer der Pferde hatten sie der Familie Kurt mit auf den Weg gegeben, denn zu Fuss wäre es unmöglich gewesen, das ganze Zimmermanns- und Maurerwerkzeug bis nach Heiden mitzunehmen, und sie schleppten alles mit, was sie an Werkzeug besassen. Einer der Pferdebesitzer begleitete sie, um die Tiere wieder zurückzubringen.

Auch viele andere Urnäscher vergassen ihre eigene Armut. Sie packten alles in Säcke, was sie an Lebensmitteln und Kleidung entbehren konnten und machten sich nach Heiden auf.

Dass Ueli mit seinen zwölf Jahren vom Grossvater mitgenommen und wie ein Erwachsener behandelt wurde, gefiel dem Jungen natürlich sehr und erfüllte ihn mit Stolz. Als sie unterwegs eine Verschnaufpause einlegten, ging Ueli zum Grossvater, um ihn zu fragen: «Was bedeutet es, wenn wir in den Augen unseres Herrgotts gestorben sind?»

Der Grossvater fuhr sich mit der Ellbogenbeuge über die Nase, um den Schweiss abzuwischen. «Von wem hast du dieses leere Gerede?»

«Von dir! Erst gestern hast du gesagt, wenn wir den Heidenern nicht helfen, sterben sie alle, und dann sind wir für unseren Herrgott auch tot. Hast du das etwa vergessen?»

«Das soll ich gesagt haben?»

«Ja, du, und zwar vor der ganzen Familie! Gestern Abend erst, als du uns alle zusammengerufen hast.»

Schnell machte der Grossvater sich auf und ging weiter, als liefe er vor etwas davon. Ueli verstand die Antwort trotzdem. Der alte Mann war keiner, der auf jede Frage eine Antwort parat hatte. Fragen, auf die er keine Antwort wusste oder keine geben wollte, überhörte er einfach oder wich ihnen aus.

Als sie nach Heiden kamen, erstarrten sie. Der Grossvater stammelte: «Um Gottes willen! Was für eine Brandkatastrophe, unglaublich! Ich hatte nicht gedacht, dass es so schlimm wäre.» Er legte Ueli die linke Hand auf die Schulter und deutete mit der rechten auf die Überreste eines Gebäudes. «Das Haus da hat den Steiners gehört. Alles ausser den Grundmauern haben zwei Meister aus Heiden und ich gebaut. Die ganzen Verzierungen an der Fassade habe ich geschnitzt. Du warst damals noch nicht auf der Welt.»

Das Dorf war kohlrabenschwarz. Vor den Mauerresten sassen verzweifelt blickende Menschen, deren Kleidung, Haare und Gesichter ebenso schwarz waren wie ihre verkohlten Häuser. Auf den Wegen war einfacher, kleiner Hausrat aufgestapelt. Die Dorfbewohner hatten alles, was sie vor den Flammen bewahren konnten, weit entfernt von den Brandherden aufgeschichtet.

Alte Leute und Kinder lagen ausgestreckt auf Matratzen, die kreuz und quer auf die Wege geworfen waren. Frauen kochten in grossen Kesseln auf offenem Feuer Graupensuppe und Ribelmais. In manchen Kesseln schmorte das Fleisch der verendeten Tiere und wurde Einheimischen wie von weither kommenden Fremden gereicht. Die Menschen hatten sich auf der Strasse versammelt. In ihren Gesichtern erkannte man die schrecklichen Spuren von düsterer Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung. Aus vielen Ruinen stieg immer noch pechschwarzer Rauch auf. Alles war abgebrannt ausser einer Handvoll Häuser, die etwas abseits des Dorfs lagen.

Als der älteste Sohn von Albert Sonderegger beim Versuch, Mobiliar zu retten, den Flammen zum Opfer fiel, schrie Pfarrer Hohl in einem fort: «Ins Feuer zu gehen bedeutet, sich gegen Gott aufzulehnen, es bedeutet, ihn zu missachten! Das ist eine unverzeihliche Sünde. Wenn ihr überlebt, wird Gott euch wieder Bett und Tisch, Schüsseln und Geschirr bescheren. Aber dazu müsst ihr überleben. Gott, der Allmächtige, gibt euch alles, was ihr braucht, wenn ihr euch nur ehrlich darum bemüht. Geht nicht ins Feuer! Euer Leben ist doch wertvoller als ein hölzerner Milchtopf! Lehnt euch nicht gegen Gott auf!»

