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Kapitel 3

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Moskau – drei Jahre nach dem Augustputsch 1991

Generalleutnant Ostrowski stemmte sich gegen den Wind, der Moskau den nahenden Winter verkündete. Die Choroschowskoje Chaussee war von fast kahlen Bäumen gesäumt, die erst im nächsten Jahr wieder zaghaftes Grün tragen würden. Jetzt schienen sie Vorboten einer kargen Zeit zu sein, einer Zeit vergangenen Glanzes. Die wuchtigen Bauten an den Straßenrändern waren noch immer beeindruckend, aber man merkte den prächtigen Fassaden an, dass sie schon bessere Zeiten gesehen hatten.

Ostrowski machte den Zerfall der Sowjetunion an den Fahrzeugen fest, die die Straßen Moskaus verstopften. Westimporte. BMW und Mercedes waren Statussymbole. Immer öfter sah man auch die riesigen SUVs, die ohne Respekt und Rücksichtnahme vorwärts pflügten. Die Verkehrspolizisten mit ihren unverkennbaren schwarz-weißen Stöcken hielten sich respektvoll zurück, wenn sich Fahrer mit blau und rot flackernden Lichtern und Sirenen näherten. Auch das ein Phänomen der neuen Zeit, in der Privatleute staatliche Hoheitssignale gebrauchten, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. ,Businessman‘ war das neue Schlagwort und ,Neue Russen‘, die sich mit einem über Nacht erworbenen sagenhaften Reichtum alles kauften – Landsitze, Flugzeuge, Politiker und Beamte. Die russische Seele war vergiftet worden und gierte nach Konsum und billigem Glück. Die Autos waren ein Gradmesser für den Werteverfall. In den Seitenstraßen und Vierteln mit den riesigen Wohnblocks, deren Balkone bröckelten, regierte die Hoffnungslosigkeit. Die Renten reichten nicht für das Existenzminimum, Familien zerfielen, Wodka übernahm die Rolle des Trösters. Die Neue Russische Föderation war ihrer Kornkammern, ihrer Häfen und Bodenschätze beraubt. Die industrielle Produktion strebte einem Nullpunkt entgegen, während Spekulanten und Finanzhaie Banken gründeten, Gewinne mit Immobiliengeschäften machten und sich Schlüsselindustrien für lächerlich kleine Summen unter den Nagel rissen. Das Land lag im Koma und wurde von westlichen Konsumgütern überflutet. Das Vaterland war besiegt. Besiegt von den Flüchen ,Glasnost‘ und ,Perestroika‘, die als russische Errungenschaften vermarktet wurden und doch Ausgeburten des Niedergangs waren. Die Gesundung würde einen radikalen Kurswechsel erfordern, wenn überhaupt noch eine Gesundung möglich war.

Die KPdSU hatte ihren Auftrag verraten, das Politbüro war vor Reformern in die Knie gegangen, die Institutionen und Stützen der großen Sowjetunion hatten kapituliert, die Armee war ein armseliger Haufen mit einer veralteten Ausrüstung und ohne Moral. Dies war die Stunde des Gorbatschow Vermächtnisses. Mit Jelzin war es noch schlimmer gekommen. Russland blutete aus und verkaufte nach seiner Seele auch seinen Reichtum.

Der Generalleutnant sah sich nach dem Verwaltungsblock um, aus dem er gekommen war. Russlandtreue Kräfte, Patrioten hatten sich getroffen, um eine vaterländische Rettungsidee zu entwickeln. Aber Ostrowski erschien die Initiative schwach und unkoordiniert. Alle hatten darin übereingestimmt, dass die letzten zehn Jahre rückgängig gemacht werden mussten. Ein Provinzpolitiker schwadronierte von einem Umsturz und dem Wiederaufleben der Atommacht Sowjetunion. Andere forderten die Rückkehr hinter den Eisernen Vorhang, um Kräfte zu schöpfen und den westlichen Einfluss zurückzudrängen. Für Ostrowski, der mit jedem einige ermunternde Worte wechselte, und sich im Übrigen zurückhielt, bot die Versammlung einen erbärmlichen Anblick. Die Netzwerke der Macht waren längst in andere Hände gelangt. Die Entscheidungen lagen bei jungen Technokraten, die an den Eliteuniversitäten der USA studiert hatten und ohne Loyalität zu ihrem Land aufgewachsen waren. Die alten Haudegen des Warschauer Paktes, die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges gegen die Nazihorden, die Protagonisten einer Systemalternative zu dem marktwirtschaftlichen Chaos, das die Demokratisierung Russlands mit sich gebracht hatte, hatten aufgegeben. In Scharen waren sie zu jedem übergelaufen, der sie bezahlte. Sie waren zu Wissenschafts- und Waffensöldnern geworden, weil das Vaterland sie ausgespuckt und vernachlässigt hatte.

