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Kapitel 4

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London lag friedlich eingebettet im Herzen Englands und lebte seine Mixtur aus der vergangenen Größe eines weltumspannenden Empires und dem pulsierenden Finanzdistrikt, der sich geschickt gegen jeden Regulierungsversuch wehrte. London war ein Sinnbild für royale Pracht, für Tradition und für das Beharren auf einem eigenen Weg. London unterschied sich wie eine geschmückte Festung vom europäischen Festland. London war anders. War es schon immer. Es verkörperte England.

Der Schock war unvorstellbar. Und er hielt an. Er verdoppelte sich von Minute zu Minute und jagte wie ein apokalyptischer Reiter um den Erdball. London hatte den Nordmännern, den Nazis und dem Euro getrotzt. Es hatte Eroberer hochmütig abgewiesen und sich jedem neuen Trend versagt. Es war ein Wahrzeichen für Stabilität und eine Trutzburg für gelebten Widerstand. Terroristische Anschläge und Finanznot hatten es nicht aus dem Gleichgewicht bringen können. London war unverwundbar. Bis jetzt.

Als die dickbäuchige Transportmaschine vom Himmel fiel, dachte man an ein tragisches technisches Versagen. Eine Gruppe Schulkinder und ihr Lehrer hatten vom Pausenhof ihrer Schule beobachtet, wie die Maschine, aus Stansted kommend, ihr Fahrwerk einzog, dann eine Kurve beschrieb, sich schüttelte und kippte, in der Luft um Kontrolle kämpfte, als habe sich eine unsichtbare Riesenfaust um den Rumpf geschlossen und dann mit einem kreischenden Geräusch aus dem Sichtfeld verschwand.

Ein Liebespaar aus Nancy, das in London seine Flitterwochen verbrachte, hätte die Szenerie mit seiner freien Sicht aus einer der Glasgondeln des ,London-Eye-Riesenrades‘ an der Themse anders dargestellt. Georgette und Karim hielten Händchen und wisperten verliebte Dinge, als das wuchtige Flugzeug abhob. Es war Georgette, die den Lichtblitz sah. Einen grellen, wabernden Blitz, als habe ein Elektrizitätswerk seine gesamte Kapazität in eine gewaltige Ladung gesteckt, die über die Stadt pulsierte. Als Karims Augen dem aufgeregten Finger Georgettes folgten, sahen sie die schräg nach unten weisende Schnauze eines Riesenflugzeugs und brennende Teile, die sich wie eine Leuchtspur über die Dächer Londons ergossen. Karim und Georgette hätten das Kreischen der Triebwerke bestätigt und die unnatürlichen Flugbewegungen, die wie Todeszuckungen eines Rieseninsektes aussahen. Doch Karim und Georgette konnten mit ihrer Aussage nicht zur Klärung des Phänomens beitragen. Eine Tragfläche und Teile des Triebwerks einer Passagiermaschine aus Singapur streiften das Riesenrad und amputierten es. Das ,London Eye‘ protestierte noch eine halbe Umdrehung lang, bevor es sich mit berstenden Metallstreben neigte und in die Themse stürzte. Georgette und Karim waren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr am Leben. Nur ihr Peugeot stand unversehrt auf dem nahen Parkplatz und wartete. Aus dem Himmel regneten Passagiere des Singapur Airlines Fluges und durchschlugen in weitem Umkreis die Dächer von Wohnungen und Kaufhäusern.

Die japanische Reisegruppe in der ehrwürdigen National Gallery applaudierte, als in ihrem Rücken der Säulengang mit einem gewaltigen Ächzen einstürzte. Eine Staubwolke schob sich über den Trafalgar Square und hüllte die Insignien der glorreichen Vergangenheit Englands in ein undurchdringliches Grau. Die Japaner aus Osaka waren auf einem Europatrip der zehn größten Sehenswürdigkeiten und hatten zuvor einen Aufenthalt im Disneyland in Paris genossen. Sie waren erschrocken gewesen, als eine waghalsige Fahrt in einer Wasserrinne damit endete, dass eine Brücke unter ihnen kollabierte. Dann zogen sich die Wasser zurück und die Brücke richtete sich wieder auf. Erst als jetzt ein Servierwagen wie ein Geschoss durch die Decke des Museums brach und zwei Besucher unter sich begrub, brach Panik aus.

Verwackelte Handyfilme und Amateurschnappschüsse zeigten, wie sich eine weitere Maschine durch Lambeth pflügte und einen Feuersturm auslöste. Marleybone und Belgravia schienen zu brennen. Ein Flugzeug war auf freiem Feld niedergegangen. Den Piloten schien es gelungen zu sein, die Maschine in einen kontrollierten Sinkflug zu bringen und zu landen. Bei der Notlandung zerbrach die Maschine in drei Teile und fing Feuer. Ein kleines Häuflein Passagiere und Besatzungsmitglieder konnten sich retten. Wie betäubt warteten sie auf Hilfe, während aus dem Gerippe des Flugzeugs Qualm und Flammen schlugen. Ein älterer Mann mit einer klaffenden Stirnwunde durchsuchte den Berg von Koffern, der aus dem Laderaum geschleudert worden war. Laute Selbstgespräche führend, zerrte er Rollkoffer um Rollkoffer aus der deformierten Masse. Im gesamten Großraum London hallten die Sirenen. Rauchsäulen stiegen auf.