Ein Heidener reichte den vier Ankömmlingen Wasser aus einem Tonkrug. «Seht ihr, genau hundertfünfzig Häuser sind abgebrannt. Nur sieben Häuser konnten erhalten werden. Dafür danken wir Gott. Alles geschieht nach seinem Willen.»

Genau in diesem Moment stieg Pfarrer Hohl auf eine Erhöhung auf dem Dorfplatz vor der halb abgebrannten Kirche, um eine kurze Rede zu halten: «Euch allen gilt mein Mitgefühl. Dass ich heute diese Ansprache vor einer halb verbrannten Kirche halte, ist vielleicht eine Ehre, die mir und euch von Gott zuteil wird, eine Ehre nicht nur für uns Heidler, sondern auch für all die Menschen, die uns in diesem Moment beistehen. Mit dem Brand wurden uns nicht nur unsere Häuser, sondern auch unsere Erinnerungen genommen. Manchen unter uns war es noch nicht einmal beschieden, einen einzigen Tag in dem Haus zu leben, das sie unter tausend Mühen errichtet hatten. Vielleicht wollte Gott uns lehren, die Schwierigkeiten nachzuvollziehen, mit denen unser Herr Jesus Christus einst zu kämpfen hatte. Ihr wisst ja, dass er in einem Stall geboren wurde und lange unter schweren Bedingungen lebte. Doch es ist nicht sein Wille, dass andere Vergleichbares durchmachen müssen. Als ich heute sah, wie unsere Brüder aus St. Gallen, Appenzell, Herisau, Urnäsch und vielen anderen Orten herkamen, um uns zu helfen, verstand ich einmal mehr Gottes Grösse. Gott, unser Herr, hat uns durch Seine geliebten Diener die Hand gereicht. Unsere Brüder sind Gottes Werkzeuge. Im Namen Gottes heisse ich euch alle willkommen. Doch nun möchte ich euch nicht weiter aufhalten. Ich möchte allen unseren Helfern unsere Dankbarkeit bezeugen und Ehrerbietung erweisen. Und nun an die Arbeit! Es gibt viel zu tun, und Gott liebt den Arbeitenden.»

Sie machten sich sofort ans Werk. Pferdefuhrwerke brachten unentwegt Baumaterialien, Holz und Steine von ausserhalb, verkohltes Holz und verrusste Reste wurden weggefahren. Man fing mit der Reparatur der am wenigsten beschädigten Häuser an. Angesichts des bevorstehenden Winters wurden zuerst die Dächer wiederhergestellt.

Ueli Kurts Zimmermannslehre begann mit den Aufbauarbeiten an den niedergebrannten Häusern des Dorfs Heiden. Für ihn war es ein grosses Vergnügen, den lieben langen Tag Mass zu nehmen, Bretter zu hobeln und Nägel einzuschlagen. Auf dem Dach war es ihm ein Leichtes, bis an Stellen vorzudringen, an die der Grossvater nur mit Mühe kam. Er riss verbrannte Bretter und Balken herunter, nahm die Masse und rief sie dem Grossvater zu. Dabei spornte es seinen Eifer noch weiter an, wenn er hörte, wie der Grossvater ihn über die Masse lobte und allen rings herum erklärte, dass Ueli mit seinen zwölf Jahren besser arbeite als viele Meister.