Ostrowski beugte sich hinunter zu einem Mütterchen, das auf dem Gehsteig kauerte und bittend eine Tasse mit Sonnenblumenkernen feilbot. Alte Frauen wie diese sah man häufig wie Kehrichtbündel an den Ecken und vor den prächtigen Auslagen der Kaufhäuser sitzen. Ihre Augen waren leer und ihre Pose erstarrt. Die Fußgängerströme zogen vorbei, ohne die Ausgestoßenen zu beachten. Nur hier und da regte sich Mitleid und eine barmherzige Hand warf einer Hockenden ein paar Rubel zu. Das waren russische Rentnerinnen, Witwen, die die neue Zeit zu Bettlerinnen gemacht hatte. Einige von ihnen trugen Medaillen und Ehrenzeichen an ihren zerschlissenen Mänteln. Sie hatten ihre Männer und Söhne im Krieg verloren und selbst mit der Waffe gekämpft, bevor sie das Land wieder aufbauten.

Ostrowski streichelte die faltigen Wangen des Mütterchens und steckte ihr gefaltete Geldscheine zu. Ihren gemurmelten Dank konnte er nicht mehr verstehen. Er war in Gedanken. Er musste eine Entscheidung treffen.

Das letzte Mal, als er eine Entscheidung traf, hatte sich sein Leben zum Schlechten gewendet. Sein Vater, ein harter Mann mit ehernen Prinzipien, hatte seinen Sohn frühzeitig auf eine Karriere im Militär vorbereitet. Die Atmosphäre im Elternhaus des Jungen war kalt und distanziert gewesen. Der Vater hielt nichts von dem, was er ,Verzärtelung‘ nannte und erst viel später, als der Junge zum Mann geworden war, dämmerte es ihm, dass ihn sein Vater dafür verantwortlich gemacht hatte, dass die Mutter die Familie verließ, nachdem sie den Knaben auf die Welt gebracht hatte. Die Militärakademie hatte ihn geschliffen und geprägt, hatte ihn Verantwortung und Entbehrung, Ehre und Pflichterfüllung gelehrt. Viele seiner Kameraden gliederten sich in die Ränge der Armee ein, aber der junge Ostrowski zeigte mehr Ehrgeiz. Als der Militär-Nachrichtendienst GRU auf ihn aufmerksam wurde, zögerte der Kadett keinen Augenblick. Er absolvierte das harte Training der Kommandoeinheit für unkonventionelle Kriegsführung und Terrorismusbekämpfung, Speznas, klaglos und glaubte mit Hingabe an den Wahlspruch: ,In Euren ruhmreichen Taten liegt die Größe des Vaterlandes‘. So wurde der junge Ostrowski Teil der Hauptverwaltung für Aufklärung und ein Rad im ,Alles sehenden Auge‘. Schon bald machte er in der Verwaltungsebene Europa von sich reden.

Ostrowski entschloss sich, noch einige Stationen mit der Filjowskaja Linie der U-Bahn zu fahren. Eine Touristentraube blockierte die Treppe und bestaunte die Pracht des U-Bahn-Schachtes, der eher an ein italienisches Opernhaus als eine U-Bahn-Linie erinnerte. Die Luft war abgestanden und schmeckte auf der Zunge nach Rauch und dem Abrieb von Bremsbelägen.