Der Financial District der Square Mile war wie ein Wunder von der großen Zerstörung verschont geblieben. Nur brennende Kleiderfetzen und der Gestank nach Ruß und Kerosin wehten durch die Straßen. Ein Devisenhändler, der auf der Dachterrasse eines Bankgebäudes ein heimliches Telefonat mit seiner Geliebten führte, beschrieb mit fahriger Gestik, dass im Norden der Stadt zwei Flugzeuge kollidiert seien. Er habe es gesehen wie von einem Logenplatz aus. Die Bilder hätten sich in sein Gedächtnis gebrannt. Die größere Maschine sei aus den Wolken auf die kleinere herabgestürzt wie ein Raubvogel. Genau wie ein Raubvogel. Dabei hätten die Triebwerke geheult und bläulicher Qualm sei aufgestiegen. Das kleinere Flugzeug habe keine Chance gehabt. Es sei zerborsten, so wie man Eier aufschlägt. Menschen seien wie Miniaturspielzeug aus dem Gewirr von Kabeln und gerissenem Metall herausgefallen. Sie hätten mit Armen und Beinen gerudert. Zwischen ihnen Gegenstände, als habe der Teufel seine Puppenstube ausgeleert. Schlimm sei es gewesen, entsetzlich. Wie bei den Fernsehbildern von 9/11, als sich die Menschen aus den Fenstern der Zwillingstürme stürzten. Irgendwie surreal habe es gewirkt. Wie die Komposition einer höheren Macht, die eine Leinwand mit dem Tod aus dem Himmel über der Stadt ausbreitet. Ganz besonders schrecklich sei gewesen, dass man die Menschen nicht habe schreien hören. Nur das Brausen und Kreischen der Katastrophe, aber kein Laut von den Herabfallenden. Er habe nicht akzeptieren können, dass das, was sich vor seinen Augen abspielte, real war. Nicht ohne Schreie. Den Rest habe er nicht mehr gesehen. Er habe sich geduckt, habe sich die Fäuste auf die Ohren gepresst und die Augen geschlossen, so fest er konnte. Seine Beine hätten nachgegeben und später habe er die Treppe nicht mehr gefunden.

Was noch merkwürdiger war, fiel erst auf, als das brennende London nach einem langen Moment der Starre wieder Atem holte. Fast alle elektronischen Systeme waren von London bis zu den Midlands, den Bädern Südenglands und den Industrierevieren des Nordens ausgefallen. Das Internet war aufgeflackert und erloschen. Die Telekommunikation blieb gestört. Gespräche brachen ab und Notrufe waren tot. In den Finanzzentralen der Banken und der Börse herrschte Ratlosigkeit. Tausende von Notknöpfen wurden in den Fahrstühlen gedrückt, ohne ein Signal auszulösen. Das ganze Land war mit apokalyptischen Vorzeichen gebrandmarkt.

Erst als der nationale Notstand ausgerufen wurde und die Armee gegen Plünderer einschritt, ebbte auch die Massenflucht ab, die zu einem Verkehrsinfarkt im Großraum London geführt hatte. Die Wiederherstellung der Kommunikationsinfrastruktur und die Bergung und Versorgung der Opfer waren vordringlich. Bilder von zerstörten Häusern, Flugzeugteilen, rauchenden Trümmerwüsten und Leichenteilen flimmerten weltweit über die Fernsehschirme.

Die Nachrichtenlage war verworren. Nach ersten Schätzungen ging man von 10 000 bis 15 000 Toten aus. Die Zahlen variierten von Quelle zu Quelle. Nachrichtensender meldeten erste Festnahmen. Von einem terroristischen Anschlag nie gekannten Ausmaßes war die Rede. Gerüchte über eine im Luftraum über London gezündete Neutronenbombe machten die Runde. Politiker riefen die Bevölkerung dazu auf, zuhause zu bleiben, die Fenster zu schließen und Wasser nur aus Flaschen zu konsumieren. Schutzkleidung und Atemmasken kamen zur Verteilung. Zehntausende internationaler Journalisten versuchten über die gesperrten Häfen Englands ins Land zu kommen. Wer keine seriösen Nachrichten hatte, griff zu den Schlagworten ,Islamistischer Terror erreicht England‘. Verdächtigt wurden auch der Iran, Nordkorea und alle Randgruppen, die das Internet als gefährlich und skrupellos genug einstufte. Mahnende Stimmen und wissenschaftliche Analysen, die von einem seltsamen elektromagnetischen Puls großer Stärke sprachen, gingen ungehört unter.

Die Börsen kollabierten und der Flugverkehr wurde vorübergehend eingestellt. Religiöse Gruppen mahnten zu Buße und Umkehr, denn der Tag des großen Krieges Gottes sei gekommen. Niemand übernahm die Verantwortung für die Vorkommnisse.

Die Opferlisten wurden täglich um neue Namen ergänzt. Unter den ersten Namen fand sich Fred Compton, ein Flughafenwachmann. Der Totenschein stellte als Todesursache ,Herzinfarkt‘ fest.

Das Gorbatschow Vermächtnis

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