Die vier Männer der Familie Kurt schliefen nachts im Heuschober des Bauern, dessen Haus sie gerade wieder aufbauten. Zeitig standen sie auf, stärkten sich mit einem Zmorge aus altbackenem Brot, das sie im Wasser aufweichten, und einem Stück Hartkäse. Dann ging es an die Arbeit. Ueli und sein Grossvater erledigten die Zimmerarbeiten, Vater und Onkel mauerten. Innerhalb eines Monats wurde viele Dachstühle aufgerichtet, Dächer gedeckt und das Innere der Häuser in einen bewohnbaren Zustand gebracht. Die Familie Kurt arbeitete nach dem verheerenden Brand in Heiden am längsten für Gotteslohn. Als sie fortgingen, hatten die Dorfbewohner beim Abschied feuchte Augen. Nach einem Monat liessen die vier Männer Menschen zurück, deren Augen strahlten und nichts mehr von ihrem anfänglichen schwarzen Pessimismus erkennen liessen. Pfarrer Hohl und die Dorfleute gedachten ihrer noch lange in ihren Gebeten. Etwas anderes als ihre Gebete hätte ihnen in Heiden auch niemand schenken können.

Unterwegs lobte der Grossvater den Enkel: «Aus dir wird einmal ein guter Zimmermann. Ich hatte Gelegenheit mehr als genug, mich davon zu überzeugen, dass das Handwerk dir liegt, denn ich habe dir beim Sägen und Nageln zugesehen. Die Arbeit kommt dir aus dem Herzen. Du bist noch sehr jung und hast viel Zeit, um alle Feinheiten des Handwerks zu erlernen. Mach so weiter, aber vergiss nie, dir etwas von Leuten abzuschauen, die es noch besser können. Nur so kannst du dich weiterentwickeln.»

Bis zum traditionellen Silvesterklausen waren es noch drei Tage. Eine Woche vor Neujahr holte man die grossen Schellen oder die kleineren Rollen hervor und polierte sie. An Silvester zogen die Männern in Schuppeln von Hof zu Hof, um den Menschen Glück fürs neue Jahr zu wünschen. Die grossen Hauben und Hüte zusammen mit den Schellen zu tragen, war Schwerarbeit. Auf dem Weg nach Urnäsch hatten die Männer der Familie Kurt beschlossen, dieses Jahr nicht beim Silvesterklausen mitzumachen. Alle vier waren abgekämpft und erschöpft. Inzwischen war auch der Winter hereingebrochen, alles war schneebedeckt, der gewaltige Säntis lag hinter den dicken Schneeflocken verborgen.

Sechs Jahre nach dem Brand, im Jahr 1844, führte der Weg Ueli Kurt noch einmal nach Heiden. Doch diesmal war er kein kleiner Junge, der helfen wollte, sondern der Vater eines kranken Töchterchens, der Hilfe suchte. Maria war noch keine zwei Jahre alt und ständig krank. Ausser den Schmerzen in den Beinen litt sie unter Atemnot. Sie entwickelte sich schlecht. Ihre Beine waren dünn wie Zündhölzer. Ueli band sich das Kind auf den Rücken und zog von Arzt zu Arzt. Sein bisschen Geld gab er Leuten, die dem Mädchen Heilung versprachen. Bekannte hatten ihm geraten, Maria nach Heiden zum Dorfarzt Hans Leuenberger zu bringen, der für seine Behandlungserfolge bei Knochenerkrankungen bekannt war, und Ueli wäre für Maria jederzeit bis ans Ende der Welt gelaufen.

Insgeheim dachte er: Sieh an, das muss Gottes Fügung sein. Es war an einem Freitag in der zweiten Septemberwoche. Ueli lieh sich das Pferd des Nachbarn, band sich Maria auf den Rücken und brach noch vor Sonnenaufgang nach Heiden auf. Wie immer nahm er in einem Säckchen seine geschnitzten Kuhfigürchen mit, denn etwas anderes konnte er dem Arzt als Entlöhnung nicht anbieten.

Als er auf den Dorfplatz von Heiden kam, staunte er über die grösstenteils dicht an dicht aneinander gereihten, prächtigen Häuser. Gerade mal sechs Jahre waren seit dem Brand vergangen, doch keine Spur war mehr davon zu sehen. Vor ihm lag ein nagelneues Dorf. An viele dieser Häuser hatte er selbst Hand angelegt. In ihm stieg die Erinnerung an jene Zeit auf, als er mit dem Grossvater Dachstühle und Fensterrahmen baute, im Heu schlief, als sie miteinander am Dorfbrunnen sassen, um an hartem Brot zu nagen … Mit seinem wuchernden Bart hatte der Grossvater ausgesehen wie ein Waldschrat.