Bis zum Sommer 1991 verfolgte Ostrowski einen geradlinigen Karriereplan. Er reiste viel, tat sein Möglichstes für sein Land und brachte Ordnung in sein Privatleben. Mit Anna war eine Frau an seiner Seite, die der Musik und den Künsten zugetan war. Sie hatte sich im Musikstudium dem Fagott als Hauptinstrument gewidmet und zusätzlich Kunstgeschichte an der Lomonossow-Universität belegt. Es störte sie nicht, dass sie als Lehrerin ein dürftiges Gehalt bezog. Es störte sie auch nicht, dass sie mit ihrem Mann, einem jungen Offizier des GRU, ein ehemaliges Gartenhaus im Chystye Prudy Seendistrikt Moskaus beziehen musste, weil die Appartements in den Satellitenvorstädten ihre finanziellen Möglichkeiten überschritten. Das junge Paar richtete sich ein, isolierte die Wände und heizte mit dem alten Kohleofen. Nach und nach modernisierten sie ihr Heim. Sie hielten aneinander und an ihren Idealen fest. Das genügte. Es genügte den meisten. Nur der Wunsch nach einem Kind blieb unerfüllt. Dann dämmerte die neue Zeit heran.

Ostrowski hatte eine Bilderbuchkarriere gemacht und sein privates Glück gefunden, doch der Zustand der Sowjetunion bekümmerte ihn. Die neuen Töne aus dem Politbüro schürten Erwartungen. Die Erwartungen rüttelten am stabilen Fundament der Republiken. Überall bildeten sich Risse. Vor langer Zeit geschmiedete Allianzen drohten zu zerbrechen und riefen Gegenkräfte auf den Plan.

Der Generalleutnant war wiederholt ins Verteidigungsministerium zitiert worden. Überall auf den Fluren tuschelte man. Die zweite Riege hinter Gorbatschow sah ihre Zeit gekommen. Ostrowski beschloss abzuwarten, als die Nachrichten verkündeten, Gorbatschow habe während seines Krimurlaubs beschlossen, aus gesundheitlichen Gründen zurückzutreten.

Der Putsch war halbherzig gewesen und dilettantisch vorbereitet. Das Militär und die Paramilitärischen Einheiten der Geheimdienste verweigerten den Gehorsam. Jelzin schwang sich zum Retter der Nation auf und demontierte Gorbatschow unter dem Deckmantel der Solidarität. Glasnost und Perestroika regierten das Denken und Handeln. Unabhängigkeit und Demokratisierung waren Vorläufer der Privatisierung. Das Sowjetreich war den Raubrittern zum Opfer gefallen.

Als man Ende 1991 Ostrowski erneut vorlud, ahnte er nicht, dass er entlassen werden sollte. Eine Säuberungswelle ging durchs Land. Russland hatte diese Wellen schon oft erlebt. Ostrowski hatte nicht gespürt, dass etwas gegen ihn im Gange war. Man warf ihm vor, ein enges Vertrauensverhältnis zu dem Armeegeneral Warennikow, dem ehemaligen stellvertretenden Verteidigungsminister, einem der Putschisten, unterhalten zu haben. Es gäbe Belege, dass Ostrowski Teil der Verschwörung gewesen sei. Er sei dazu ausersehen gewesen, den GRU auf der Seite der Putschisten in Stellung zu bringen. Man halte ihm zugute, dass er in letzter Sekunde gezögert habe. Deswegen werde er nicht inhaftiert und erhalte eine gekürzte Pension. Das zu unterzeichnende Schriftstück liege vor ihm auf dem Schreibtisch. Er habe 60 Sekunden, sich zu entscheiden. Danach erlösche das Angebot und man sei gezwungen, andere Mittel anzuwenden.

Ostrowski hatte den gelangweilt wirkenden Technokraten angesehen und nach dem Füller gegriffen. Er war nur zu gut mit der Maschinerie vertraut, um nicht zu wissen, dass sein Schicksal beschlossene Sache war. Man händigte ihm die bereits ausgefüllte Versetzung in den Ruhestand aus. Sein Schreibtisch sei geräumt und die persönlichen Dinge seiner Frau zugestellt worden. Alles Weitere könne er einem Schreiben entnehmen, das ihm in den nächsten Tagen zugehe. Generalleutnant Ostrowski war 56 Jahre alt, als er der Sowjetunion in den Untergang folgte.