Ueli ging auf dem Dorfplatz umher, um nach einem bekannten Gesicht oder einem Erinnerungsstück zu suchen. Schliesslich setzte er sich auf die Treppe vor der Kirche. Dann fragte er sich zur Praxis von Doktor Leuenberger durch. Ein paar Mal schlug er mit dem eisernen Türklopfer, der einen Fuchskopf darstellte, gegen die darunter angebrachte Eisenplatte. Es dauerte nicht lange, da tauchte ein junges Mädchen auf, dessen langer Rock über den Boden schleifte. Sein erster Satz war: «Bindet das Pferd nicht hier vor der Tür an, sondern da vorne beim Stall. Wer ist der Kranke?»

«Ich bringe mein Töchterchen zur Untersuchung. Sie ist krank.»

«Doktor Leuenberger ist kein Kinderarzt. Ich weiss nicht, ob er das Kind untersucht.»

«Ich komme von weit her, aus Urnäsch. Sieben Stunden waren wir unterwegs! Schickt mich um Himmels willen nicht fort, ohne dass der Doktor mein Mädli untersucht hat. Ich flehe euch an!»

«Schon gut. An eurer Sprache hört man schon, dass ihr von dort hinten kommt. Ich bin ja nicht blöd. Wartet vor der Tür!» Mit dieser frechen Antwort schlug das Mädchen Ueli die Tür vor der Nase zu.

Nur wenig später tauchte der Doktor an der Treppe auf, sein rundes Gesicht war nach oben gerichtet, und auch beide Hände öffnete er zum Himmel, als wolle er sich an Gott wenden. «Mein junger Freund aus Urnäsch! Sei mir willkommen! Ich schicke gleich jemanden, der das Pferd in meinen eigenen Stall bringt», rief er.

Ueli wollte schon einwenden, das Pferd gebe er lieber nicht aus der Hand, denn es sei nicht sein eigenes, er habe nämlich kein Geld für die Behandlung – das war zwar nicht ganz richtig, denn der Grossvater hatte ihm mit der Ermahnung, er könne den weiten Weg doch nicht ohne einen Heller in der Tasche antreten, zwei Gulden zugesteckt, doch die wollte er sich als letzten Trumpf aufsparen – er habe aber kleine Kuhskulpturen im Gepäck, die er dem Arzt für die Behandlung anbieten könne, doch würde dieser sie als Lohn annehmen?

Da kam Leuenberger ihm schon zuvor: «Zu welcher Familie in Urnäsch gehörst du denn, junger Mann?»

«Kurt, zur Familie Kurt», stotterte Ueli.

Die Augen des Doktors fingen an zu leuchten. Vor Aufregung entglitt ihm das Buch, das er sich unter die Achsel geklemmt hatte, es fiel zu Boden, und mit ihm ergoss sich eine Menge Notizzettel über die ganze Treppe. Doch der Arzt bemerkte das Buch und die Notizen entweder gar nicht oder wollte sie nicht bemerken. «Kurt, die Familie Kurt! Komm, lass dich an meine Brust drücken!» Er legte die ausgebreiteten Arme um Ueli. «Sei mir willkommen, mein lieber, junger Freund!»

Bei der stürmischen Umarmung erwachte Maria, die auf dem Rücken des Vaters geschlummert hatte. Als sie das Vollmondgesicht des fremden Mannes so nah vor sich sah, fing sie an zu schreien. Der Arzt griff Maria unter den Schultern und half Ueli dabei, sie sich vom Rücken zu schnüren. Dann nahm er Maria auf den Arm. Das Kind hörte auf zu weinen und blickte ihm staunend ins Gesicht. Die Assistentin des Arztes, eine kleine Frau, sah dem Geschehen verständnislos zu. Als sie sich aus der Starre gelöst hatte, machte sie sich daran, die über die Treppe verstreuten Notizen des Doktors aufzulesen.

Sie gingen zusammen ins Sprechzimmer. Ueli Kurt erzählte kurz seine Lebensgeschichte.

«In ganz Heiden gibt es niemanden, der nicht wüsste, was die Familie Kurt für uns getan hat», erklärte der Arzt. «Mich hat es damals tief beeindruckt, wie du mit deinen zwölf Jahren hier geschuftet hast. Deine Holzskulptürchen sind ausserordentlich schön. Ich nehme dir alle ab und gebe dir zehn Gulden dafür. Zur Behandlung deiner Tochter bleibt ihr drei bis fünf Tage hier bei mir zu Gast. Die Kosten dafür hat die Familie Kurt schon vor Jahren im Voraus bezahlt.» Dann fügte er hinzu: «Und mach dir keine Sorgen, ich lasse deiner Familie Bescheid geben, dass ihr ein paar Tage hier bleibt.»

Dann zog Doktor Leuenberger ein paar Mal an einer Schnur, die im Behandlungsraum von der Decke hing. Oben hörte man eine Glocke läuten, wenig später öffnete sich die Tür und eine Frau mittleren Alters trat ein. «Frau Bäumli, dieser junge Mann aus Urnäsch ist mit seinem Töchterchen eine Woche unser Gast. Richten Sie ihm das Zimmer oben. Sie haben einen weiten Weg hinter sich und müssen sich vor dem Essen ein wenig ausruhen», wies Leuenberger sie an, bevor er sich wieder Ueli zuwandte: «Nun geh hinauf und ruh dich aus. Ein bisschen später kommt ihr zum Mittagessen ins oberste Geschoss hinauf. Meine Frau Ida wird ohne jeden Zweifel sehr erfreut sein, euch kennenzulernen. Nach dem Essen fange ich mit der Behandlung an. Wir haben ja viel Zeit.»

Frau Bäumli hatte Maria mitgenommen. Ueli ging auf sein Zimmer und liess sich aufs Bett fallen. Kaum lag er da, fühlte er eine bleierne Müdigkeit. Er schlief so fest, dass Frau Bäumli es nicht über sich brachte, ihn zum Essen zu wecken. Als Ueli erwachte, war es schon beinahe Abend. Frau Bäumli tauchte mit einem Berg Kleidung auf.

«Doktor Leuenberger schenkt Ihnen dieses Bündel Kleider. Darin sind auch ausreichend Unterwäsche und Strümpfe. Im Bad habe ich Ihnen Wasser heiss gemacht. Anschliessend erwartet der Herr Doktor Sie zum Nachtessen.»

Nach dem heissen Bad fühlte Ueli sich federleicht. Das Esszimmer war von drei Öllampen und zwei Kerzen auf dem Esstisch hell erleuchtet. Frau Leuenberger begrüsste ihn mit einem herzlichen Lächeln und umarmte ihn, wie ihr Mann das getan hatte: «Herzlich willkommen, junger Urnäscher! Dein Töchterchen ist sehr lieb. Ich habe mich den ganzen Nachmittag mit ihr befasst, sie gewaschen, gefüttert und frisch angezogen. Anfangs hat sie ein paar Mal gefragt, wo der Vater sei, aber dann hat sie dich ganz vergessen. Jetzt schläft sie wie ein Murmeltier.»

Doktor Leuenberger schlug das Buch zu, in dem er gelesen hatte. «Ida und ich mögen Kinder sehr. Wir hätten uns auch welche gewünscht, aber es war uns nicht beschieden. Man träumt manchmal von den Dingen, die einem fehlen … Aber lassen wir es damit gut sein. Zu Tisch, bitte sehr.»

Sie setzten sich an einen auf Hochglanz polierten Nussbaumtisch. Die geschnitzten Rosenmotive am Rand waren sehr fein gearbeitet. An der Wand stand ein langes Regal voller Bücher. Es waren zehn mal mehr Bücher als die im Haus von Pfarrer Johannes. Auf dem Tisch stand an jedem Platz ein eigener Teller. Offensichtlich assen hier nicht alle aus derselben Schüssel wie im Hause Kurt …

Nachdem die Dienstmagd den Tisch abgeräumt hatte, zog Frau Leuenberger sich zurück, um ein Buch zu lesen. Ueli sah zum ersten Mal, dass eine Frau in ihrer freien Zeit etwas anderes tat, als Wolle zu spinnen und zu stricken. In Urnäsch war es unvorstellbar, dass eine Frau diesen Alters lesen und schreiben konnte.