Es folgte eine Zeit der Stille. Anna fragte nicht. Sie konnte die Wahrheit in dem Gesicht ihres Mannes lesen. Seine innere Unruhe bekämpften sie mit langen Spaziergängen und Theaterbesuchen. Freunde waren ihnen kaum geblieben, denn Männer wie Ostrowski galten als ansteckend. Anna nahm mehr Privatschüler für den Fagottunterricht an als üblich. Sie sagte, dass ihr die Arbeit Spaß mache, aber Ostrowski kannte den wahren Grund und er schämte sich, dass seine Pension für den Lebensunterhalt nicht ausreichte.

Der völlige Zusammenbruch kam, als Jelzin seinen Gefolgsmann Luschkow auf den Bürgermeisterposten für Moskau hob. Luschkow hatte Macht, Pläne und Gier im Übermaß. Und er hatte Jelena Baturina zur Frau, die innerhalb kürzester Zeit zur ungekrönten Zarin der Bauunternehmer aufstieg. Das Privatvermögen des Paares schnellte in astronomische Höhen.

Die Männer der Stadtverwaltung, die Ostrowski besuchten, machten wenig Umschweife. Man benötige das Stück Land der Ostrowskis für eine wichtige Baumaßnahme. Die Entschädigungssumme sei bereits festgesetzt. Das Ehepaar erhalte eine Ersatzwohnung im 8. Stock eines Plattenbaus außerhalb von Moskau. Bei einer Weigerung drohe die Enteignung und Räumung.

Ostrowski widersetzte sich zum ersten Mal in seinem Leben einer behördlichen Anordnung.

Als zehn Tage später der Schlägertrupp das zerstörte Haus am See verließ, griff man Ostrowski schreiend und blutüberströmt im Park auf. Er rammte seinen Schädel immer wieder gegen den Stamm einer Trauerweide, bis man ihn überwältigte und sedierte. Im Haus fand man Anna. Jedes Leben war aus ihren Augen gewichen. Man konnte nicht feststellen, wie oft sie vergewaltigt worden war.

Die Behörden kümmerten sich um alles. Ostrowski wurde in ein Militärkrankenhaus verlegt und ruhiggestellt. Anna erhielt einen Platz in einer psychiatrischen Klinik für Traumapatienten. Die Polizei beeilte sich als Ermittlungsergebnis mitzuteilen, dass eine Bande verrohter Jugendlicher für den Überfall verantwortlich sei. Sogar der Bürgermeister Luschkow erwähnte den Vorfall in einer Pressekonferenz und verlieh seiner Abscheu vor der ,barbarischen Tat‘ Ausdruck. Er kündigte an, dass seine Ehefrau Jelena Baturina aus menschlicher Anteilnahme beschlossen habe, das verwüstete Grundstück zum Doppelten des Schätzpreises zu übernehmen.

Seither war Ostrowski auf der Suche. Auf der Suche nach der großen Lösung. Die neue Wohnung in der Plattenbausiedlung war unmöbliert geblieben. Ostrowski benötigte keine Möbel. Er brauchte ein neues Leben. Ein neues Leben und Anna, die einen Stoffhasen umklammert hielt und ängstlich vor ihm zurückwich, wenn er leise mit ihr sprach.

Ostrowski verließ die U-Bahn. Er zündete sich eine Zigarette an. Die Erste seit mehr als zwanzig Jahren. Er verschluckte sich und hustete. Er würde tun, was er tun musste. Er hatte sich entschieden; entschieden für ein neues Leben. Er würde Anna nicht zurücklassen. Das war er ihr schuldig. Ostrowski drückte die Zigarette aus.

Zwanzig Minuten später gingen die ersten Fahndungsaufrufe bei den Dienststellen der Polizei ein. Gesucht wurde ein pensionierter GRU-Offizier, der soeben seine Frau erschossen hatte. Doch Ostrowski blieb verschwunden.

Das Gorbatschow Vermächtnis

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