Ueli Kurt und Doktor Leuenberger tranken derweil Wein.

«Wie bist du mit deiner Frau verwandt?»

Ueli blickte den Arzt verständnislos an.

«Ich habe dein Töchterchen heute kurz untersucht. Die Beine zu behandeln, ist aussichtslos. Die Knochen sind von Geburt an verkümmert und deformiert. Und sie hat Probleme mit den Atemwegen. Das können wir lindern. Trotz allem ist sie ein sehr aufgewecktes Kind. Ihre Wahrnehmung und ihre geistigen Fähigkeiten sind völlig normal, sie ist ihrem Alter sogar voraus. Die Eheschliessung zwischen Verwandten empfiehlt sich nicht. Man müsste die Verwandtenehe sogar verbieten. Solchen Familien werden häufig behinderte Kinder geboren. Denn Verwandte haben dasselbe Blut, und Kinder aus solchen Verbindungen zahlen ein Leben lang den Preis dafür. Bist du mit deiner Frau verwandt?»

«Sie ist meine Cousine. Rösli und ich sind zusammen gross geworden. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, sie zu heiraten, aber mein Vater und mein Onkel wollten es so. Alle, fast die ganze Familie Kurt und sogar der Pfarrer, waren dafür. Er meinte sogar, dass Gott es so gewollt hat. Doktor Leuenberger, ich muss Sie etwas fragen. Wenn ich mir die vielen Bücher hier so ansehe – Sie lesen sogar mehr als der Pfarrer. Mir gehen so viele Fragen durch den Kopf, auf die ich einfach keine Antwort finde …»

«All diese Bücher reichen nicht aus, um auf alles eine Antwort zu finden. Aber vielleicht können wir die Antworten auf deine Fragen gemeinsam finden. Worum geht es denn?»

«Der Pfarrer Hohl sagte, dass der Brand von Heiden Gottes Fügung war. Zur Heirat mit meiner Cousine sagten auch alle, dass Gott es so gewollt hat. Und als auf der Schwägalp ein Rudel Wölfe alle Schafe und Ziegen gerissen hat, hiess es wieder, das war Gottes Wille. Ich verstehe das alles nicht. Warum ist Gott so grausam, warum bringt er die Menschen so in Bedrängnis? Ich begreife das nicht!»

Leuenberger blickte Ueli nachdenklich an.

«Sieh mal, Ueli. Gott will überhaupt nichts», erklärte er dann. «Bloss wir Menschen schreiben alles Gott zu. Die Frage, die dich beschäftigt, ist ganz leicht zu beantworten, dafür braucht man keine Bücher zu lesen. Wenn wir Menschen bei allem immer meinen, Gott habe es so gewollt, dann können wir weder uns selbst weiterentwickeln noch die Gesellschaft, in der wir leben. Deshalb ist es notwendig, dass wir nicht einfach ständig Gottes Hilfe erwarten, sondern im Gegenteil Fragen stellen, nach Antworten forschen, ja uns sogar auflehnen. Nur so kann eine Entwicklung zum Besseren stattfinden. Wenn ich meinen Patienten mit der Auffassung gegenübertrete, deren Krankheit sei von Gott gewollt, dann brauche ich gar nicht nach Behandlungsmethoden zu suchen. Wir müssen versuchen, an schlechten Erfahrungen zu wachsen. Ich lerne jeden Tag etwas dazu.

Erstens hat Gott das Dorf Heiden nicht in Brand gesetzt. Wenn ich jetzt hier mitten im Haus ein offenes Feuer entfache, brennt das ganze Haus ab. Wir machen es uns zu leicht, wenn wir das Gott in die Schuhe schieben. Der Grund für den Brand in Heiden war ein nachlässiger Schmied. Seiner Unaufmerksamkeit ist es zuzuschreiben, dass der Brand ausbrach, der schliesslich das ganze Dorf in Flammen aufgehen liess. Hinzu kam der heisse Föhnwind, der damals zwei Tage lang alles aufheizt und ausgedorrt hatte. Ausserdem waren die Häuser aneinander gebaut, so dass die Flammen leicht von einem Haus zum nächsten übergreifen konnten. Der Schmied konnte das Feuer in seiner Werkstatt nicht löschen, weil er nicht wusste, wie man das anstellt. Hätte man sich in Heiden auf so einen Fall vorbereitet und einen Plan zum Feuerlöschen gemacht, wären vielleicht nicht mehr als zwei Häuser abgebrannt. Doch inzwischen zog man eine Lehre aus der Brandkatastrophe. In Heiden gibt es jetzt eine Feuerwehr. Wir haben für den Brandfall einen zweirädrigen Löschwagen mit einem Wassertank. Es wird hier wieder Brände geben, aber wir haben eine ausgebildete Feuerwehr. Das wird die Ereignisse seltener machen, für deren schlimme Folgen wir Gott die Verantwortung zuschieben. Und es gibt noch andere, vergleichbare Fälle. Vor drei Jahren, also 1841, wurde für den Kanton Appenzell Ausserrhoden eine Gebäudeversicherung gegründet. Die übernimmt jetzt den Schaden, wenn ein Haus abbrennt. Doch dafür muss man jährlich einen bestimmten Betrag einbezahlen, und leider versichern nur wenige Leute ihre Häuser, die anderen möchten diesen Betrag nicht bezahlen. Was kann Gott dafür? Für vieles, was uns zustösst, sind wir Menschen selbst verantwortlich. Wenn wir im Winter barfuss im Schnee spazieren gehen, erkälten wir uns. Um das zu vermeiden, ziehen wir Strümpfe und Schuhe an, und zwar bevor wir hinausgehen. Eine Versicherung funktioniert so ähnlich.»

Leuenberger trank einen Schluck Wein, um seine trocken gewordene Kehle anzufeuchten. Dann fuhr er fort: «Nun zum zweiten Punkt: Du bist nicht der Erste, der seine Cousine geheiratet hat. Die Älteren in deiner Familie haben so etwas schon öfter erlebt und müssen wissen, dass aus solchen Ehen behinderte Kinder hervorgehen. Das nennt man unbelehrbar! Andere Dinge sind ihnen eben wichtiger. ‹Wenn wir die Kinder untereinander verheiraten, müssen wir unsere Kartoffeläcker und Getreidefelder nicht mit Fremden teilen.› Wichtiger als die Gesundheit der Kinder ist ihnen, dass die Äcker in der Familie bleiben. Die Behinderung der Kinder nehmen sie auf die leichte Schulter, denn sie sind im Denken selbst behindert.

Und nun zu deinem dritten Beispiel, da liegt die Sache ähnlich, es geht um Ursache und Wirkung. Der Wolf jagt nun einmal Schafe und Ziegen, das ist ein Gesetz der Natur. Es liegt an dir, dein Vieh vor der Gefahr zu bewahren. Wenn deine Tiere den Wölfen zum Opfer gefallen sind, hast du nicht gut auf sie aufgepasst. Wenn du dann behauptest, das war Gottes Wille, sagst du das, um die Last der Verantwortung abzuwälzen.»

Später auf seinem Zimmer dachte Ueli noch lange über die Worte des Doktors nach. Doktor Leuenberger war keiner, der ständig den Namen Gottes im Mund führte wie die Menschen aus Uelis Umfeld. Und es war unglaublich, dass er für die Kuhfiguren zehn Gulden angeboten hatte. Vielleicht hatte Ueli ihn missverstanden … Ein Gulden wäre schon ein sehr guter Preis für die Holzfigürchen gewesen. Ueli hatte noch nie im Leben ein Zimmer für sich allein gehabt und schlief wie ein Murmeltier bis zum nächsten Tag.

Beim Morgenessen berichtete der Doktor, dass er als Arzt sehr lange in Zürich tätig gewesen war. «Dann sind wir hierhergezogen, einerseits, um den Rest meiner Tage an dem Ort zu verbringen, in dem ich geboren bin, und andererseits, um den Menschen hier zu dienen. Wenn hier jemand krank wird, hält er es nicht für notwendig, einen Arzt aufzusuchen, man wendet sich eher an den Pfarrer oder an Wunderheiler. Die Leute rufen mich erst, wenn sie schon im Sterben liegen. Dann kann ich meist auch nicht mehr viel für sie tun. Wir leben hier noch von dem, was ich in Zürich verdient habe. An einem Ort, wo die Menschen Hunger leiden, kann ein Arzt kein Geld verdienen. Mir geht es letztlich wie dir: Du bist Schreiner, aber die Leute haben kein Geld, um deine Arbeit zu bezahlen.»

Ueli unterbrach den Doktor, um zu gestehen, dass auch er Maria schon oft zu Mönchen und Wunderheilern gebracht hatte.

Leuenberger verzog ein wenig das Gesicht. «Tu das nie wieder», riet er. «Diese Art der Behandlung ist für Kinder sehr schädlich. Bei Erwachsenen liegt die Sache anders. Sie glauben fest an die Wirkung solcher Quacksalberei und meinen anschliessend, Besserung zu verspüren – und ich muss zugeben, dass es Leute gibt, die allein aufgrund dieser Überzeugung tatsächlich gesund werden. Denn der Glaube versetzt Berge und ist der entscheidende Faktor bei der Genesung. Doch weil bei Kindern dieser Glaube an die Wirksamkeit noch nicht vorhanden ist, kann es keinen Nutzen geben. Bring Maria nur noch zu Leuten, die über medizinische Kenntnisse verfügen.»

Der Arzt schloss Marias Behandlung innerhalb von drei Tagen ab. Ihre Luftröhre war von Geburt an sehr eng, weshalb sie sich leicht entzündete, was ihr das Atmen schwer machte. Drei Tage lang massierte Leuenberger den Brustkorb des Kindes mit verschiedenen Techniken, um ihn zu weiten und das Atmen zu erleichtern. Ausserdem bereitete er einen Sirup aus dem Inhalt verschiedenfarbiger Flaschen zu und schärfte Ueli ein, Maria diesen dreimal täglich einzuflössen. Zu Marias Beinen sagte er, sie werde niemals laufen können, doch bei guter Ernährung könne sie kriechen. Wenn sie zu krabbeln beginne, solle man ihr zur Schonung der Knie die ledernen Knieschoner anziehen, die er vom Schuhmacher hatte anfertigen lassen.

Als sie sich auf den Heimweg machten, waren ihre Taschen mit reichlich Kleidung gefüllt. Und trotz Uelis heftigem Protest hatte der Doktor nach all seinen Wohltaten auch noch zehn Gulden daraufgelegt.

Diesmal schneite es nicht auf dem Rückweg wie vor sechs Jahren, sondern es herrschte strahlender Sonnenschein. Nur der Gipfel des Säntis war weiss von Schnee. Auf Uelis Rücken spielte Maria mit den Haaren des Vaters und summte vor sich hin. Ueli tastete in der Tasche nach den zehn Gulden. Er war unvorstellbar glücklich. Wenn er Maria zu Mönchen oder Quacksalbern gebracht hatte, war er jedes Mal mit leeren Taschen heimgekehrt.

Spontan schlug er einen Umweg über Appenzell ein. «He, Maria, ich zeig dir Appenzell!»

«Was ist das?»

«Was das ist? Ein Schleckstängel.»

«Ja, jaaaaa!»

In Appenzell kaufte Ueli dem Grossvater hundert Gramm Tabak, der Mutter und Rösli je ein Handtuch und vier Meter Stoff, der mit Blumenmotiven bedruckt war, dem Vater einen neuen Hammer und für den Rest der Familie Süssigkeiten. Danach hatte er immer noch fünf Gulden in der Tasche.

Der Werkzeughändler erkannte ihn. Als er das Pferd und die vollen Taschen sah, murmelte er: «Die Geschäfte der Familie Kurt laufen wohl wie am Schnürchen. Dein Pferd ist wohlgenährt.»

Ueli nickte und machte sich eilig davon. Er wollte nicht Herrn Dörig über den Weg laufen, denn die Familie Kurt stand bei ihm mit mindestens zweihundert Gulden tief in der Kreide.

Maria nuckelte indessen an ihrem Schleckstängel. «Appenzell ist aber gut», murmelte sie.

Der Pascha aus Urnäsch

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